Zuletzt aktualisiert am 15. Juli 2024 um 23:13
Zugegeben: Die Vier- und Marschlande sind eher ein Hamburg-Tipp für Leute, die schon oft in der Stadt waren und alles gesehen haben, was im Reiseführer steht. Oder auch für Hamburger. Denn die ländlichste Gegend der Hansestadt darf sich mit Fug und Recht als Geheimtipp fühlen.
Ein Stück Hamburg, das viele Hamburger nicht kennen
Dies ist ein Blogpost über meine Heimat: die Vier- und Marschlande, ein Landgebiet im Südosten Hamburgs, direkt an der Elbe, das sogar vielen Hanseaten unbekannt ist. “WO wohnst du?”, fragte man mich, als ich in der Innenstadt zur Schule ging. “Fährt da ein Bus hin?” Die Stimme ungläubig, als hätte ich meinen Stadtteil frei erfunden. “Hier sieht es aus wie in Psycho,” sagte einer, der mich über die langen Landstraßen, auf denen man zu uns gelangt, nach Hause fuhr.
Zu meinem Trost kamen gegen Ende meiner Schulzeit die Bayern. Eine Jungsclique auf Abifahrt; einer von ihnen war der Sohn einer Freundin meiner Mutter. Ich sollte ihnen Hamburg zeigen. Und noch bevor wir eine Viertelstunde miteinander verbracht hatten, fragten sie mich: “Kennst du die Vier- und Marschlande?” Hach, das bayerische Schulsystem! Sie hatten gelernt, dass meine Heimat das größte zusammenhängende Gemüseanbaugebiet von ich weiß nicht was war.
Tomaten, Gurken und Plattdeutsch
Meine eigenen Vorfahren gehörten nicht zu denen, die mit dem Ewer – einem kleinen Boot – voller Gemüse und Blumen über die Elbe zu den Hamburger Märkten gefahren sind und die Stadt mit Grünzeug versorgt haben. Meine Eltern sind Zugezogene, und ich lebe in Süddeutschland.
Aber meine Wurzeln liegen zwischen den Tomaten; dort, wo selbst würdige ältere Herren im Getränkemarkt mit Du angesprochen werden, wo die Leute plattdeutsche Satzfetzen ins Gespräch einflechten und die Kinder das Niederdeutsche mittlerweile in der Grundschule lernen können. Dort, wo jede zweite Straße ein Deich ist, wo die goldene Konfirmation zu den großen Festen des Lebens zählt und Hammer-Hüt zu den großen Festen des Jahres. Hammer-Hüt ist ein Tag um Aschermittwoch, an dem die Kinder schulfrei bekommen und kilometerweit über die Deiche laufen, mit kleinen Hämmerchen auf Holzbretter klopfen, die zu diesem Zweck vor jeder Tür stehen, und ein plattdeutsches Liedchen singen. Dafür bekommen sie Süßigkeiten – säckeweise.
Kleine Seen heißen bei uns Brack, statt aufs stille Örtchen geht man “nach Tante Meier”, außerdem stehen ziemlich viele schöne Bauernhäuser herum, Natur ist überall, die Elbe sowieso, und deshalb gibt es jetzt hier einen Tipp, wie man unkompliziert ein bisschen in die ziemlich großen Vier- und Marschlande hineinschnuppern kann.
Eine Tour in die Vier- und Marschlande
Man fahre zum Curslacker Deich. Den erreicht man am einfachsten vom Bahnhof des Stadtteils Bergedorf aus, zum Beispiel mit dem Fahrrad. Oder mit dem Bus. Am Curslacker Deich steht das Rieck Haus. Das Hufnerhaus – so der Terminus für die stattlichen Bauernhäuser der Gegend – von 1533 ist heute Freilichtmuseum: von außen Postkartenidylle, innen voller Geschichten über das norddeutsche Landleben in früheren Zeiten.
Als die Hühner noch im Wandschrank wohnten: durchs Freilichtmuseum Rieck Haus
Dieses Haus erzählt davon, dass zwei bis drei Erwachsene oder fünf bis sechs Kinder zusammen in kurzen Alkoven schliefen.
Auf der anderen Seite des Zimmers wohnten die Hühner in einer Art Schiebeschrank.
Das Geld lag auf der hohen Kante (!) einer flutgesicherten Truhe.
Wenn man welches hatte – und das hatte hier so mancher -, konnte man sich seine ganz persönlichen Vierländer Hochzeitsstühle mit Intarsienarbeiten leisten.
Was allerdings nichts daran änderte, dass man tagein, tagaus im stickigen Rauch lebte. Der fing sich im zentralen Raum des Hauses, in dem gekocht wurde. Einen Schornstein hatte man nicht. Dafür konnte man die Würste in der Luft, die man atmete, räuchern.
Curslack und die Hutständer in der Kirche
Wenn man genug hat vom Rieck Haus und von dem Rauchgeruch, der immer noch in seinen Balken hängt, fährt man ein bisschen weiter auf dem Curslacker Deich bis zu St. Johannis, einer der schönsten Vierländer Kirchen. Die sehen schon auf den ersten Blick ein wenig ungewöhnlich aus, denn ihr hölzerner Glockenturm steht ein Stück vom Kirchenbau entfernt.
Das ist auch gut so, denn der Boden hier ist so weich, dass der Turm mit der schweren Glocke das Kirchenschiff sonst langsam zum Sinken bringen könnte.
Innendrin in der Curslacker Kirche ist es taubenblau und heimelig. Das Holzgestühl ist streng in Männer- und Frauenbänke unterteilt, was deutlich an den Namensschildern zu erkennen ist, die an vielen Plätzen angebracht sind. Sowie an den Hutständern.
Zum Kirchgang trug man Tracht. Und irgendwann kam der Zylinder zur Herrentracht in Mode. Um den während des Gottesdienstes zu verstauen, ließ man sich einen dekorativen personalisierten Hutständer anbringen. Was dazu führte, dass in manchen Kirchen der Gegend bis heute ein kleiner schmiedeeiserner Blumendschungel über den Bänken schwebt.
Wer es bis hierher geschafft hat, findet nicht mehr, dass es bei uns aussieht wie in Psycho. Wenn man als Hamburger*in einen Ausflug in die Vier- und Marschlande macht, weiß man in Zukunft, wo die Gurken herkommen. Und als Tourist*in kann man mit der Städtetour gleich ein bisschen ländliches Norddeutschland verbinden.
Kaffee trinken in der Riepenburger Mühle
So sehr sich meine alte Heimat auch als Ausflugsziel eignet: Die Möglichkeiten zum Einkehren sind begrenzt. Ein Cafétipp für die Vier- und Marschlande findet sich auf diesem Blog bereits. Seit Ende 2019 ist die gastronomische Szene des Landgebiets um eine sehr schöne Adresse reicher: Das Café Molina befindet sich in der historischen Riepenburger Mühle, die sich seit fast zweihundert Jahren dreht. Die alten Mühlenräume haben viel Atmosphäre, und der Kuchen ist erstklassig: Die Chefin backt ihn zusammen mit einem Konditor, der extra deshalb zu ihr ins Haus kommt. Für die opulenten Wochenend-Frühstücke sollte man reservieren; im Mühlenladen gibt es vor Ort gemahlenes Mehl zu kaufen.
8 Comments
Renate
Hallo Maria-Bettina,
ich bin ein großer Hamburg-Fan und war schon mehrmals in der Stadt. Das nächste Mal sollte ich eine Fahrt in die Vier- und Marschlande unternehmen. Danke für die Tipps und die schönen Bilder.
Bei dem Besuch Rieckhauses lerne ich auch etwas über die Herkunft der Sprichwörter und das damalige Leben. So ein ähnliches Haus habe ich als Kind auf Sylt besucht.
Lieben Gruß
Renate
Maria-Bettina Eich
Liebe Renate,
über diesen Kommentar freue ich mich sehr, danke! Ich wünsche einen wunderschönen Tag in einer Ecke von Hamburg, die ganz anders ist als das, was man meistens zu sehen bekommt, wenn man die Stadt besucht.
Herzliche Grüße,
Maria
Julia Weishaar
Hallo Maria-Bettina, letzte Woche wurde mein Internetportal für Familienaktivitäten – aktivglück – online gestellt. Ein tolles Gefühl, endlich “raus” gehen zu dürfen ;-). Und jetzt bin ich auf der Suche nach Aktivitäten, die man gemeinsam mit Kindern unternehmen kann. Da ich Deinen schönen Blog-Artikel total inspirierend fand, wollte ich Dich fragen, ob ich diese Aktivität bei aktivglück eintragen und auf Deinen Artikel verlinken darf?
Liebe Grüße aus dem verregneten Taunus
Julia
Maria-Bettina Eich
Hallo, Julia, natürlich, sehr gerne. Ich habe eben schon mal kurz auf Deine Seite geschaut – sieht sehr interessant aus; demnächst nehme ich mir mehr Zeit dafür!
Gutes Gelingen & viel Spaß mit Deinem Portal,
Maria
Julia Weishaar
Vielen Dank! Das ist toll!!!
Liebe Grüße
Julia
Raija Lehtonen
Hi Maria Bettina,
you have registered in Visit Finland mediabank. The system says your e-mail address MBEich@gmx.de is not valid!?
Best,
Raija
Maria-Bettina Eich
Thanks für your message! MBEich@gmx.de ist the right email address, I have to check with my provider if there is a problem. Could you please send your mail again?
Kiitos!
Maria
Aras Orhon
hallo,
eigentlich wohnen wir ja gar nicht so weit weg von den 4-Landen und leben sogar auf der gleichen Seite der Elbe. Nach Deinem Bericht werden wir das Gebiet mal näher erkunden. Das sollte sich lohnen.
Gruss von WEG
Christiane & Aras