Zuletzt aktualisiert am 2. April 2023 um 15:47

Glasgow ist ein guter Ort, um sich hinzuträumen, während man in einer ruhigen süddeutschen Stadt im Lockdown verharrt: Glasgow ist rau und urban, gleichzeitig aber durchzogen von kreativen Inseln, auf denen es fantastisches Design in den unterschiedlichsten Varianten zu entdecken gibt. Da die Schotten der Welt signalisieren, dass sie sie trotz des Brexits zu Gast haben möchten, hier zur Einstimmung unsere Highlights in Glasgow mit Teenagern.

1. STRASSENDESIGN: Street Art

Glasgow mit Teenagern: Street Art
Street Art in Glasgow mit Teenagern: “Squirrel Poised on Skull” von Sam Bates
Glasgow Mural Trail
Fast schon ein Wahrzeichen der Stadt: “Honey… I Shrunk The Kids” von Sam Bates aka Smug

Glasgow ist das schottische Street-Art-Mekka. Nachdem die ehemals industriell geprägte Stadt in der Thatcher-Ära einen harschen Niedergang erlebte, ließen Zeichen des Verfalls nicht lange auf sich warten. Ohnehin war die Hafenstadt am River Clyde niemals so pittoresk gewesen wie das nahegelegene Edinburgh.

Glasgow Panda Klingatron
Schnuckeliger Panda in rauer Umgebung: Mural von James Klinge aka Klingatron

Da Glasgow dank dieser Historie über eine Fülle von Hauswänden verfügt, die, freundlich gesagt, etwas abgeliebt erscheinen, hat die Stadt ortsansässige Künstler beauftragt, die urbane Landschaft mit Wandgemälden zu verschönern. So entstand der City Centre Mural Trail of Glasgow, den man dank einer im Internet verfügbaren Karte wunderbar abwandern kann.

Das ist eine gute Idee für einen ersten Spaziergang durch Glasgow. Mit Teenagern bietet sich Street Art immer an; gleichzeitig führt einen der Mural Trail durch das Zentrum bis fast an den River Clyde und schließlich zum größten Friedhof der Stadt.

2. ERINNERUNGSDESIGN: Glasgow Necropolis

Glasgow Necropolis: Bridge of Sighs
In die Glasgow Necropolis gelangt man über die “Bridge of Sighs”

Es gibt Friedhöfe. Und es gibt die Glasgow Necropolis: einen grünen Hügel über der Stadt, von dem die Obelisken und Kreuze hoch in den Himmel ragen und den aufwendige Mausoleumsbauten tatsächlich zu einer Totenstadt machen.

Glasgow Necropolis
Der Hügel, von dem Kreuze in den Himmel ragen: Glasgow Necropolis
Glasgow mit Teenagern: Glasgow Necropolis
Eine Fülle aufwendiger Mausoleen macht die Friedhofsanlage zu einer Totenstadt

Denn so ganz konnten sich viele der hier Begrabenen auch im Hinblick aufs Überirdische nicht von den irdischen Gütern lösen und ließen sich und die Ihren lieber in repräsentativer Pracht bestatten. Immerhin handelt es sich bei der Glasgow Necropolis um einen viktorianischen Friedhof, und das massiv ausgeprägte Standesbewusstsein der Wohlhabenden machte im Victorian Age auch vor dem Jenseits nicht halt.

Glasgow mit Teenagern
Some like it dark: Die Nekropole eignet sich gut für einen Besuch in Glasgow mit Teenagern

Wir finden, die Nekropole sollte man bei einem Glasgow-Besuch auf keinen Fall auslassen – aus atmosphärischen, landschaftlichen, historischen und nicht zuletzt spirituellen Gründen. Ist man in Glasgow mit Teenagern unterwegs und hat man zumindest einen dabei, der es ein bisschen gothic mag, muss man unbedingt hin.

Der Highgate Cemetery in London ist übrigens ein anderer extrem besuchenswerter viktorianischer Friedhof, über den ich HIER geschrieben habe.

3. WOHNDESIGN: House for an Art Lover von Charles Rennie Mackintosh

Glasgow: House for an Art Lover
Nicht ganz von dieser Welt: das Musikzimmer im House for an Art Lover

Seinen ewigen Platz auf der Weltkarte des Designs verdankt Glasgow dem 1868 geborenen Künstler und Architekten Charles Rennie Mackintosh. Mackintosh gehört zu den großen Namen des Jugendstils. Doch die unverwechselbare Mackintosh-Ästhetik mit ihrer disziplinierten, grafischen Eleganz und mit der mühelosen Integration von Einflüssen sowohl aus der schottischen Tradition als auch aus dem seinerzeit sehr angesagten Japan stellt eine ganz eigene Variante der Gestaltungsideen dar, die den Aufbruch in die Moderne verkörperten.

Der berühmteste Bau, den Mackintosh für seine Heimatstadt ersann, ist die Glasgow School of Art: eine Designhochschule, die als Gesamtkunstwerk bis ins kleinste Detail von ihrem Architekten durchgestylt wurde. Und die 2014 durch einen Brand zu großen Teilen zerstört wurde. Man begann mit dem Wiederaufbau – bis ein noch verheerenderer Brand das Gebäude 2018 fast aushöhlte. Es ist zu lesen, dass eine erneute Restauration im Gange ist – aber bis man die Glasgow School of Art wieder besuchen kann, wird es noch lange dauern.

Charles Rennie Mackintosh, Glasgow
Das Esszimmer als Kunstwerk – im Mackintosh-Stil

Ein fast gegenteiliges Schicksal war dem House for an Art Lover beschieden: Mackintosh und seine Frau Margaret MacDonald entwarfen es im Jahr 1901 für einen deutschen Ideenwettbewerb. Der Entwurf erhielt viel Beachtung, doch gebaut wurde das Haus nie. Bis aus Mackintoshs Plänen und Zeichnungen auf die Initiative eines Liebhabers hin nach 90 Jahren schließlich doch ein dreidimensionales Gebäude wurde. Heute lässt sich Mackintoshs Wohnästhetik in Glasgow paradoxerweise besonders eindringlich in einem Haus erleben, das der Künstler selbst nie gesehen hat.

Architektur mti Kindern
Das Gesamtkunstwerk im Bellahouston Park wurde für einen fiktiven Kunstfreund geplant
Glasgow mit Teenagern - Charles Rennie Mackintosh-
Im ovalen Sitting Room dürfen sich die Töchter auf Mackintoshs eleganten Stühlen niederlassen

Unsere Töchter sind der Meinung, dass auch sie dieses Haus nicht zu sehen brauchen. Sie haben ihrer eigenen Auffassung nach schon zu viele alte Häuser gesehen. Aber was soll man sagen? Mackintoshs bis in seinen letzten Winkel durchästhetisiertes Bau-Kunstwerk ist von unglaublichem, etwas überweltlichem Zauber. Und der fängt auch die mitgebrachten Teenager ein.

4. FUSSBALLDESIGN: Celtic Glasgows Grün-Weiß

Celtic Glasgow Superstore
Katholisch, keltisch, gut: im Celtic Glasgow Superstore

In Glasgow gibt es zwei große Fußballclubs. Der eine sind die Glasgow Rangers, ein Verein mit protestantischer Tradition. Der andere ist Celtic Glasgow. Dieser Club wurden von den katholischen Einwanderern gegründet, die aus dem ärmeren Irland in die prosperierende schottische Industriestadt kamen.

Celtic Glasgow wird von unserem einzigen männlichen Familienmitglied kultisch verehrt, und das charakteristische Grün-Weiß des Vereins ist für unsere Töchter seit Geburt ein vertrauter Anblick. Die ältere tummelte sich vor mittlerweile ziemlich vielen Jahren sogar selbst in einem grün-weißen Strampelanzug im Kinderbettchen.

Fußball in Glasgow
Corporate Identiy in Grün-Weiß
Familientrip Schottland: Celtic Glasgow
Bei Celtic-Devontionalien wird nicht gespart

Da während unserer Zeit in Glasgow und Umgebung kein wegweisendes Fußballspiel stattfindet, nehmen wir mit einem Ersatzprogramm vorlieb: einem Besuch im Celtic Superstore direkt beim Stadion Celtic Park. Hier ist alles, wirklich alles grün-weiß – von der Pfefferminzbonbon-Dose im Vereins-Look bis hin zu den Rohren bei den sanitären Anlagen am Stadionrand. Diese Farben sind natürlich viel mehr als Design, sie sind Religion. Einmal geraten wir in Glasgow an einen Taxifahrer, der sich weigert, unsere Riesentüte aus dem Celtic Superstore zu berühren: falscher Verein. Und in dem Roman “Shuggie Bain” von Douglas Stuart, der 2020 den Booker Prize gewann (mehr dazu unten), findet sich die Schwester des Protagonisten mit einem Messer zwischen den Lippen wieder, während man ihr die existentielle Frage stellt: “Celtic or Rangers?”

5. BILDUNGSDESIGN: die University of Glasgow

Glasgow mit Teenagern: University of Glasgow
Nein, Harry Potter war nicht hier. Könnte er aber gewesen sein: die University of Glasgow

Im Vorfeld unserer Reise erzählte man uns, die Universität von Glasgow habe bei den Harry-Potter-Filmen als Drehort für Hogwarts gedient. Doch das ist Legende. Das Flair des dunkel-romantischen Universitätsbaus mit seinen Türmen, Türmchen, Erkern, Bögen und Gewölben ist allerdings absolut Harry-Potter-tauglich. Dabei sieht er älter aus, als er ist: Die Anlage stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man nicht nur in Großbritannien, dort aber mit besonderer Leidenschaft, einen mittelalterverliebten Gothic-Revival-Stil zelebrierte.

University of Glasgow Harry Potter
Mit dem Green vor der University of Glasgow hält kein deutsches Universitätsgelände mit

Unsere Töchter gehören beide nicht zu den großen Harry-Potter-Fans ihrer Generation, deshalb sparen wir uns die vielen Orte in Schottland, an denen man auf den Spuren des berühmtesten Zauberlehrlings der Weltliteratur – sorry, Goethe – wandeln könnte. Aber ein Spaziergang duch das Universitätsgelände lohnt sich in Glasgow mit Teenagern auf jeden Fall, denn derart filmreife Architektur sucht man bei deutschen Bildungsinstitutionen vergeblich.

6. WUNDERLAND-DESIGN: Timorous Beasties

Design mit Teenagern - Timorous Beasties Glasgow
Wuchernde Farbflecken und Insekten: im Reich von Timorous Beasties

Zehn Minuten zu Fuß sind es von der University of Glasgow zum Shop von Timorous Beasties. Timorous Beasties ist eine Stoff- und Tapetenmanufaktur, die von den beiden Designern Alistair McAuley und Paul Simmons gegründet wurde. Es mag nicht auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen, bei einem Trip nach Glasgow mit Teenagern ein Stoff- und Tapetengeschäft aufzusuchen. Das ist es auch nicht unbedingt, aber Timorous Beasties ist anders als alles andere.

Was McAuley und Simmons entwerfen, ist luxuriös und so exzentrisch, wie es eigentlich nur in Großbritannien geht. Wir sehen wilde Muster aus Insekten und verschlungenen Pflanzenranken. Vögel, Hummer und anderes Getier irgendwo zwischen nostalgischem Naturkundebuch und surrealistischer Phantasie. Tropfende und ineinander verfließende Farbmuster, in denen knallige Töne einander zu überwuchern scheinen. Alles wie gemacht für das bemooste Jagdschloss einer irren Prinzessin. Oder auch für Filmsets: Die Designs von Timorous Beasties waren schon in “Sex and the City” zu sehen und finden sich auch sonst an vielen prestigeträchtigen Orten – ebenso wie in Museen.

Timorous Beasties Glasgow
Glasgow mit Teenagern und der möglicherweise coolste Stuhl der Stadt
Timorous Beasties
Seit unserem Glasgow-Trip hat Timorous Beasties auch einen Showroom in Berlin eröffnet

Timorous Beasties steht für ein schräges Wunderland-Design, das meiner persönlichen Meinung nach nur auf einer Insel mit royaler Tradition entstehen kann, auf der die Universitäten aussehen wie Spukschlösser. Und zwar nicht irgendwo auf dieser Insel, sondern am besten in diesem stellenweise etwas finsteren Schottland mit seiner umwerfenden Natur, in der sich “schüchternes Getier” – “timorous beasties” – in Hülle und Fülle findet.

7. AFTERNOON-TEA-DESIGN: Mackintosh At The Willow

Teatime in Glasgow
Zum Teetrinken bei Mackintosh

Was Charles Rennie Mackintosh zu alledem gesagt hätte, werden wir nie wissen. Immerhin haben sich die beiden Timorous-Beasties-Designer beim Studium an der von Mackintosh entworfenen Glasgow School of Art kennengelernt.

High Tea, Mackintosh at the Willow
Solches Geschirr hat angeblich Miss Cranston schon verwendet
Mackintosh at the Willow
Dieser Sitzbereich war ursprünglich für die Damen gedacht

Wenngleich es bei ihm strenger und geometrischer zuging: Wunderwelten erschuf auch der Altmeister des Glasgow-Designs. In einer von ihnen trinken wir Tee – eine Option, die wir Catherine Cranston verdanken. Miss Cranston begründete gegen Ende des 19. Jarhunderts die Tearoom-Kultur in Glasgow. Als strenge Abstinenzlerin ersann sie gastronomische Etablissements, die ohne den Ausschank von Alkohol auskamen – und die, im Gegensatz zu allem bisher Üblichen, den Damen eine gesellschaftlich anerkannte Gelegenheit gaben, ohne männliche Begleitung auszugehen.

Bevor sie Charles Rennie Mackintosh und Margaret MacDonald 1903 mit dem Entwurf der Willow Tearooms in der zentralen Sauchiehall Street beauftragte, hatte Miss Cranston schon einige Teehäuser in Glasgow eröffnet, doch Mackintosh setzte dem Ganzen das i-Tüpfelchen auf. Der 2018 restaurierte, unter dem Namen Mackintosh At The Willow wiedereröffnete Teesalon ist ein lichtes Schmuckkästchen irgendwo zwischen Jugendstil, Wiener Werkstätte und Art déco.

Charles Rennie Mackintosh Tearoom Glasgow
Ein Schmuckkästchen von einem Tearoom: Mackintosh At The Willow
Schottish Architecture: Mackintosh Tearoom
Auch die Herren saßen zwischen spiegelnden und rosafarbenen Ornamenten

Eine Galerie und zwei unterschiedlich eingerichtete Gasträume greifen ineinander; der, der für die Herren bestimmt war, wirkt ein wenig dunkler, ansonsten ist alles in luftigem Pastell gehalten – bis auf die Mackintosh-typischen schwarzen Möbel. Leuchtende, reflektierende und florale Ornamente wurden den Herren ebenso wie den Damen zugedacht.

Mackintosh Sauchiehall Street
Die typische Mackintosh-Typographie in der Sauchiehall Street

Wir Nachgeborenen freuen uns über die Möglichkeit, Mackintoshs Design nicht nur als Museumsgäste, sondern auch essenderweise auszuprobieren. Der High Tea ist opulent, wunderhübsch und kulinarisch eine wahre Wonne. Meiner Meinung nach gibt es sowieso nicht viel Besseres, als Designgeschichte beim Teetrinken und Törtchenessen zu erleben.

8. MONUMENTALDESIGN: The Kelpies

The Kelpies, Andy Scott
Stählernes Pferdedrama vor schottischen Wolken: The Kelpies von Andy Scott

Wenn man es genau nimmt, stehen die Kelpies nicht in Glasgow. Aber sie bieten sich als Glasgow-Ausflugsziel an. Mit dem Auto braucht man etwa eine Dreiviertelstunde bis zu den gigantischen stählernen Pferdeköpfen. Die 2013 fertiggestellten Riesenskulpturen wurden vom Glasgower Künstler Andy Scott entworfen. Kelpies sind Wassergeister aus der schottischen Mythologie: eigentlich pferdeförmig, können sie sich auch in andere Wesen verwandeln. Sie meinen es nicht immer gut mit den Menschen, sind aber schön und stark.

Ausflugstipp Glasgow mit Teenagern: The Kelpies
Nicht geeignet für Reitanfänger, dafür aber für Instagram: The Kelpies

Das verbindet sie mit den Arbeitspferden, die eine große Rolle für die Entwicklung der schottischen Industrie spielten und an die die 30 Meter hohen Pferdeskulpturen – die höchsten der Welt – erinnern wollen: Informationen, die ich mir erst nach unserem Besuch anlese. Was wir sehen, sind monumentale, wilde, tendenziell aggressive Pferdeköpfe, die mit beachtlichem Kitsch-Appeal in den schottischen Himmel ragen. (Wer Kunstkritik aus dem Guardian dazu lesen mag, klicke hier.) Irre sind sie natürlich trotzdem, und wenn man schon Glasgow mit Teenagern besucht, tut man gut daran, hinzufahren. Darüber ist sich unsere Familie einig.

The Kelpies
Auf jeden Fall sind die Mega-Pferde einen Ausflug wert, wenn man Glasgow mit Teenagern bereist

GLASGOW MIT TEENAGERN: Ein paar Tipps zum Essen und Schlafen

Chaakoo Bombay Café, Glasgow
Indisch-iranisches Crossover im Chaakoo Bombay Café

Dass mir Glasgow ausgerechnet als Designstadt in Erinnerung bleiben sollte, war mir bei unserer Ankunft in Schottland nicht klar. Aber es beginnt bereits am Abend nach unserer Ankunft: Bei einem ersten Spaziergang in die Innenstadt finden wir uns im Chaakoo Bombay Café wieder – nach eigenen Angaben ein iranisch-indisches Crossover-Restaurant. Ein großer Saal im Retro-Style, schöne Atmosphäre, erstklassiges Essen. Ein erstes Fundstück mit Design-Appeal.

The Butterfly and the Pig
Verspieltes Vintage-Flair bei The Butterfly and the pig

Nicht zufällig, sondern vorsätzlich, landen wir ein paar Tage später bei The Butterfly and the pig. Das Restaurant ist kein Geheimtipp, aber auch nicht überlaufen. Hier umfängt uns ein behagliches Sammelsurium von Einrichtungsgegenständen mit Vintage-Flair; auf der Karte stehen solide Dinge wie Steak, Burger, Fish and Chips. Ein relaxter Ort, der sich perfekt für Familien eignet und auch über einen Tearoom verfügt.

Ein besonderes, wenn auch nicht Schottland-spezifisches Design-Schmankerl ist unser Hotel: Wir kommen im Citizen M Glasgow unter. Über das habe ich auf diesem Blog bereits einen kompletten Artikel veröffentlicht.

“Shuggie Bain”: ein GLASGOW-BUCHTIPP für Erwachsene

Ein Glasgow-Roman hat den Booker Prize 2020 gewonnen – und er ist unbedingt lesenswert. Douglas Stuart, heute erfolgreicher Modedeisgner in New York, wurde für sein Debüt “Shuggie Bain” mit dem wichtigsten britischen Literaturpreis ausgezeichnet. Stuart erzählt von der Kindheit eines Jungen aus der Arbeiterklasse im Glasgow der Thatcher-Ära, und im Grunde erzählt er von seiner eigenen Kindheit. Die ist an Härte nur schwer zu überbieten: Armut, Arbeitslosigkeit, zerfallende Familien und der Alkoholismus der Mutter sind die Konstanten, innerhalb derer ein Junge aufwächst, der sich von klein auf anders fühlt und verhält als Gleichaltrige, der schon als Kind als Schwuler verspottet wird und später wirklich Männer liebt.

Das so Großartige wie Verstörende an “Shuggie Bain” ist Douglas’ Erzählweise, die seine Leser tief hineinzieht in die präkeren familiären Verstrickungen, in denen er groß wird. Douglas weiß, dass er für ein Mittelschichts-Publikum schreibt, das soziales Elend in der Regel nur von außen kennt und als Teufelskreis mit vorhersehbaren Strukturen wahrzunehmen gewohnt ist. Dieses Publikum nimmt er mit hinein in eine Innenperspektive, aus der sich die Persönlichkeiten, die da nach allen Regeln der Gesellschaftswissenschaft der sozialen Verwahrlosung anheimfallen, nicht als Opfer sichtbar sind, sondern als Individuen. Eine besondere Rolle spielt die alkoholkranke, im betrunkenen Zustand grausame, gleichzeitig aber feinsinnige, ambitionierte und charaktervolle Mutter, die Shuggie innig liebt. Man möchte sie beim Lesen rütteln, sie gelegentlich am liebsten wegsperren – und sich dann wieder aufopfern wie ihr Sohn, um sie irgendwie zu retten. Es gibt viele Bücher über schwierige Kindheiten, aber ich erinnere mich spontan an keines, das mit einer solchen Mischung aus Erbarmungslosigkeit und Zärtlichkeit geschrieben wäre; unsentimental und herzzerreißend zugleich. Shuggie Bain und seine Familie begleiten einen noch lange nach der Lektüre.

Den Roman “Shuggie Bain” kann man in jeder niedergelassenen Buchhandlung auf den nächsten Tag bestellen; online lässt er sich über diesen Link ordern.