Zuletzt aktualisiert am 2. Mai 2024 um 21:29
London 2022: Hier sind wir wieder, nach fünf Jahren England-Abstinenz. Die Passkontrolle fungiert als Kaninchenloch: Sobald wir hindurch sind, befinden wir uns in einem Königinnenreich, in dem Tea Parties gegeben werden, die Uhren anders laufen, überall Fähnchen wehen, verschnörkelte Wappen an den Wänden hängen und in dem fremde Menschen schockierend freundlich mit uns sprechen.
Zivilisiertheit als Reiseattraktion
“And what are you going to do during your three days in London?”, fragt unsere so elegante wie betagte Tischnachbarin im indischen Restaurant Cinnamon Bazaar. Wir haben keine Antwort mit befriedigenden Sightseeing-Projekten parat. Eigentlich wollen wir genau das, was wir hier tun: einer im Tonfall der Queen sprechenden Britin zuhören, die von ihren Commonwealth-Reisen plaudert. In den 80-er Jahren hat sie Indien kennengelernt. “It’s a wonderful country. It must be very different today with all the tourists.” Ihre Erinnerungen entzünden sich an dem stark gewürzten Masala Chai, der vor meiner Tochter und mir auf dem Tisch steht. Begleitet wird er von Vorspeisen, Sandwiches und Desserts: Wir sitzen beim “High Chai”, den der Cinnamon Bazaar unter Küchenchef Vivek Singh als indisch inspirierte Variante des Afternoon Tea anbietet. Das Instagram-taugliche Restaurant habe ihr Sohn ihr empfohlen, berichtet unsere Tischnachbarin, und ihr indischer Sheperd’s Pie sei in irgendeinem Ranking unter die hundert besten Rezepte der Welt gewählt worden. Dann verabschieden ihr Begleiter und sie sich. “Nice to have met you”, sagen sie und sagen wir.
Es ist extrem nice, wieder in England zu sein. Spätestens von dem Moment an, in dem wir die Bahntickets für die Fahrt vom Flughafen in die Londoner Innenstadt kaufen. Bei einem Herrn, der täglich mit hunderten planlosen Touristen konfrontiert ist und uns trotzdem mit voller Aufmerksamkeit anschaut, um uns freundlich und eingehend zu beraten – bis er sicher ist, dass wir wissen, was wir wissen müssen. Später, auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel, verlaufen wir uns. Offenbar sieht man uns das an. “Getting lost?” Ein Straßenarbeiter lacht gutmütig, sein Kollege begleitet uns zum nächsten Umgebungsstadtplan. Unser Mindset braucht keine zwei Stunden in England, um sich auf einen Modus einzustellen, in dem Menschen aufmerksam und respektvoll miteinander umgehen. In dem sie bei Fragen zivilisiert miteinander kommunizieren, statt sich ungeduldig, genervt und rücksichtslos an ihren Mitmenschen sowie den kleinen Hürden des Alltags vorbeizudrängen.
Reisen ist unter Umwelt-Gesichtspunkten ein fragliches Vergnügen. Ich zweifle in der letzten Zeit immer öfter, ob es verantwortungsvoll war, mit unseren Kindern jahrelang so viel wie möglich durch die Welt zu bummeln. Aber hier und heute, nach fünf Jahren erstmals wieder mit meiner inzwischen 17-jährigen Tochter in London, bin ich überzeugt: Alleine, um diesen anderen Umgangsstil zu erleben, lohnt sich so ein Trip.
Ist Good old England wirklich eine versunkene Welt?
Wir verlassen unser High-Chai-Restaurant und wandern durch Straßen, über die Union Jacks gespannt sind: mal als kleine Wimpel, mal in stattlichem Flaggenformat. Das Platinum Jubilee, das 75-jährige Thronjubiläum der Queen, liegt nur wenige Tage zurück. London ist im royalen Taumel. “Wie patriotisch sie sind!”, sagt meine Tochter. Und überlegt laut, ob die Extrembeflaggung möglicherweise auch als Touristenattraktion gedacht sei.
Derartige Fragen stelle ich mir, seit ich mich mit 17, exakt im Alter meiner Tochter, nachhaltig in das Vereinigte Königreich verliebt habe. Die royalen Wappen, die nostalgischen Pub-Schilder, die Blümchendekore: All dies schien mir wie eine poetische Flucht aus der kruden technik- und fortschrittsdominierten Gegenwart. Die nämlich verurteilte ich mit altersgerechter Borniertheit als kalt und unmenschlich. Die Engländer nun aber, die ja in der kühlen automatisierten Welt ebenso mitspielten wie wir, kultivierten bei ihren Gebäuden und in ihren Ortschaften einen Retro-Stil mit historischen Anklängen, der mir wie aus der Zeit gefallen vorkam. Ganz so, als wollten sie ihrem Leben ein wenig märchenhaften Zauber verleihen. Als würden sie ihr Land mit charmanten Theaterkulissen überziehen, um sich in andere Zeiten zu träumen. Und um den Touristen etwas zu bieten.
Ich musste ziemlich viel älter als 17 werden, bis mir dämmerte, dass alles vielleicht ganz anders ist. Dass die Ikonographien des Good Old England nicht künstlich am Leben erhalten werden, sondern einfach da sind. Als gebaute und gestaltete Umwelt, die trotz Industrialisierung, zweier Weltkriege und technologischen Wandels keinen harschen Bruch erlebte. Gewiss, unter politischen Gesichtspunkten wirken manche prachtvolle Reminiszenzen ans Empire heute ein wenig anachronistisch. Aber die historienfilmreifen Schilder und Ornamente allerorten verdanken sich möglicherweise gar keinen folkloristischen Bemühungen, die sich aus einer unbestimmten Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter einerseits und Marketinggeschick andererseits speisen. Vermutlich sind sie schlicht ein seit langem überlieferter Bestandteil des mentalen Biotops, in dem man in Großbritannien nun einmal lebt.
London 2022: Ein Königreich feiert das Platinum Jubilee der Monarchin
“Ich glaube nicht, dass das Ganze hier eine Touristenattraktion ist”, antworte ich meiner Tochter auf der Basis meines jahrzehntelangen Grübelns über die Insel. “Ich glaube, die ticken hier einfach so.” Wir kommen am Schaufenster der sehr seriösen, exzellent sortierten Traditionsbuchhandlung Hatchard’s vorbei. Im Fenster: Wimpel, Teegeschirr und Bücher über die Queen. Deren verstorbener Gatte Prinz Philip ließ sich zwar von Hatchard’s beliefern – bis heute hängt sein Wappen im Laden -, aber diese Buchhandlung ist über jeden Verdacht einer billigen Königshaus-Folklore erhaben. Wenn Elizabeth II. hier die Vitrinen dominiert, dann sagt das einiges über den Ernst aus, mit dem das royale Jubiläum auch im intellektuelleren England begangen wird.
Profitable Queen-Folklore gibt es natürlich trotzdem – dafür müssen wir von Hatchard’s aus nur ein paar Schritte den Piccadilly hinauf gehen. Das Traditionskaufhaus Fortnum & Mason zelebriert das Platinum Jubilee im hauseigenen Türkis-Ton. Das Wappen Ihrer Majestät füllt in türkis-weißer Riesenversion ein ganzes Schaufenster aus, andere Vitrinen zeigen royale Symbole im gleichen Farbschema. Die Lebensmittelabteilung bietet die passenden Sondereditionen von Tee und Keksen an. Ich erstehe eine Dose mit Cookies, die sich als Spieluhr aufziehen lässt. Wann immer wir wollen, spielt sie uns jetzt “God Save the Queen”. Kaufen sich deren Untertanen so etwas? Oder ist es nicht doch eher luxuriöser Touristen-Nepp? Wenn es einen durchgestylten Good-old-England-Themenpark gibt, dann ist das Fortnum & Mason mit seinen stilvollen Holzregalen, den uniformierten Mitarbeitern, den schnörkeligen Verpackungen, poetischen Produktnamen, filmreifen Räumlichkeiten.
Unsere Familie hatte niemals Probleme damit, sich in den Bann dieser über alle Maßen gelungenen kommerziellen Inszenierung ziehen zu lassen. Wo hier die Grenzlinien zwischen Konsum und Kultur verlaufen, ist ebenso wenig eindeutig wie die Antwort auf das Rätsel, was hier echtes England und was Fake-England ist. Vermutlich ist es in erster Linie absurd, sich derartige Fragen überhaupt zu stellen. Hingabe ist besser.
Afternoon Tea im Blumenmeer der Petersham Nurseries
Hingabe ist wunderbar. “England ist einfach so -“, und meine wahrlich wortgewandte Tochter beendet ihren Satz mit einem Hauch namenlosen Entzückens. Es ist unser zweiter London-Tag; wir haben die Stadt in Richtung Südwesten verlassen. Dort liegt Richmond upon Thames, seit Jahrhunderten bukolischer Vorort mit Adelssitzen (über einen davon, Chiswick House, habe ich hier geschrieben), mit idyllischen Ausblicken auf die quintessential English Countryside und mit bilderbuchschönen Wohnhäusern und Gärten. Mein Kind und ich sitzen in einem Blumenmeer und trinken Tee. Das Blumenmeer ist Teil eines Gartencenters, aber man darf sich die Petersham Nurseries nicht wie einen Gartencenter in Deutschland vorstellen. Die Petersham Nurseries sind ein Pilgerort, ein Paradies voller Gewächshäuser, Pflanzkästen, überwachsener Gänge, Pergolas. Mit Gartencafé, stilvollem Shop und dem Teehaus, in dem es ebenso grün wuchert wie überall hier. Selbst aus der Etagere unseres Afternoon Tea sprießen Blumen, es ist ein Fest. Wir liegen den Briten zu Füßen. Weil sie zauberhafte Orte wie diesen ersinnen, weil sie passionierte Gärtner sind und niemals müde werden, sich für Pflanzen zu begeistern. Und weil sie den Afternoon Tea erfunden haben. Der ist zwar nicht in dem Maße opulenter Bestandteil des britischen Alltagslebens, in dem wir uns das gerne vorstellen, aber er ist eine Option, die man in vielen Varianten von frugal bis hyperelegant realisieren kann.
Der Afternoon Tea in den Petersham Nurseries ist nicht nur wunderschön, sondern wird auch für seine kulinarischen Qualitäten gerühmt. Statt der bekannten Finger Sandwiches finden wir hier italienisch inspirierte salzige Häppchen auf der Etagere, und der Zitronenkuchen winkt mit einer markanten Thymiannote von Großbritannien in Richtung Mittelmeer. Die traditionellen Scones stellt man uns zum Abschluss, noch warm, in einem Körbchen auf den Tisch, und von den diversen angebotenen Loseblatt-Tees dürfen wir bestellen, so viel wir wollen. Wir schwelgen, bis die anatomische Grenze unserer Mägen erreicht ist.
Anglophilie trotz Brexit
Und schleppen uns weiter. Erstmal zur Themse. Dann zum Ham House: einem der historischen Adelssitze, an denen England so reich ist und die für mich zu den kulturellen Highlights jedes UK-Trips gehören. Ham House stammt aus dem 17. Jahrhundert, es ist dunkel und prächtig, atmet die Vergangenheit dieses Königreichs, dessen Eigenheiten wir selten so intensiv wahrgenommen haben wie bei dieser Reise.
Denn natürlich war der Brexit für eingefleischte Anglophile wie uns ein Schlag. Eine engstirnige, chauvinistische Entscheidung, die ein für Demokratie stehendes Europa schwächt. Er hat unsere England-Reiselust für eine Weile eingedämmt, und dann kam Corona. Was wir während unserer fünfjährigen London-Abstinenz in den Medien zu hören und zu lesen bekamen, war nicht förderlich für die angeschlagene Englandliebe. Eine gewisse politische Skepsis bleibt. Diese reizende junge Dame im Rüschenkleid, die geradezu idealtypisch ins Ambiente des Garten-Teehauses passt: Ist sie vielleicht Brexiteer? Aber statistisch waren es ja vor allem die Älteren, die die EU verlassen wollten. Also vielleicht der Bauarbeiter, der uns so freundlich beim Finden des Hotels unterstützte? Freut er sich vielleicht, dass seine hübsche Insel jetzt nicht mehr von so vielen Nicht-Briten bevölkert wird? Und träumt er beim Anblick der Flaggen, die der Queen zum Platinum Jubilee gratulieren, vielleicht den Geschichtsunterrichts-Satz, der meiner Tochter bei ihrem Anblick in den Sinn kommt: “The sun never sets on the British Empire”?
Reisen bildet
Wir werden es nicht erfahren. Und unterm Strich geht es uns nichts an. Wir sind Touristen. Dass dieses Königreich ebenso wenig das gelobte Land ist wie jedes andere auf der Welt, wissen wir spätestens, seit unsere ältere Tochter unsere naive England-Romantik im Zuge eines dreimonatigen Internatsaufenthalts in Yorkshire mit etwas gesundem Realismus konfrontiert hat. Für diesen Blog habe ich sie über ihre Erfahrungen interviewt.
Meine jüngere Tochter und ich jedoch sind jetzt, hier, in London 2022, Gäste. Wir sollten uns nicht einbilden, während eines Kurztrips in die Tiefen und Untiefen der britischen Mentalität hineinblicken zu können. Hingabe ist besser. Hingabe an ein paar Großbritannien-Klischees, die offenbar doch ein bisschen mehr sind als Klischees. An den Umgangston, der Balsam ist fürs Gemüt. An Stadtlandschaften und Inneräume, die eine Symbiose aus Vergangenheit und Gegenwart pflegen, die wir in Deutschland so nicht finden. An üppige Gärten und üppige Etageren zum Afternoon Tea. An Landschaften mit jahrhundertealten Herrenhäusern und Pferden auf sehr grünen Wiesen. Und während wir an der Britishness nur schnuppern, noch dazu in zur Idealisierung neigender Ferienstimmung, spüren wir deutlicher als jemals vor der Corona-Reisepause: Es ist eine unschätzbar wertvolle Gymnastik fürs Hirn, sich auch nur für eine kurze Zeit einer ganz anderen Umgebung als der gewohnten hinzugeben. England, dank seinen durch die Historie des Inselreichs geprägten Traditionen ein besonders eigenwilliger Kosmos, eignet sich dabei ganz wunderbar für eine Auszeit, die eingefahrene Hirnwindungen aus ihren rostigen Strukturen löst und elastisch macht.
Dann ist da noch das geradezu existenzielle Schaumbad im britischen Sound unserer ersten Fremdsprache. Das weiche Leder der Couch im schummrigen Pub. Das Raumgefühl bei Daunt Books, der legendären Buchhandlung in Marylebone, die zwar erst 1990 eröffnete, dies jedoch in einer Location, die schon 1912 als Buchgeschäft konzipiert wurde – und vermutlich das erste Beispiel britischer Bookstore-Architektur darstellt. Lauter sinnliche Eindrücke, die wir nur hier finden. In die wir eintauchen. Und wir spüren: Reisen bildet. Es bildet Netzwerke von Assoziationen im Gehirn, die unsere mentale Welt größer machen und auf die wir zurückgreifen können. Nicht zuletzt dann, wenn man uns weismachen will, unsere kulturellen Gewohnheiten seien das Nonplusultra.
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