Zuletzt aktualisiert am 3. Januar 2024 um 14:13

Mit den Weihnachtsmärkten dürfte auch die Saison für Jahresrückblicke eröffnet sein. Und wenn ich mir 2017 so anschaue, stelle ich fest, dass zwar nicht alles toll war – aber das verlangt ja auch keiner -, dass jedoch im September zwei höchst überraschende Dinge geschahen: Ich wurde 50. Und ich begann, mich für Österreich zu interessieren.

Es war vielleicht nicht im engeren Sinne überraschend, dass ich 50 wurde; den Termin hatte man  genaugenommen seit einem halben Jahrhundert absehen können. Aber das Fünfzigwerden selbst war dann doch recht überraschend. 50 ist nämlich so eine Sache. Viel mehr als 40, was ich vergleichsweise unspektakulär fand. Mit Ende 30 ist man ja irgendwie schon middle-aged, und der 40. Geburtstag macht diesen Status einfach nur offiziell. Mit 50 allerdings gerät man unversehens in eine andere Kategorie, mit der man sich überhaupt nicht identifiziert. 50 hat einen Silberschimmer, es klingt nach dem Anfang des Seniorentums – oder, um es ganz deutlich zu sagen: nach dem Anfang vom Ende.

Fortysomething war gestern

Wiener Seniorenbund

Sag es mit dem Holzhammer!

Wer das nicht glauben will, der reise nach Wien, gehe in die Biberstraße nicht weit vom Stephansdom und vergewissere sich selbst: Dort residiert der Wiener Seniorenbund, dessen Name “ab 5zig” lautet. Ich fand diese Message zwei Wochen nach meinem Geburtstag etwas plump. Ich war noch schwer damit beschäftigt, mit der Zahl 50 zu hadern. Sie gefiel mir nicht besonders. Ich meine, mit 50 ist man nicht mal mehr Fortysomething. Man ist something else – aber was? Ich kaufte mir ein Sonderheft der Zeitschrift Psychologie heute, das sich dem Thema “Die besten Jahre” widmete – nur um festzustellen, dass ich mit 50 noch nicht in den besten Jahren bin. In mir existierte die Vorstellung, dass ich mit 50 weise und gelassen zu sein hätte, abgeklärt gegenüber den Alltagsdingen und in der Lage, auf mein bisheriges Leben zurückzublicken und zu sagen: Runde Sache, jetzt setzen wir dem Ganzen noch ein paar i-Tüpfelchen auf. Stattdessen fühlte ich mich immer noch wie die Alte – nur, dass die Fünfzig mich klipp und klar darauf hinwies, dass ich etwas anderes war. Diese Gemengelage hat mich sehr irritiert. Der ersten Lichtstrahl an meinem neuen Graue-Panther-Horizont tat sich zum Glück bereits an meinem Geburtstag auf, als ich den Brief einer um ein Jahr älteren Freundin las. Sie schrieb: “Mit 50 muss man sich für nichts mehr rechtfertigen.” Das klang total gut – vielleicht ein bisschen nach der Narrenfreiheit des Greisenalters, aber doch sehr stimmungsaufhellend. Außerdem war da noch das Mantra des Religionslehrers meiner Töchter, der seinen Schülern gern erzählt, mit 50 beginne etwas ganz Neues – man müsse diesem Neuen nur eine Chance geben. Am Anfang war ich bei jedem Kleiderkauf besorgt, ob die Verheißung der tollen Neuerungen mit dem Kauf eines tollen neuen Kleidungsstücks abgefeiert wäre, aber mittlerweile ist meine allgemeine Ich-bin-50-Irritation eher einer gewissen Spannung gewichen: Was kommt jetzt? Man weiß ja so wenig über das Leben der Fünfzigjährigen!

Bye-bye, Ödipuskomplex!

Wien Psychoanalyse

Nur ein Bruchteil der Angebote, die ich auf zwei Wien-Spaziergängen fotografiert habe

Schon jetzt weiß ich mehr. Zum Beispiel, dass man, wie erwähnt, in Wien ab 50 in den Seniorenbund darf. Aber das ist nicht alles, was man als Fünfzigjährige in Wien darf. Ich war im Juni mit einer Freundin in Rotterdam. Als wir abends durch die Stadt gingen, fühlten wir uns wie eine tapfere Minderheit, denn die Straßen hier gehören eindeutig nicht dem Teil der Menschheit, der ü40 ist. Ganz anders in Wien. Das Volk auf den abendlichen Straßen, in den Cafés und Restaurants ist eine absolut gleichberechtigte Mélange aus verschiedenen Altersgruppen. Ob das in irgendeiner Weise mit der frappierenden Dichte an Psychoanalytikern und Psychotherapeuten zusammenhängt, die ihre Praxisschilder in die Wiener Hauseingänge hängen, ist schwer zu sagen. Vielleicht ist man in der Heimatstadt Freuds erleichterter als anderswo, endlich die Pubertät hinter sich zu haben und das Leben jenseits von Ödipuskomplex und Penisneid genießen zu können. Vielleicht spielt auch die Mode eine Rolle, deren fesche Gediegenheit für die Dame fortgeschritteneren Alters anderes als das deutsche Rentner-Beige zu bieten hat.

Im Reich der Mistkübel

Wiener Schmäh

Alles klar? Alles klar!

Dass ich die Österreicher plötzlich ziemlich cool fand, obwohl ich an unerträglichen Wahlplakaten vorbeikam, muss jedenfalls etwas mit meiner neuen Reife zu tun haben. Früher konnte ich Österreich sehr wenig abgewinnen, mal abgesehen von der Küche. Und auch das Österreichische fand ich nicht gerade attraktiv, außer, wenn Christine Nöstlinger ihre Werke auf den Hörbüchern meiner Töchter las – damals, als die Töchter noch CDs mit Geschichten hörten. Oder wenn mein Mann “Kottan ermittelt” schaute. Aber jetzt, in Wien, traf mich die Begeisterung mit vielen kleinen Schlägen. Ich sah eine Heckscheibe, an der stand: “Tschuldigns’ – i kaun net schnölla!” Coole Message im nervigen Straßenverkehr. Noch hinreißender waren die Mülleimer; auf Österreichisch Mistkübel. “Gib meinem Hängen einen Sinn”, forderte der beste, der mir begegnete. Darüber stand: “Du hast es in der Hand. Bau keinen Mist”, darunter die Nummer vom “Misttelefon”. Oben ragte ein zigarettenförmiger Aschenbecher aus dem Mistkübel und fragte: “Host an Tschick?”

Mistkübel Wien

Höchst cool: der öffentliche Wiener Mistkübel

Allerdings schien es mir, wie ich da durch Wien lief, auch ein bisschen verdächtig, dass ich das Österreichische auf einmal so cool fand. Beziehungsweise lässig; das Attribut passt besser auf den Sprachduktus mit Schmäh. Vielleicht war diese Begeisterung doch ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich langsam alt wurde? Schließlich hatte ich die österreichische Atmosphäre bisher immer als ein wenig volkstümlich, altväterlich und regressiv wahrgenommen. Ein bisschen so, als könne sich hier eine ganze Nation so wenig von den kaiserlich-und-königlichen Zeiten trennen wie ich von der Überzeugung, dass die Musik der Achtziger the real thing war. Es könnte also sein, dass meine erwachende Begeisterung für Austria schlichtweg eine Alterserscheinung ist, eine Art sprachlicher Cellulite.

Projekt für 2018: Zentraleuropa

Aber mit der ganzen Starrsinnigkeit meiner methusalemischen 50 Jahre weigere ich mich, das zu glauben. Zum einen bin ich ja noch nicht mal in den besten Jahren. Zum anderen finde ich mein Mindset aus dem 20. Jahrhundert immer noch um vieles jugendlicher als das des österreichischen Politikers Sebastian Kurz, der immerhin mein Sohn sein könnte, wenn ich auf seinen Wahlplakaten den Slogan lese: “Wieder mehr für die Fleißigen tun.” Wie dieses platt sich Anbiedernde mit der Lakonie des “Host an Tschick?” zusammengeht, beschäftigt mich stark. Ich bin weder mathematisch noch sportlich begabt, aber Sprache hat mich immer fasziniert. Man muss sich das vor Augen halten: Ein paar hundert Kilometer entfernt gibt es in unserem Nachbarland Leute, die mit dem mir seit einem halben Jahrhundert vertrauten Deutschen völlig verrückte Sachen anstellen. Viel verrückter als das, was die aus Deutschland bekannten Dialekte anstellen. Die Österreicher benutzen das Deutsche und sprechen gleichzeitig eine andere Sprache. Sie packen definitiv mehr Zeit in den einzelnen Satz; man achte nur auf die Sprachmelodie. Und auf die Abgründe, die sich hinter den langgezogenen Vokalen verbergen. Bis ich selbst genug Muße für diese Tonfälle hatte, musste ich wohl tatsächlich 50 werden. Jetzt finde ich sie gnadenlos spannend. Und frage mich: Was erzählen uns diese Biegungen des Deutschen über Zentraleuropa?

Do not disturb

Anderswo heißt es “Do not disturb”

Projekt fürs kommende Jahr: Die nächste Stadt das k.u.k-Weltreiches besuchen. Wir wollen nach Budapest. Im dortigen Nachtleben sollen ältere und jüngere Menschen übrigens friedlich nebeneinander existieren. Außerdem nochmal nach Wien. Vielleicht nennt mich endlich mal jemand “Frau Magister”. Mit 50 ist man zum Glück noch nicht so weit, dass man beim Überqueren der Straße sagen muss: “Tschuldigns’ – i kaun net schnölla.”