Zuletzt aktualisiert am 2. Mai 2024 um 21:50
Was für ein Ort: Die Künstler und Künstlerinnen der Bloomsbury Group machten Charleston House im südenglischen Sussex nicht nur zu ihrem Zuhause, sondern auch zu einem schillernden, bis heute inspirierenden Kunstwerk der frühen britischen Moderne.
My home is my artwork
Als absolut britischste aller kulturellen Vergnügungen darf wohl die Besichtigung historischer Häuser gelten. Nirgendwo gibt es so viele davon zu entdecken wie im Vereinigten Königreich. Lässt man sie am Wegesrand liegen, kann man unter Umständen zwar auch einen schönen UK-Trip erleben, aber etwas fehlt. Nicht irgendetwas, sondern die vermutlich ur-britische unter den Kunstformen der Welt. Denn “My home is my castle” ist nur der eine Teil der Geschichte. Der andere ist “My home is my artwork”.
Wer das bezweifelt, schaue sich nur einmal die Website des National Trust an, der einen großen Teil dieser Gesamtkunstwerke verwaltet, die einst zum Drin-Wohnen konzipiert wurden und heute als Museen fungieren. Die Landkarte Englands ließe sich problemlos anhand dieser meist recht herrschaftlichen Anwesen zeichnen, die die große Historie der Insel ebenso erzählen wie Gesellschafts-, Kultur- und Kunstgeschichte. Und das auf einmalig anschauliche und kurzweilige Weise.
Allerdings dürfte es selbst in England kaum einen Ort geben, der so sehr Gesamtkunstwerk ist wie Charleston. In dem idyllischen Farmhaus in Sussex siedelten sich ab 1916 die Mitglieder der Bloomsbury Group an. Und sie behandelten das Haus wie eine dreidimensionale Leinwand, die sie Laufe der Jahre bis ins winzigste Detail ausmalten und mit Kunstwerken auskleideten.
Komplizierte Beziehungsgeflechte in der Bloomsbury Group
Die Bloomsbury Group wirklich zu erklären, ihre Protagonisten aufzulisten und ihre amourösen, freundschaftlichen und familiären Verstrickungen zu erläutern, sprengt den Rahmen eines Blogartikels. Im Zentrum der niemals fest organisierten, immer wieder in variierenden Konstellationen zusammenfindenden Gruppe standen die Schwestern Virginia Woolf und Vanessa Bell. Beide trugen zur Anfangszeit des Zirkels noch ihren Mädchennamen Stephen. Virginia wurde zu einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Literaturgeschichte, Vanessa war Malerin. Gemeinsam lebten sie im Londoner Stadtteil Bloomsbury, der für höhere Töchter wie sie keineswegs standesgemäß war. Dort scharten sie eine Reihe von Künstlern und Intellektuellen um sich, die den stickigen Konventionen des viktorianischen Zeitalters sämtlich den Rücken kehrten – und entscheidende Wegbereiterinnen und Wegbereiter für die künstlerische Moderne in Großbritannien wurden.
Ins ländliche südenglische Sussex zog es beide Schwestern. Während Virginia und ihr Ehemann Leonard Woolf im beschaulichen Weiler Rodmell das kleine Monk’s House mit weitem Garten erwarben und dort zu zweit lebten, machte Vanessa aus dem sechseinhalb Kilometer entfernten Charleston Farmhouse ein Bohème-Refugium. Ihr Mann Clive Bell lebte dort trotz der Trennung des Paars. Der Maler Duncan Grant, Vanessas Geliebter und ihr lebenslanger künstlerischer Partner, blieb bis zu seinem Tod in Charleston, noch viele Jahre, nachdem die anderen Bewohner des Hauses verstorben waren. Über lange Strecken war auch sein Liebhaber David Garnett anwesend, der später die Tochter von Vanessa und Clive Bell heiratete. Der Ökonom Maynard Keynes hatte ein eigenes Zimmer in Charleston, andere Freunde kamen zu Besuch oder verweilten in der Umgebung.
Das Haus als Leinwand
Während die Bewohner von Charleston House schrieben, Bilder malten, Skulpturen fertigten oder was auch immer ihr Kerngeschäft war, machten sie sich zugleich an ihrem Landhaus zu schaffen. Natürlich hängten sie ihre eigenen Kunstwerke und die ihrer Kollegen auf. Das ist Usus. Und auch die Idee, Malereien direkt auf Wände aufzutragen, ist nicht neu. Aber die kreative Energie der Bloomsbury-Künstlerinnen ging über derartige Gepflogenheiten weit hinaus.
Bemalt wurde schlichtweg alles: Möbel, Türen, Kaminsimse, Mauern, Holzpaneele, Fensterrahmen, Lampensockel, Kacheln. Selbstentworfene Stoffe, die teilweise bis heute produziert werden, dienten als Polsterbezüge, Vorhänge, Lampenschirme. Auf Ablageflächen standen Skulpturen, Keramiken, bemalte Objekte – aus eigener Hand oder aus der von Freunden.
Charleston House: Siebter Himmel und kreativer Stimulus
Ich selbst war im Laufe diverser Englandreisen gelegentlich in Sussex. Ich bewundere Virginia Woolf seit meiner Schulzeit grenzenlos. Ich liebe es, mir britische Häuser anzuschauen. Und fand es trotzdem aus völlig schleierhaften Gründen niemals nötig, einen Abstecher nach Charleston zu machen. Was sein Gutes hat, denn so lande ich mit Mitte Fünfzig in einem siebten Himmel voller Eigenwilligkeit, Kreativität, Unkonventionalität und Gestaltungswillen. Ich brauche lange, um durch dieses hinsichtlich seiner Quadratmeterzahl überschaubare Haus zu wandeln. Jeder Winkel steckt voller Überraschungen, nirgendwo gibt es auch nur den geringsten Platz für Langeweile oder Ideenlosigkeit.
Man muss nicht in Verzückung geraten wie ich. Man kann dieses Bohème-Landhaus auch als schrill und überdekoriert empfinden. Doch letztlich stellt sich für niemanden von uns die Frage, ob er oder sie hier wohnen will, weshalb es wohltuend und bereichernd ist, sich den stimulierenden Eigenschaften des Gesamtkunswerks Charleston hemmungslos hinzugeben. Sich bewusst zu machen, dass der menschlichen Kreativität keine Grenzen gesetzt sind. Dass wir alle ein wenig leben könnten wie Pippi Langstrumpf, wenn sie sagt: “Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt”. Dass selbst banalste Objekte einen Zauber ausstrahlen und die simpelsten Alltagsverrichtungen eine poetische Note annehmen können.
Ein Ort der maximalen Inspiration
Ich persönlich kann mich in Charleston House an vielen Details freuen: an dem Duktus der Wandgemälde und Bilder, die von den spätimpressionistischen Prägungen der Bloomsbury Group erzählen. An der unglaublichen Sensibilität für Farben, die den Räumen einen berauschenden Charakter geben. An der Heterogenität vieler Dekorationselemente, die sich dennoch zu einem beglückenden Ganzen fügen. Und nicht zuletzt an den zahlreichen Ornamenten, die insbesondere Vanessa Bells künstlerischer Hand entsprangen. Sie schlagen hier und da Brücken zwischen dem kleinformatigen, farbenfrohen, naturnahen, sehr britischen Arts-and-Crafts-Stil und der abstrahierenden Motivik der modernen Kunst französischer Provenienz.
Ich verlasse Charleston House auf einer ganz eigenen Wolke, angesteckt von der in jedem Eckchen spürbaren überbordenden Lust, die Welt wenigstens ästhetisch ein wenig zu verändern.
INFO: Charleston House besuchen
Die üblichen aktuellen Infos zu Öffnungszeiten, Führungen, Eintrittspreisen hält die Website von Charleston parat.
Das Haus lässt sich am einfachsten besuchen, wenn man ein Auto zur Verfügung hat. Aber es geht auch anders: Über die Möglichkeiten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Haus der Bloomsbury Group zu gelangen, informiert die Website hier.
Bei aller Abgeschiedenheit liegt Charleston House touristisch recht zentral im Osten der südenglischen Grafschaft Sussex, nicht weit von der Stadt Lewes, und bietet sich sowohl bei einem Aufenthalt in London als auch bei einer Reise entlang der Kanalküste für einen Abstecher an. Einen solchen kann man sehr gut auch über den eigentlichen Besuch des Hauses hinaus ausdehnen. Zum einen hat Charleston einen wunderschönen Garten, in dem man sich nach Lust und Laune aufhalten kann. Es gibt einen extrem gut sortierten Shop mit viel Lesestoff zur Bloomsbury Group und ein Farm-Café mit einfallsreicher italienischer Küche. Schließlich hat der Charleston Trust, der das Haus 1985 erwarb und für Besucher zugänglich machte, direkt nebenan eine Galerie eröffnet, in der wechselnde Ausstellungen gezeigt werden – zu Themen, die jeweils in der einen oder anderen Weise mit der Charleston-Historie verknüpft sind.
… und ein kleines Special: die Berwick Church mit Bloomsbury-Kunst
Zum Abschluss empfiehlt sich die zehnminütige Fahrt zur Berwick Church, einer Dorfkirche, die von Duncan Grant, Vanessa Bell und ihrem Sohn Quentin Bell im Jahr 1941 ausgemalt wurde. Kunstgeschichtliche Zitate, die temperamentvolle und farbfreudige Bloomsbury-Handschrift sowie Porträts von Persönlichkeiten aus dem Charleston-Kreis, die hier als biblische Personen auftauchen, verbinden sich zu einem sehr speziellen Ensemble, das auf der Website der Kirche eingehend dokumentiert ist.
2 Comments
kat'l
Won-
Der-
Ful!
Maria-Bettina Eich
Merci. Dir hätte es gefallen.