Zuletzt aktualisiert am 28. Juni 2023 um 22:22
Wer auf Helgoland war, erzählt von Klippen, Vögeln, im besten Falle Kegelrobben. Auch wir haben Natur bewundert. Allerdings hat sich uns immer wieder ein Filter in die Sicht geschoben, der von den Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs kündete und von den architektonischen Reaktionen auf ein bitteres historisches Kapitel. Unmöglich, es zu ignorieren, das andere Helgoland – zumindest für uns.
Ist Helgoland harmlose Nordseeidylle?
Es ist nicht so, dass ich nicht vor Helgoland gewarnt worden wäre. Der Name des Eilands, das gern als “Deutschlands einzige Hochseeinsel” bezeichnet wird – was unter geographischen Gesichtspunkten nicht korrekt zu sein scheint -, wurde während meiner Hamburger Kindheit nur mit Schaudern ausgesprochen: von meiner Mutter, die bei einem Helgoland-Schulausflug die tiefsten Niederungen der Seekrankheit kennenlernte.
Aus diesem Grund konnte sie nicht an Land gehen, und sie weiß nichts zu berichten davon, wie diese eigenwillige felsige Nordseeinsel in den 1950-ern aussah. Was ein Jammer ist. Denn zum Zeitpunkt des Schulausflugs meiner Mutter muss Helgoland ein ganz außergewöhnliches Work in Progress gewesen sein.
Wunden am Klippenrandweg
Was mir, als ich Jahrzehnte später erstmals auf die Insel komme, keineswegs bewusst ist. Wie so ziemlich alle Tagesausflügler begeben wir uns auf den Klippenrandweg, auf dem man Helgoland zu Fuß umrundet. Das ist sinnvoll, denn auf diese Weise gelangt man aus den bebauten Gegenden heraus und wird ganz automatisch in Richtung der Langen Anna – des berühmten aufragenden Felsens an Helgolands Nordwestküste – und des benachbarten Lummenfelsens geleitet, der als Vogelparadies bekannt ist.
Das alles dauert nicht lange, insgesamt vielleicht eine Stunde, aber bevor wir freien Blick aufs Meer haben, passieren wir zunächst einige Schrebergärten. Und dann einen Bombenkrater, bemoost und beschildert: “Trichter einer 5000 kg Bombe”
Im April 1945, kurz vor Kriegsende, flogen die Engländer einen großen Bombenangriff auf Helgoland. Die Bevölkerung rettete sich in Luftschutzbunker und wurde danach evakuiert. Aber das war nicht alles: Zwei Jahre später, im April 1947, führten die Briten die größte nichtnukleare Sprengung der Geschichte auf Helgoland durch. Der Grund waren die ausgefeilten Bunkeranlagen, mit denen die Insel seit dem Ersten Weltkrieg ausgestattet war. Um zu verhindern, dass von diesen Anlagen je wieder militärische Gefahr ausgehen würde, entschlossen sich die Engländer zur Sprengung der Insel – denn genau damit, mit der kompletten Zerstörung Helgolands, rechneten sie.
Zersprengtes Land
Zu der kam es nicht, wie wir alle wissen. Aber die Topographie der Insel wurde durch den “Big Bang” für immer verändert. Die Form, die der Süden dieser Urlaubsinsel hat, verdankt sich ganz der britischen Sprengung der Insel – und damit letztlich den militärischen Aggressionen der Nazis.
Blickt man auf das bei der Explosion entstandene so genannte Mittelland Helgolands, bietet sich dem Auge einzig eine Art flaches Plateau dar. Die Spuren der Sprengung sind aufgeräumt, überwachsen, bebaut – natürlich. Sichtbare Versehrungen des Gesteins wie bei dem Bombenkrater am Klippenrandweg sind selten. Allerdings dokumentiert Helgoland seine Geschichte sehr engagiert. An vielen zentralen Stellen sind Hinweistafeln angebracht, die von den Kriegs- und Nachkriegsgeschehnissen erzählen.
Fiktion traditioneller Behaglichkeit: die Hummerbuden
Doch selbst, wenn man die nicht liest und achtlos am Bombenkrater vorbeigeht, wird man als Besucherin konfrontiert mit Spuren des Helgoländer Kriegsschicksals. Das beginnt bereits kurz nach Verlassen des Boots, wenn man unweigerlich die Hummerbuden passiert: diese hübschen aneinandergereihten bunten Holzhäuschen, die neben der Langen Anna das wichtigste Wahrzeichen der Insel sind. “Hummerbuden”, das klingt nach Fischeridylle, gestreiften Hemden, Vollbärten, einem Pfeifchen am Abend: nach Ritualen, die eingefleischte Insulaner seit Jahrhunderten pflegen.
Was komplette Fiktion ist. Nachdem Helgoland infolge der britischen Bombenangriffe evakuiert worden war, blieb es den Helgoländern jahrelang verwehrt, in ihre Heimat zurückzukehren. Erst 1952 wurde die erneute Besiedelung der Insel erlaubt. Pittoreske Hummerbuden gab es nicht, denn Helgolands Bausubstanz war komplett zerstört – mit Ausnahme des Leuchtturms, der zuvor als Flakturm gedient hatte.
Das andere Helgoland und seine Farben
Und überhaupt: Wenn man sich die Hummerbuden etwas näher anschaut, gerät man leicht ins Grübeln ob des Farbspektrums, in dem sie gestrichen sind. Orange, Dottergelb, matte Blautöne, Grau, ein trübes Grün. Das ist nicht die volkstümliche Farbpalette skandinavischer Holzhäuser, an die die Buden erinnern. Das ist verhaltener.
Nun könnte es ja sein, dass es sich dabei einfach um die Lieblingsfarben kauziger Hummerbudenbesitzer handelt. Eine Vermutung, die sich erledigt, sobald man ein paar weitere Helgoländer Bauten passiert. In unserem Fall ist das die Konzertmuschel. Sie ist in Grün, Weiß und Rot gehalten: den Helgoland-Farben. Aber sie sind nicht strahlend, wie auf dem Wappen der Insel, sondern präsentieren sich in den gedeckten Nuancen, die uns auf Schritt und Tritt begegnen.
Das andere Helgoland: ein Architekturexperiment
Tatsächlich ist das heutige Helgoland eines der großen Architekturexperimente des 20. Jahrhunderts. Den Wiederaufbau der Insel überließ man weder dem Zufall noch Einzelinitiativen, sondern man schrieb 1952 einen Wettbewerb für ein umfassendes architektonisches Konzept aus. Den gewann der Hamburger Architekt Georg Wellhausen, auf den neben dem Gesamtentwurf viele einzelne Gebäude zurückgehen – so auch die 1955 fertiggestellten Hummerbuden. Deren Farben allerdings entsprangen nicht dem Ideenrepertoire Wellhausens. Die Helgoländer Palette entwarf ein Künstler: Der Hamburger Johannes Ufer entwickelte 14 Farbtöne, die sich harmonisch in Helgolands natürliche Landschaft einfügen sollten und in denen sämtliche Bauten auf der Insel gestaltet wurden.
Frisch oder staubig? Die Helgoländer Palette
Diese Farben beschäftigen mich beim Spaziergang über Helgoland stark. “Erdtönig” seien sie, heißt es auf einem offiziellen Flyer zur Architektur, der auf der Insel erhältlich ist. Ich empfinde sie als auffällig zurückgenommen, sie sind weder klar, noch gehören sie ins Pastellspektrum. Es ist mir unmöglich, nachzuvollziehen, wie diese Farben in den 1950-ern gewirkt haben mögen. Wenn ich mir den grau-beigen Putz vieler Wohnhbauten aus dieser Zeit vor Augen rufe, erscheinen die Helgoländer Architekturfarben plötzlich ungeheuer mutig und erfrischend. Während man aus heutiger Sicht durchaus eine etwas muffige Retro-Patina wahrnehmen kann.
In ihrem Design lehnen sich die Wohnhäuser deutlich an moderne skandinavische Vorbilder an: schlicht, funktional, viel Holz. Die Ausrichtung der Bauten und die Straßenformationen sind den Windverhältnissen auf der Insel geschuldet. Gleichzeitig war es ein erklärtes Ziel, möglichst viele Wohneinheiten mit Meerblick zu bauen. Die charakteristischen asymmetrischen Giebel schaffen manchmal regelrecht expressionistische Perspektiven zwischen Häuserreihen.
Das andere Helgoland kann unter die Haut gehen
Ich bin eine große Freundin moderner Architektur, und Konzepte wie das in Helgoland machen mir grundsätzlich großen Spaß. Ich sollte also über diese Insel flanieren und glücklich sein ob des visuellen und architekturhistorischen Inputs. An der gelegentlichen staubigen Patina sollte ich mich freuen wie die Besucherin eines Freilichtmuseums. Oder wie die stilbewussten Hipster, die Helgolands Architektur angeblich gerade wiederentdecken. Ich sollte aufatmen darüber, dass fast ganz Helgoland unter Denkmalschutz steht, wenngleich die Bewohner die damit einhergehenden strengen Bedingungen nicht immer zu schätzen wissen.
Aber irgendwie bleibt mir mein Architekturjubel im Hals stecken. Ich war nicht wirklich vorbereitet auf das andere Helgoland, das Gegenstück zum malerischen Vogelparadies. Die paar Tagesausflugs-Stunden auf dieser Insel lassen in mir vor allem den Eindruck eines Landes zurück, dessen felsiger Substanz die Spuren des Krieges eingeschrieben sind. Währenddessen künden die Bauten dieses Landes von einem architektonischen Experiment, mit dem man den Verwerfungen des Krieges ein friedliches, demokratisches, zuversichtliches Gesicht entgegensetzen wollte. Keine deutschtümelnde Nostalgie, keine Rekonstruktion von Altem, stattdessen ein Verweis auf die urdemokratische skandinavische Moderne. Wunderbar, alles das. Aber, und das mag schrecklich subjektiv sein, ich kann nicht anders, als diese kleine Helgoländer Architekturutopie wie ein beeindruckendes Pflaster zu sehen, das man der versehrten Insel aufgeklebt hat. Ich kenne keinen Ort, an dem mir die Nachkriegszeit so unter die Haut gekrochen wäre wie Helgoland.
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