Zuletzt aktualisiert am 2. Mai 2024 um 20:27
Föhr war das erste Urlaubsziel meines Lebens: nichts Überraschendes, wenn man in Hamburg aufwächst. Als mir neulich klar wurde, dass meine eigenen mittlerweile im Teenageralter angekommenen und einigermaßen weitgereisten Töchter die Nordseeküste nur im Vor-Kindergarten-Alter erlebt hatten, begriff ich, dass ihre Erziehung noch mehr Mankos hatte als vermutet. Im Gegensatz zu vielen anderen elterlichen Versäumnissen war diese Vernachlässigung eines entscheidenden Stücks Norddeutschland allerdings relativ leicht auszubügeln. Weshalb wir eine Fähre buchten und zu einem kurzen Apriltrip starteten: auf die Insel Föhr mit Kindern.
Landschaft, Schafe, Strand und Meer: Wer braucht Sonnenschein auf Föhr?
“Was war für dich das Beste an Föhr?”, frage ich meine Dreizehnjährige an unserem letzten Tag. Und sie antwortet: “Die Landschaft”, was mir einigermaßen bemerkenswert scheint, denn sie fand alles toll: die Friesendörfer, unser Ferienhaus, den schnuckeligen Stil der Läden und Cafés auf der Insel. Und Nordfrieslands Landschaft präsentiert sich während unserer April-Reise wirklich nicht im Postkartenlicht. Aber egal: Der Himmel ist riesig, der Horizont so weit, wie es sich im Norden gehört. Vom Strand in Utersum, wo wir wohnen, sehen wir Amrum und Sylt. Die für die Optik der nordfriesischen Inseln unverzichtbaren Strandkörbe haben, wenn sie verlassen auf dem Sand stehen, einen ganz eigenen Charme. Und das Watt ist zwar eigentlich am besten, wenn es einem zwischen den Zehen hindurchquillt, aber für Einsteiger eignet es sich auch mit Schuhen.
Aufgepimpt wird die Landschaft da, wo es Grasflächen und Deiche gibt, durch weiße Akzente, die blöken. Überall sehen wir Schafe mit ihren reizenden und noch ziemlich frischen kleinen Lämmchen: ein klares Argument für Nordfriesland im Frühjahr. Es ist still auf der Insel. Aus dem Fenster unseres Ferienhauses höre ich mal Kühe, mal Schafe, mal Möwen, und ich stelle fest: Dies ist der perfekte Soundtrack für Tiefenentspannung.
Friesendörfer: Historische Häuser, Ferien-Idylle oder Zwergenreich?
Unser Friesenhaus heißt Marta; mit vollem Namen: Reethüs Marta. Es steht im Inseldorf Utersum und ist in einem Stil erbaut, den man möglicherweise als “Kapitänshaus reloaded” bezeichnen könnte. Auf Föhr wohnten früher viele Kapitäne, denn die Seefahrt war eine der Haupteinkommensquellen für die Insulaner. Föhr rühmt sich seiner reetgedeckten Kapitänshäuser mit bunten Türen. Wir sind nicht ganz sicher, ob alles, was hier alt, mit Reet gedeckt und einer schönen Tür versehen ist, früher Kapitänen und ihren Familien gehörte, aber egal: Das Kapitänshaus ist die architektonische Ikone der Insel, und wer heute das Inselleben genießen möchte, der hat gerne ein wenig Kapitänsflair. Reethüs Marta erfüllt alle Kriterien: dekorative Tür, reetgedecktes Dach, Backsteinwände. Innen alles nordisch-schlicht in weißem Holz; auf den Fensterbänken Modelle von Segelschiffen.
Ich bin ja ein bisschen zickig bei solchen Repliken von Historischem. Die auf alt getrimmten Häuser in unserem Dorf ähneln einander teilweise auf irritierende Weise, und man braucht nicht an der Baustelle einer neuen Friesen-Idylle vorbeizukommen, um festzustellen, dass viele der Häuser, die da im überlieferten Stil daherkommen, Neubauten sind. Gleichzeitig ist unser Reethüs Marta sehr hübsch und innendrin so geschmackvoll und komfortabel, wie man es sich überhaupt nur wünschen kann. Wäre irgendwem gedient, wenn man für die Touristen statt der historisierenden, aalglatt ins Bild der Insel passenden Ferienhäuser irgendwelche modernen Gebilde bauen würde? Und überhaupt: Ist es denn nicht schön, dass hier immerhin die alte Handwerkstradition des Dachdeckens mit Reet weitergeführt wird?
Wir sehen uns Wyk an, die einzige Stadt auf Föhr, vor allem aber touren wir durch die Inseldörfer, von denen es insgesamt elf gibt. Nieblum gilt als das allerschönste unter ihnen, und es ist in der Tat ungeheuer lauschig mit seinen Alleen, in denen äußerst liebevoll gepflegte Häuser hinter Linden stehen. Nieblum ist schnieke, Nieblum ist touristisch, es lässt mich ein bisschen an Sylt denken, aber das Flair ist der Hammer. Andere Dörfer sind etwas weniger durchgestylt. Altfriesisches und Neufriesisches mischen sich und sind manchmal nur schwer voneinander zu unterscheiden. Hier und da tut sich richtig verwunschene Idylle vor unseren Augen auf. Auf jeden Fall ist die aktuelle Inselarchitektur dazu angetan, eine Idee vom Leben in Dörfern zu vermitteln, in denen kleine Straßen von geduckten Häusern mit tiefgezogenen Dächern gesäumt wurden. Unserer Sechzehnjährigen sieht das alles zu sehr nach Zwergenreich aus, aber diese Tatsache beunruhigt mich nicht; ihre nordischen Gene sind in anderer Hinsicht gut ausgeprägt.
Föhr mit Kindern: Inselkultur von Walfang bis Schnuckeligkeit
Es gab neben aller Nordseeküsten-Sehnsucht einen Grund, aus dem ich seit langem wieder einmal nach Föhr wollte. Dieser Grund waren die sprechenden Grabsteine. Diese speziellen Grabsteine gibt es auf Föhr und auf der Nachbarinsel Amrum – und nirgendwo sonst. Sie erzählen in ausführlichen Texten die Lebensgeschichten derjenigen, deren Ruhestätten sie schmücken. Berichten von den weiten Fahrten eines Kapitäns, von Eheglück und Kinderscharen, von moralischer Haltung und Todesfällen. Häufig sind sie schön bemalt – besonders gern mit Segelschiffen, denn diese Gräber konnten sich vor allem wohlhabende Seeleute leisten. Zu einem solchen konnte man werden, wenn man zwischen der Mitte des 17. und dem frühen 19. Jahrhundert auf einem der vielen Walfangboote anheuerte, die im Nordmeer unterwegs waren. Die Föhrer erwiesen sich als große Walfangkapitäne: eine Betätigung, die der Insel zu dem Wohlstand verhalf, von dem heute die alten Kapitänshäuser zeugen. Auf Föhr kann man die sprechenden Grabsteine auf den Friedhöfen von Nieblum und von Süderende sehen. Wir gehen am ersten Tag unserer Reise auf den Friedhof der Kirche St. Laurentii in Süderende, und ich bin froh darüber: Die Grabsteine geben dem, was so sehr nach einer Ferien- und Freizeitinsel aussieht, eine spannende historische Grundierung.
Um das manchmal raue Leben an der Nordsee geht es auch im Museum Kunst der Westküste, das in dem Dorf Alkersum gelegen ist. Ein schwedischer Unternehmer, dessen Vorfahren aus ebendiesem Dörfchen stammten, hat es gestiftet; 2009 wurde es eröffnet. Die Nordseeküste ist das Thema der Gemäldesammlung des Museums ebenso wie seiner Wechselausstellungen. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs geht es um Norwegen: Das Museum zeigt historische Landschaftsmalerei ebenso wie zeitgenössische künstlerische Positionen und Fotografie aus dem Nordseeland Norwegen. Für uns bedeutet der Museumsbesuch noch mehr Norden und noch mehr Meer – also die perfekte Abrundung des familiären Küstenprojekts. Eine Menge Interessantes über die Hintergründe des Museums Kunst der Westküste erzählt übrigens der Blog In der Nähe bleiben, dessen Betreiber diesem Ort mit Haut und Haar verfallen sind.
Mit den Grabsteinen und dem Museum hat sich unsere Beschäftigung mit der Föhrer Hochkultur erschöpft; wir wenden uns der Alltagskultur zu. Und die sieht im Grunde aus wie die klassische Friesenhaus-Tür: blau-weiß, frisch, gemütlich. Überall auf Föhr wird ein schnuckeliger Nordic Style zelebriert, der einem bei einer Tour durch die allzu schnieken Schnickschnackläden in Nieblum vielleicht kurz vergällt werden kann, der uns aber im Großen und Ganzen überaus glücklich macht. Vor allem in Cafés.
Zur Lieblingsadresse unserer Tage auf Föhr mit Kindern wird Stellys Hüüs in Oldsum: ein Hofcafé mit Töpferei, das aus vielen verschachtelten Räumen zum Kaffeetrinken und Einkaufen besteht. Der Stil ist so nordisch-anheimelnd, wie es überhaupt nur geht; sehr verspielt, sehr nostalgisch. Schräg gegenüber befindet sich der Laden Marmelade & Co., dessen handgemachte Brotaufstriche ein echter Tipp sind – und dessen Räumlichkeiten ebenfalls nordisch-schnuckelig eingerichtet sind. Unser dritter kulinarischer Tipp befindet sich in Wyk. Direkt am Strand liegt das Café Klein Helgoland, in dem man auch deftig essen kann. Klein Helgoland ist ausgekleidet mit Delfter Kacheln – und wird zu unserem letzten zuckrigen Lehrstück in Sachen Nord-Design. Als ich so alt war wie meine große Tochter, dachte ich, die Welt wäre besser, wenn sie überall so aussähe. Inzwischen bin ich stilistisch etwas offener, aber ich würde sagen: Der Laune schadet die helle nordische Behaglichkeit nicht. In Nordfriesland finden sich definitiv Ausläufer der gehypten dänischen Hygge.
3 Comments
Viermal Fernweh
Bei Schnickschnack und Nordic Style werde ich schwach. Gut, dass ich in Kürze an die Küste komme, nach Deinem Artikel habe ich akutes Nordweh. 🙂 Föhr kenne ich leider noch nicht, man muss ja immer noch was auf der bucket list haben.
Liebe Grüße, Ines
Maria-Bettina Eich
Du hast ja die Ostseeküste mit ihrem Nordic Style in greifbarer Nähe und natürlich immer im Herzen, aber so ein Abstecher an die Nordsee kann auch nicht schaden! Lang lebe die Bucket List!
Liebe Grüße,
Maria