Zuletzt aktualisiert am 23. August 2022 um 11:13
Holland feiert den 100. Geburtstag der Designbewegung De Stijl, deren architektonisches Musterbeispiel in Utrecht steht: das Rietveld-Schröder-Haus. Fast hätte Utrecht in diesem Jahr zusätzlich den 90. Geburtstag eines weiteren Vertreters der klaren Linie feiern können: Dick Bruna, der Erfinder von Miffy, wäre im August 90 geworden, ist jedoch im Februar 2017 gestorben. Sein ganzes Leben verbrachte er in Utrecht – und die Stadt lädt Kinder wie Erwachsene zu diversen Dick-Bruna-Erlebnissen ein.
Die Utrechter Moderne
Bevor das Häschen Miffy – im niederländischen Original Nijntje – 1955 erstmals auf einer von Dick Bruna gestalteten Seite erschien, war in seiner Heimatstadt Utrecht eines der bis heute beeindruckendsten Wohnhäuser der klassischen Moderne entstanden: 1924, drei Jahre noch vor Dick Brunas Geburt, hatte der Designer und Architekt Gerrit Rietveld im Auftrag der jung verwitweten Truus Schröder und im engen Austausch mit ihr ein Haus für Schröder und ihre drei Kinder gebaut, das alle traditionellen Vorstellungen vom Wohnen auflöste und in jedem Detail radikal modern war.
Das Rietveld-Schröder-Haus: De Stijl dreidimensional
Rietveld hatte sich 1918 der holländischen Avantgarde-Bewegung De Stijl angeschlossen, die 1917 gegründet worden war und in Kunst, Design und Architektur eine Reduktion auf die Grundlagen der Gestaltung forderte: auf klare Linien und Flächen, Primärfarben, funktionale Formgebung. Am griffigsten wird die De-Stijl-Ästhetik in den Bildern von Piet Mondrian sichtbar, der ein Mitglied der ersten Stunde war. Was die Ideen von De Stijl bedeuten, wenn sie zum Raumerlebnis und zum Faktor des täglichen Lebens werden, lässt sich in Rietvelds Bau erfahren, der heute UNESCO-Welterbe und Museum ist.
Neue Vorstellungen vom Wohnen
Klarheit, Minimalismus und Abstraktion sind die optischen Eindrücke, die das Haus aus jedem Blickwinkel vermittelt. Aber das avantgardistische Konzept des Baus ging weit darüber hinaus: Es sollte positiven Einfluss auf das Leben seiner Bewohner nehmen. Offenheit zur Außenwelt und Licht gehörten zu den zentralen Idealen, die dank großer Fensterfronten realisiert wurden. Funktionale Elemente wie Schränke, Regale und Betten fügten sich exakt in den Raum ein. Dank ihrer rationalen Gestaltung vereinfachten sie Alltagshandlungen. Außerdem sollte sich das Gebäude den wechselnden Bedürfnissen seiner Bewohner anpassen. Viele Wände lassen sich verschieben, sodass nach Belieben offene oder geschlossene Räume entstehen: Dieses Haus bietet seinen Besitzern viele Freiheiten – und seinen heutigen Besuchern ein Gefühl für die Wirkung, die die moderne Architektur in ihrer Idealform auf Menschen ausüben kann.
1955: Miffys Geburt
Dick Bruna, so kann man in seinen Biographien lesen, ist fast täglich auf dem Weg in sein Studio am Rietveld-Schröder-Haus vorbeigeradelt. Bis heute ist dieses Haus ein Solitär in dem ansonsten typisch niederländischen Utrecht mit seinen vielen alten Bauten und Grachten. An einer von ihnen lag Dick Brunas Studio, dessen Innenräume ins Centraal Museum Utrecht transferiert wurden, sodass die Besucher einen Eindruck von der Arbeit eines der Großen unter den niederländischen Künstlern der Moderne bekommen können. 1955 brachte der öffentlichkeitsscheue Bruna zum ersten Mal das Kaninchen zu Papier, das ihn weltberühmt machen sollte – aber das war nicht der Anfang seiner Laufbahn.
Dick Bruna: Verlegersohn und Buchdesigner
Dick Bruna wurde 1927 in eine Utrechter Verlegerdynastie hineingeboren. Er begann früh zu zeichnen und wehrte sich lange gegen die fast selbstverständlich erscheinende Verpflichtung, später den familiären Betrieb zu übernehmen. Auf Umwegen wurde Dick Bruna schließlich doch zu einer Schlüsselfigur des Verlages A.W. Bruna & Zoon: Als Designer von Buchumschlägen, Logos und Jahreskatalogen verhalf er dem Verlagshaus zu einer visuellen Identität, deren Erfolg vor allem spürbar wurde, als in den 1950-ern das Geschäft mit Taschenbüchern ins Rollen kam. Die Paperback-Reihe von A.W. Bruna & Zoon hieß “Zwarte Beertjes” – “Schwarze Bären” -, und sie war ein gigantischer Erfolg. In manchen Jahren entwarf Dick Bruna mehr als 100 Titel, vor allem für Kriminalromane, die allein ihm eine wichtige Position in der künstlerischen Welt der Niederlande sicherten.
Minimalistisches Grafikdesign mit Ohren
1955 war Dick Bruna Vater eines einjährigen Sohnes, für den er eines Tages ein Kaninchen zeichnete. Er nannte es Nijntje, nach dem niederländischen Wort konijntje – für das internationale Publikum wurde aus Nijntje später Miffy. Als der familiäre Verlag in der in der Mitte der 1950-er Jahre die ersten Miffy-Geschichten zusammen mit anderen Kinderbüchern Dick Brunas herausbrachte, war die Welt vielleicht nicht ganz so befremdet wie 1924 beim Anblick des Rietveld-Schröder-Hauses, aber dennoch eher irritiert als beglückt: Was Dick Bruna hier zeichnete, war so etwas wie die De-Stijl-Abstraktion mit freundlichem Gesicht und Ohren. Nijntje und ihre Umwelt bestanden aus klaren Linien, planen Flächen und wenigen kräftigen Farben.
Moderne Ästhetik für Kinder?
War das nicht viel zu minimalistisch und zu wenig gefühlvoll für die kleinen Kinder, auf die Dick Brunas Bilder ebenso wie die Vierzeiler zugeschnitten waren, die jedes Bild begleiteten? Bot man der kindlichen Phantasie mit solchen Motiven nicht viel zu wenig Futter an, und sollten wirklich Kindergartenkinder ein Publikum für die nach dem Krieg wieder sehr ins Hintertreffen geratene moderne Ästhetik werden? Bis die besonderen gestalterischen Qualitäten von Dick Brunas Büchern erkannt wurden, vergingen einige Jahre. Zu diesen Qualitäten gehört die Akribie, mit der Bruna an jeder einzelnen Linie jedes einzelnen Buches arbeitete und mit der er jedes Mal von Neuem die maximale Reduktion suchte – während er gleichzeitig eine freundliche, behütete Kinderwelt entstehen ließ. “Ich hatte niemals das Gefühl, irgendetwas zu illustrieren. Ich möchte schöne grafische Bilder machen, die den Leuten viel Raum lassen, die Leerstellen zu füllen und ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen”, so Bruna. Das ist gelungen: Noch heute, im Alter von 62 Jahren, mutet Miffy kompromisslos modern an.
Das Nijntje Museum in Utrecht
Das gegenüber vom Centraal Museum in Utrecht gelegene Nijntje Museum ist eigentlich nicht so sehr ein Miffy-Museum als vielmehr eine Dick-Bruna-Kinderwelt, die zum Spielen einlädt und auf alle Freizeitpark-Features verzichtet. Miffys Haus, ihr Garten und auch der Zoo, den sie gerne besucht, werden hier in dreidimensionaler Form bespielbar. Ein Raum mit Dick-Bruna-Krankenschwestern und -Betten ist zum Doktorspielen gedacht: Kleine Kittel hängen an der Wand; die zweidimensionalen Patienten werden mit Fieberthermometern, Pflastern und ähnlichem versorgt. Eine großer Raum enthält ein Straßennetz im Dick-Bruna-Design, mit Ampeln, Zebrastreifen, Schildern: eine Art Verkehrsübungsplatz für Menschen im Kindergartenalter, für die das Nijntje Museum vor allem gedacht ist. Und da Dick Brunas Bücher die Phantasie anregen wollen, ist es nur konsequent, dass es im Museum auch ein Atelier gibt, in der die Kinder ihre eigenen Miffy-Kunstwerke entwerfen. Ob im puristischen Design der holländischen Moderne oder nicht, spielt hier keine Rolle.
INFO: De Stijl und Dick Bruna in Utrecht
Das Rietveld-Schröder-Haus, das Nijntje Museum und das Atelier Dick Brunas im Centraal Museum Utrecht lassen sich bequem an einem Tag besuchen, wobei vorher oder nachher sogar noch Zeit für einen Bummel durch die idyllische, grachtendurchzogene Altstadt bleibt.
Centraal Museum und Nijntje Museum liegen einander am südlichen Ende der Altstadt gegenüber. Beide sind täglich außer montags von 10.00 bis 17.00 Uhr geöffnet; das Centraal Museum außerdem am ersten Donnerstag im Monat bis 21.00 Uhr. Ein Familienticket für zwei Erwachsene und bis zu drei Kinder im Nijntje Museum kostet 20 Euro; auch Kombitickets mit dem Centraal Museum werden angeboten. Der Eintrittspreis ins Centraal Museum beträgt 12,50 Euro für Erwachsene und 5 Euro für Jugendliche zwischen 13 und 17. Für Kinder bis 12 ist er frei. Für 3 Euro zusätzlich ist in diesem Preis die Besichtigung des Rietveld-Schröder-Hauses inbegriffen, das täglich außer montags von 10.00 bis 17.00 Uhr offen ist und freitags zusätzlich bis 21.00 Uhr. Einlass ist immer zur vollen Stunde; das Centraal Museum, das das Rietveld-Schröder-Haus verwaltet, empfiehlt Vorab-Reservierung über die Website. Zu Fuß läuft man vom Centraal Museum zum Rietveld-Schröder-Haus eine knappe halbe Stunde. Über die Möglichkeiten, den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen, informiert die Museumswebsite. Außerdem kann man sich in Utrecht vielerorts Fahrräder leihen.
INFO: Hoteltipp Utrecht
Ein Zufallsfund, zu hundert Prozent empfehlenswert und im Einklang mit dem nicht nur in Utrecht zu findenden holländischen Sinn für Design: das Eye Hotel, ein kleines stylisches Haus, in dem das große Dekorationsthema die Augen und die Brille sind schließlich war das Gebäude einmal eine Augenklinik. Das Eye Hotel ist am Rand der Innenstadt von Utrecht gelegen, in einer Gegend mit vielen kleinen Läden und Restaurants. Für Familien mit kleineren Kindern gibt es spezielle Familienzimmer.
INFO: Miffy-Bücher lesen
In den letzten Jahren waren deutsche Übersetzungen der Miffy-Bücher von Dick Bruna oft nur schwer oder antiquarisch zu bekommen. Seit Anfang diesen Jahres hat der Diogenes Verlag begonnen, diese Klassiker der Bilderbuchkunst wieder aufzulegen. Was für ein Glück!
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