Zuletzt aktualisiert am 28. Juni 2019 um 23:28

Nein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so gut ist. Im September 2017 wurde Urban Nation eröffnet, ein Street-Art-Museum in Berlin. Anlässlich der Eröffnung war viel über diesen neuen Kunstort zu lesen, seither ist es im Internet ein wenig still um ihn geworden. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Und war geflasht.

Street Art in Schöneberg

Street Art Bülowstraße Berlin

Die Frau mit Blumenornament stammt von Shepard Fairey, der Mann neben ihr von D’Face

Nach Schöneberg soll ich, wenn ich zu Urban Nation will; die nächstgelegene U-Bahn-Station ist Nollendorfplatz. Wie haben wir uns eigentlich orientiert, bevor es Google Maps gab? Als meine U-Bahn die Station Bülowstraße passiert, springe ich schnell heraus. Zu meiner Linken sehe ich große schmale Murals an einem Wohnhaus. Vielleicht ist es schon hier?

Blek le Rat Bülowstraße

Eine Schönberger Ballerina von Blek le Rat

Es gibt einige Zeichen, die darauf schließen lassen. Zum Beispiel diverse Stencils des sehr berühmten Franzosen Blek le Rat, nur wenige Meter entfernt von dem Wohnhaus mit den hohen schmalen Panels, von denen zumindest eins eine mir bekannte Handschrift trägt: die des amerikanischen Street-Art-Stars Shepard Fairey alias Obey Giant. Weltberühmt ist er durch sein Obama-Plakat von 2008 geworden, das ein Porträt in Kombination mit dem Wort “Hope” zeigt und das zu einem inoffiziellen, aber wichtigen Element von Obamas Präsidentschaftskampagne wurde.

Eine Straße voller Kunst

Colectivo Licuado, Berlin

Das Colectivo Licuado aus Uruguay malt weibliche Vielfalt

Trotz Blek le Rat und Obey Giant kann ich nirgendwo einen Museumseingang finden. Ich folge dem Pfad, den Google Maps für mich vorgezeichnet hat; immer an der Bülowstraße entlang Richtung Westen. Die Dichte der Straßenkunstwerke erhöht sich. Stencils, Murals und schließlich eine Tiefgarageneinfahrt, die es in sich hat: Rechts hat das Colectivo Licuado aus Uruguay eindrucksvolle Frauengesichter mit deutlich unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Hintergründen gemalt – und in deutschtümelnder Fraktur, jedoch unter mangelhafter Berücksichtigung der hiesiegen Groß- und Kleinschreibungsregeln daneben getextet: “Vielfalt ist unser Reichtum”.

Bustart Street Art, Berlin

Überaus poppig: Bustarts Garagenzufahrt

Auf der anderen Seite der Tiefgarageneinfahrt Pop-Art wie aus dem Bilderbuch: ein Mural des Schweizer Künstlers Bustart, das Roy Lichtenstein, Micky-Maus und Berliner Motive verbindet.

Urban Nation: Jaune

Urbanes Puppenhaus von Jaune aus Belgien

Schließlich zwei Kunstwerke, die mir dank der Online-Aktivitäten von Urban Nation bekannt sind: Zunächst eine reizend detaillierte Stencil-Straßenszene, auf der der Belgier Jaune seine Miniaturversion von Urban Nation zeigt.

Marina Zumi Berlin

Berliner Ecke mit kosmischem Flair – bemalt von Marina Zumi

Und ein blaues, bestirntes, mit kosmischen Wirbeln und esoterischen Silberornamenten dekoriertes Haus. Die Argentinierein Marina Zumi hat es im Auftrag von Urban Nation bemalt. Ich fühle mich ziemlich blöd, da ich trotz der mittlerweile kosmischen Anzeichen nicht begreife, wo der Eingang zu dem Street-Art-Museum sein soll – nachdem verschiedene kreativ ummalte Hauseingänge sich schon als Finten erwiesen haben.

Street Art im Museum: Urban Nation

Des Rätsels Lösung befindet sich hinter Plastikplanen: Bei Urban Nation wird gebaut. Oder vielleicht auch nur gemalt, denn die Hausfassade hat seit der Museumseröffnung mindestens einmal ihre Optik gewechselt.

Urban Nation: Tristan Eaton, Shepard Fairey

Amerikanische Hochkaräter: links Tristan Eaton, rechts Shepard Fairey

Hinter der Plastikplane rechts ein Empfangstresen, an dem man mich freundlich anlächelt und kein Geld verlangt: Der Eintritt ist bei Urban Nation kostenlos. Dahinter sofort zwei Hochkaräter: eine Leinwand von dem hippen Amerikaner Tristan Eaton, eine von Shepard Fairey.

Urban Nation Berlin

Straßenkunst in Berliner Museumsräumen

Dann öffnet sich der erste von ziemlich vielen geräumigen, offenen und hellen Ausstellungsräumen: Nicht unbedingt die Architektur, die man in einem Schöneberger Mietshaus erwarten würde. Das hier ist keine abseitige Liebhaber-Galerie, sondern ein vollwertiges, ernstzunehmendes Museum für zeitgenössische Kunst. Dessen Konzept erschließt sich nach wenigen Minuten. Immerhin kann man ja ausgiebig darüber streiten, ob Street Art noch Street Art ist, wenn sie im Museum hängt oder steht. Bei Urban Nation hat man eine klare Lösung für dieses Paradox gefunden: Ausgestellt werden zwar Leinwände und Skulpturen, aber sie stammen nicht nur von bedeutenden Urban-Art-Künstlern und spiegeln deren für die Straße entstandene Ästhetik wider. Sondern sie stehen auch für die großen, in der Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum entstandenen Themen der Street Art, die auf so verständlichen wie klugen Infotafeln erklärt sind. Sie heißen beispielsweise Aktivismus, Porträt und Natur. Dank dieser klaren Konzeption gelingt es der Museumsinitiatorin und -leiterin Yasha Young ziemlich überzeugend, das Thema Street Art ins Museum zu bringen, ohne den Bezug zur Straße zu kappen, der diese Kunstrichtung ausmacht.

Parcours durch Street-Art-Highlights

Urban Nation Berlin: Herakut, Okudo

Frauenschicksale: links vom deutschen Duo Herakut, rechts von Okudo aus Spanien

Wer die Arbeiten der Großen aus der globalen Street-Art-Szene sehen möchte und nicht die Gelegenheit hat, rund um die Welt zu reisen, um deren Kunstwerke aufzuspüren, ist bei Urban Nation richtig. Hier hängt und steht, was Rang und Namen hat – ganz wie im konventionellen Museum.

Ben Eine, Urban Nation Berlin

Tolle Treppe vom englischen Buchstabenkünstler Ben Eine

Trotzdem ist das Kunstflair bei Urban Nation ein bisschen anders. Denn die Kunst von der Straße ist – nicht ausnahmslos, aber doch im Großen und Ganzen – plakativer, eindeutiger, zugänglicher und oft auch unterhaltsamer als das, was in herkömmlichen Museen für zeitgenössische Kunst hängt. Allein deshalb finde ich Urban Nation hervorragend geeignet für einen Besuch mit Kindern und Teenagern.

Populäre Kunst – und das ist gut so

Street Art Museum Berlin

Porträts im Obergeschoss von Urban Nation

Im Obergeschoss des Museums hängen eine Menge Porträts, was kein Wunder ist, denn die Street Art porträtiert ohnehin gern Menschen. Bei Urban Nation wird das damit erklärt, dass diese Kunst “den Gesichtslosen im wahrsten Sinne des Worts ein Gesicht und den Stimmlosen eine Stimme gibt”.

Hush Urban Nation Berlin

“Introspective” von Hush aus Großbritannien

Diese Form von klarem, unmissverständlichem und populärem Humanismus gehört zu den Stärken der Street Art. Aber, so denke ich beim Hindurchflanieren durch die Galerien von Urban Nation, auch der Verzicht auf stilistische Dünkel ist ein echtes Plus dieser Kunstrichtung. Wie befreiend die Unbefangenheit ist, mit der sich die Street Art sentimentaler, manchmal sogar kitschiger, dekorativer und von der Unterhaltungsindustrie inspirierter Mittel bedient, wird mir so richtig erst hier klar, wo ich urbane Kunstwerke auf engem Raum nebeneinander hängen sehe.

Urban Nation Berlin: Herakut, Judith Supine

Installation von Herakut, Glasbild von Judith Supine aus New York

Ich war diesmal ohne meine Töchter in Berlin. Beim nächsten gemeinsamen Besuch will ich sie mitnehmen zu Urban Nation. Die mit Wonne praktizierten Spielarten des Künstlerischen, erweitert noch um den Touch des Subversiven, der zur Street Art gehört, wird mit hoher Wahrscheinlchkeit bei ihnen verfangen. Außerdem macht es Spaß, sich dem geballten Kunstflash des Museums langsam durch die bemalten und beklebten Straßen anzunähern.

URBAN NATION: Info

Das Museum Urban Nation liegt in der Bülowstraße 7 in Berlin-Schönefeld gegenüber der U-Bahn-Station Nollendorfplatz. Viele sehenswerte Outdoor-Kunstwerke sind zwischen den Stationen Bülowstraße und Nollendorfplatz zu finden. Öffnungszeiten des Museums sind Dienstag bis Sonntag von 10.00 bis 18.00 Uhr; der Eintritt ist frei. Das Projekt Urban Nation besteht nicht nur aus dem Museum und den Kunstwerken in den umliegenden Straßen. Auf seine Initiative hin entstehen immer neue Wandgemälde in ganz Berlin. Eine Artmap auf der Website von Urban Nation hilft, sie zu finden.

Urban Nation Berlin: Bathroom

Okay, Bathroom-Spiegel-Artselfies sind etwas abgeschmackt. Auch der Museumsaufseher scheint irritiert