Zuletzt aktualisiert am 14. September 2021 um 9:51
“Und dann gehe ich jeden Tag in ein Teehaus”, dachte ich, als ich meinen Solo-Trip nach Japan plante. Ein Vorhaben, dem sich manche Hürde in den Weg stellte. Und das zu großen Glückserlebnissen führte. Fast die ganze Reise lässt sich anhand meiner Erlebnisse mit Tee in Japan erzählen – und dazu vieles von dem, was ich während herbstlicher zehn Tage über ein Land erfahren habe, in dem ich zum zweiten und hoffentlich nicht zum letzten Mal war.
Neon, Plastik und der Matcha Latte des Künstlers Takashi Murakami
Japanische Pop-Art in der Bar Zingaro
Mein erster Tee in Japan war ein Matcha Latte. Ich mag keinen Matcha Latte. Aber hier war ich nun, in der Hauptstadt des Matcha-Ursprungslands, und überall sprang mir von Aushängen in Cafés die Latte-Version des ehrwürdigen Getränks entgegen – während man nach traditionellen japanischen Tees eher mühsam suchen musste. “Gib ihm eine zweite Chance”, dachte ich.
Der Ort war denkbar geeignet für den Konsum eines Trendgetränks. Der Künstler Takashi Murakami, der für eine zeitgenössische japanische Pop-Art steht, hat ein eigenes Café gestaltet: die Bar Zingaro. Aus jedem Winkel lachen dem Besucher Murakamis kindliche Sonnenblumen entgegen: aus Plüsch, als Gemälde, auf Tassen und in Form von Coffee Art auf Milchschaum.
Nakano Broadway: Paradies für den Teenager-Konsumrausch
Als Ort für sein Café hat Murakami den Nakano Broadway gewählt: eine Einkaufspassage im Nordwesten Tokios, die als eine Art Einführungslektion in das Phänomen J-Pop gelten kann. Hier gibt es Manga-Shops und Devotionalienläden mit Merchandising zu Manga-Charakteren. Es gibt Geschäfte, die mit mikroskopisch kleinen Plastikspielzeugsets gefüllt sind – und eine Menge Automatenläden. Man steckt das Äquivalent von meist etwa drei Euro hinein und erhält ein Zufalls-Item aus der Produktgattung, die auf dem Automaten angekündigt ist: Plüschtierchen, Barbapapa-Taschenlampen, Manga-Figürchen, Ringe im Design von Fischdosen, Kunststoffversionen von Luxusarmbanduhren. Der Nakano Broadway ist randvoll mit dem Plastikmüll von morgen – und auf seine Weise herrlich.
Was ich über den Matcha Latte nicht sagen kann. Er schmeckt im Herzen des Matcha-Reichs nicht anders als an anderen Orten, und sein Reiz bleibt mir auch hier verborgen. (Die dazu bestellten Flower Pancakes, ebenfalls dekoriert mit den Sonnenblumen des Künstlers Takashi Murakami, sind allerdings eine Wonne.) Ich streife ein wenig durch die Seitenstraßen des Nakano Broadway, erfreue mich an dem überaus japanischen Chaos aus Neonschildern, Papierlampions, Elektrokabeln, Außenarmaturen von Klimaanlagen sowie auf altmodisch getrimmten Restauranteingängen und frage mich: Werde ich zwischen all dem Matcha Latte den traditionellen Nihoncha, den Tee Nippons, samt zugehörigem Teehaus überhaupt irgendwo in Tokio finden?
Teehäuser ohne Tee – und der Pappbecher, der meine Japanophilie auf ewig besiegelt
Architektur-Highlights in Aoyama
Am nächsten Tag gehe ich die Sache planvoll an. Im Tokioter Stadtteil Aoyama befindet sich nicht nur die Luxus-Shoppingmeile Omotesando, die dank ihrer spannenden Architektur auch für Leute ohne Luxus-Budget interessant ist. In Aoyama, nur wenige Minuten Fußweg vom Shopping-Kosmos entfernt, steht in einer stillen Straße ein außergewöhnlicher Bau aus vielen zu einer stacheligen Gitterstruktur geschichteten Holzscheiten, den der Architekt Kengo Kuma entworfen hat – und zwar für eine taiwanesische Firma, die Ananaskuchen herstellt. Im Tearoom von Sunny Hills Aoyama will ich meinen ersten ordentlichen Tee in Japan trinken.
Aber ich scheitere. Architekturinteressierte dürfen in dem geräumigen Bau frei herumlaufen, staunen, Fotos machen. Aber: “We’re not a cafe, we just have pineapple cakes”, sagt man mir beim Eintreten. Seltsam, komme ich doch auf meiner Tour durch das Gebäude an einem Tearoom vorbei, in dem durchaus auch Menschen sitzen, die wie Touristen aussehen. Und am Empfang wartet eine Schlange Ananashungriger darauf, ebendort einen Platz zugewiesen zu bekommen. Wie es sich mit Sunny Hills Aoyama verhält, begreife ich sukzessive: Das Ganze ist ein großartiger Showroom für die taiwanesischen Kuchen, die man hier kaufen und bei einem Tee auch kostenlos probieren kann. Wenn man denn wartet.
Ich will nicht warten. Ich will noch vor Schließung der Museumskasse in einen weiteren Kengo-Kuma-Bau, der nur wenige Straßen entfernt liegt. Das Nezu Museum ist nicht zuletzt für seinen Garten mit vier Teehäusern bekannt. Trinke ich dort eben meinen Tee, sage ich mir. Um wenige Minuten später vor einem Schild zu stehen: Das Museum ist für einige Tage geschlossen; man baut augenblicklich für eine Ausstellung über die – oh Ironie! – Teezeremonie um.
Tee in Japan: Mein ganz persönliches Glückserlebnis
Meine Stimmung kippt. Ich habe seit Stunden nichts gegessen und getrunken. War es wirklich eine gute Idee, zehn Tage lang mutterseelenallein durch Japan zu laufen? Durch ein Land, dessen Traditionen wie den meditativen Teegenuss ich vermutlich heillos romantisiere und in dem ich nicht mal begreife, wie ich im architektonischen Wunderwerk überhaupt an eine der angebotenen Tassen komme?
Ich laufe durch die Wohnstraßen des wohlhabenden Aoyama. Links von mir plötzlich eine geöffnete Garage, in der eine elegante Dame in ihren Sechzigern Obst und Gemüse anbietet. In der Hand trägt sie ein Tablett mit Pappbechern und ruft mir über die Straße hinweg zu: “Nihoncha!” Sie läuft zu mir, hält mir ihr Tablett entgegen. “Green tea!” Ich nehme einen Becher. Bedanke mich mit der linkischen Verbeugung der Touristin. Trinke. Dieser Tee ist ein Elixir, das im märchenhaft richtigen Moment kommt. An sich schon ein Wunder, und dazu ungeheuer gut. Umami. Ich gehe zur Garage der Dame, möchte etwas bei ihr einkaufen. Das funktioniert nicht, sie spricht kein Englisch. Womit die ganze Situation noch erstaunlicher wird. Ich sehe nicht besonders asiatisch aus, das heißt: Als sie mich ansprach, setzte sie sich sehenden Auges einer Situation aus, in der sie nicht gut kommunizieren konnte. Einer Situation, die Japaner üblicherweise lieber vermeiden.
Ich verabschiede mich, gehe weiter. Die Wärme und das Aroma des Tees sind noch lange mit mir unterwegs. Ich liebe Japan, nie hatte ich eine bessere Idee, als herzukommen. Genau jetzt.
Teehäuser im Nezu Museum
Am Ende meiner Reise, als ich einen letzten Tag in Tokio verbringe, besuche ich das Nezu Museum übrigens doch noch. Es besitzt eine hochkarätige Sammlung japanischer und anderer asiatischer Kunst und einen traumhaften Garten: ein kleines Eden mitten in Tokio mit Vogelstimmen wie im Dschungel. Die vier Teehäuser sind historische Schätze, die man nicht betreten darf, geschweige denn darin Tee trinken. Sie lohnen sich trotzdem. Nachdem man einmal durch diesen Garten gewandelt und an den vier rustikalen Häuschen vorbeigekommen ist, weiß man für die Zukunft so einiges über die einfache, schlichte, naturverbundene Ästhetik der Teezeremonie.
Skyline-Matcha in Sumida
Im Edo-Tokyo Museum
Mein Tokioter Hotel – Details dazu unten im Artikel – liegt im Stadtteil Sumida, der sich als eine gute Wahl herausstellt – zumindest für mich. Das Tobu Hotel Levant ist umgeben von Wohnstraßen, aber auch von vielen Cafés und Restaurants, die Gegend gehört jedoch nicht zu den Hotspots des urbanen Lebens in Tokio. Ich finde das sehr entspannt, laufe gerne durch Straßen, in denen ganz normale Menschen wohnen, und habe sogar ein paar Sightseeing-Anlaufpunkte in der Nähe.
Sumida ist traditionell das Viertel der Sumo-Ringer. Ich begegne auf meinen Spaziergängen keinem von ihnen, allgemein ist Sumida sehr modern, allerdings kann ich die Halle, in der die heutigen Sumo-Wettkämpfe stattfinden, zu Fuß von meinem Hotel aus erreichen. Direkt daneben steht der gigantische Bau des Edo-Tokyo Museums: des Museums über die Geschichte der Stadt, die 1603 unter dem Namen Edo zur japanischen Kapitale wurde und seit 1868 Tokio heißt. Das Museum verfügt über eine Freilicht-Dependance, das Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum, das ich dreieinhalb Jahre zuvor zusammen mit meiner Familie besucht habe und das ein Höchstmaß an architektonischen Glückshormonen in mir freigesetzt hat.
Auch das Edo-Tokyo Museum ist wärmstens zu empfehlen. Mit vielen Nachbauten historischer Läden, Werkstätten, Theater, Wohnhäuser macht es das Flair des alten Edo anschaulich und ist auch für Kinder spannend. Hervorragende Modelle erheben historische Stadtviertel in die dritte Dimension, während es in Vitrinen und auf Informationstafeln um die unterschiedlichsten Aspekte des städtischen Lebens in den diversen Epochen geht.
Grüner Tee mit Aussicht – und ein verwunschener Garten
An diesem Ort, denke ich, sollte der Traum von der klassischen japanischen Teatime wahr werden, und er wird es. In der obersten Etage des Edo-Tokyo Museums liegt das Café Sakura Saryou, das über den Dächern der Metropole einen Matcha mit drei saisonalen Süßigkeiten serviert – in sehr stilvollem Ambiente.
Die Süßigkeiten – Wagashi -, die zum Tee in Japan gereicht werden, sind für Westler etwas gewöhnungsbedürftig. Meist sind sie aus roter Bohnenpaste oder aus gepresstem Zucker gefertigt, und außer durchdringender Süße schmeckt unsereiner zunächst einmal sehr wenig. Die Süße hat ihren Sinn, denn sie soll als Gegengewicht zum mal mehr, mal weniger bitteren Matcha dienen. Die Aromen, die das eine Wagashi vom anderen unterscheiden, manifestieren sich nur auf höchst subtile Weise, man muss sich “hineinessen”. (Wer mehr hierüber und über andere interessante andere Aspekte der japanischen Küche wissen möchte, dem sei das Buch “Kaiseki” von Malte Härtig ans Herz gelegt.)
Es wird schnell dunkel im November in Japan. Als ich Museumscafé verlasse, geschieht nach einem kurzen Spaziergang durch die umliegenden Straßen, was mir auf dieser Reise oft passiert: Ich bewege mich durch geheimnisvoll erleuchtete Welten, von denen ich keinen blassen Schimmer habe, wie sie bei Heilligkeit aussehen. Das hat seinen Reiz. Im Zwielicht gehe ich die Wege des kleinen Parks Kyo-Yasuda Teien ab: eines japanischen Gartens mit herzförmigem Teich, der wie ein verwunschenes Refugium zwischen Hochhäusern anmutet. Später sehe ich Bilder des Gartens bei Tageslicht und freue mich über den Zauber, den der Ort in der einbrechenden Dunkelheit hatte.
Tee in Japan: Wenn digitale Blumen aus der Tasse wachsen
Im Teehaus von TeamLab Borderless
Mein letzter Tee in Tokio ist ein digtales Spektakel. Ich besuche teamLab Borderless, eine Digital-art-Wunderwelt, die seit ihrer Gründung im Juni 2018 zu einer der größten Touristenattraktionen der Stadt geworden ist. Bei teamLab Borderless durchquert man einen langen Parcours von Räumen, die einen in immersive, durch digitale Licht- und Soundinstallationen kreierte Welten tauchen. Mehr darüber gibt es an dieser Stelle zu lesen.
Auch ein Teehaus für das digitale Tee-Erlebnis gibt es in den Räumlichkeiten des teamLab Borderless. Zur Online-Reservierung meiner Eintrittskarte buche ich den Besuch im EN Tea House dazu. Beim Entreten in die Teewelt ist es dunkel, wie an vielen Orten in diesem Museum für digitale Kunst. An einem kleinen Tresen hält man mir ein anspruchsvoll klingendes Angebot von Sorten des Erzeugers EN Tea entgegen, der, wie zu lesen ist, für einen natürlichen, rücksichtsvollen Teeanbau steht. Ich bekomme eine Dose mit dem ausgewählten Tee in die Hand gedrückt und sitze dann, wie so oft in Japan, auf einer Wartebank. Um nach ein paar Minuten an einen von mehreren hufeisenförmigen schwarzen Tischen geführt zu werden, mit denen das Teehaus ausgestattet ist. Eine schwarz gekleidete Dame nimmt mir und den anderen Gästen unter Verbeugungen die Teedöschen ab und verschwindet. Nach einer Weile stillen Wartens bei sphärischen Klängen wird jedem Gast eine gläserne Schale mit dem individuellen Tee serviert, und dann beginnt die Show.
Aus der Decke fallen florale Ornamente aus Licht auf unsere Plätze. Sie verändern sich unaufhörlich, bilden kaleidoskopartig neue Formen, verwandeln sich in abwechslungsreiche Pflanzengebilde von sehr asiatischer Anmutung. Am besten ist man beraten, wenn man seine Teeschale direkt in die Einfallsschneise des Lichts rückt. Dann beginnt sie zu leuchten, die Blasen auf dem Tee werden lebendig, und mit jedem Schluck, durch den man den Pegel in der Tasse senkt, entsteht eine andere Optik.
Ist das Chichi? Augmented Tea Reality? Ich bin durchaus jemand, der grundsätzlich prädestiniert ist für kultursnobistische Kritik an Spektakeln wie diesem. Aber was soll ich sagen? Der digtiale Tee nimmt mich gefangen. Trotz des Rummels im teamLab Borderless schaffen sie es hier, eine meditative Atmosphäre zu kreieren – zwar mittels High-tech und Entertainment-Hacks, aber doch verdammt effektvoll und poetisch. Der Tee, im übrigen, ist sehr gut. Die durch ein langsames Versiegen der Lightshow klar begrenzte Pause im Teehaus erfüllt überlieferte Zwecke japanischen Teetrinkens: zur Ruhe kommen, aufmerksam sein. Also, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Man muss natürlich auch ständig auf der Hut sein, bloss keine besonders prächtige Ornament-Formation in mit der Kamera zu verpassen. Zen meets FOMO beim Tee im Japan des Jahres 2019.
HOTELTIPP Tokio: Tobu Hotel Levant
Auf diesem Blog empfehle ich nicht jedes Hotel, in dem ich während einer Reise einigermaßen gut gewohnt habe – sondern in der Regel die Unterkünfte, die mir aus irgendeinem Grund Lust gemacht haben, wiederzukommen. So ein Hotel ist das Tobu Hotel Levant, obwohl die Designliebhaberin in mir hier wahrlich nicht auf ihre Kosten kommt. Die Einrichtung ist ein wenig spießig, dominiert von Fake-Art-déco.
Aber mein Zimmer ist nicht nur superkomfortabel, es hat auch eine spektakuläre Aussicht auf den Tokyo Skytree. Für die bezahle ich einen Aufpreis, doch der hält sich in Grenzen – und lohnt sich. Wann hält einen schon der Blick auf eine Neun-Millionen-Metropole vom Schlafen ab? Und wann sieht man an einem schönen Sonntagmorgen eine Abfolge wohlchoreographierter japanischer Hoteldachgarten-Hochzeiten aus dem Fenster?
Mindestens ebenso gern wie die Aussicht mag ich das Viertel, in dem ich wohne. Sumida liegt im Osten der Stadt. Wenn ich das Hotel verlasse, finde ich nette Restaurants, kleine Geschäfte, die üblichen Coffeeshops für ein günstiges Frühstück. (Wobei das Hotelfrühstück mit seiner Mischung aus sehr westlich und sehr japanisch ein tolles Erlebnis ist.) Zum Tokyo Skytree brauche ich vom Hotel zu Fuß 20 Minuten, auch dort gibt es ein gutes Angebot an Geschäften und Restaurants. In Sumida herrscht Leben, aber kein Rummel.
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