Zuletzt aktualisiert am 27. August 2019 um 12:16
Das Fazit unseres Familienausflugs zur Art Basel 2016 überrascht mich selbst ein bisschen – aber ich kenne wenige Orte, an denen man zeitgenössische Kunst so gut und so zwanglos mit Kindern erleben kann wie bei der großen Basler Kunstmesse.
Hans Op de Beeck: The Collector’s House, 2016
2014 waren unsere Töchter erstmals auf der Art Basel. Ging gut, hat Spaß gemacht und war so interessant, dass wir in diesem Jahr wieder hinwollten. Allerdings trat unsere 14-jährige Tochter im Vorfeld des Basel-Ausflugs in den wohlverdienten Kulturstreik, und als wir mit der Elfjährigen im Zug saßen, fragte ich mich: War es eine bescheuerte Idee, das Kind zum zweiten Mal mitzuschleppen zu einem Artworld-Event, auf dem im Messeambiente mit Kunst gehandelt wird?
Unlimited: Kunst mit Unterhaltungswert
Davide Balula: Mimed Sculptures, 2016
Die Frage hat sich fünf Minuten nach unserem Betreten des Ausstellungssektors “Unlimited” von selbst beantwortet. Dieser Sektor zeigt Kunstwerke, die die Dimensionen eines gewöhnlichen Messestands sprengen: Installationen, Raumkonzepte, riesige Bilder. Eine der ersten Arbeiten hinter dem Eingang ist “Maze”, “Irrgarten”, von Alan Shields: ein buntes Textil-Labyrinth aus den frühen 1980-er Jahren (Bild ganz oben), das die Besucher dazu einlädt, sich in einem farbenfrohen Parcours aus Stoffbahnen und -gittern zu verlieren und alle paar Schritte neue Blickwinkel auf die komplexe Textilstruktur zu erleben. Muss ich erwähnen, dass unsere Tochter nicht das einzige Kind war, das an diesem Kunstwerk seinen Spaß hatte?
Nur wenige Schritte davon entfernt: die “Mimed Sculptures” von Davide Balula. Ein leeres Areal mit einigen weißen Sockeln und einer wechselnden Anzahl weißgekleideter Mimen, die mit pink behandschuhten Händen Plastiken auf diese Sockel zu modellieren scheinen. Sie zeichnen die Formen realer Skulpturen der modernen Kunst im leeren Raum nach. Diese Performance wirkt wie eine absurde Pantomime und zieht ununterbrochen Besucher in ihren Bann, die sich um das Areal der “Mimed Sculptures” wie um Straßenkünstler scharen. Nicht anders als bei “Ascenseur”, “Aufzug”, von Laura Lima. Dort streckt eine menschliche Hand ihre Finger unter dem Spalt einer Wand auf dem Boden nach einem Schlüsselbund aus. Hin und wieder reicht ein Besucher – oftmals einer im Kindesalter – dieser Hand die Schlüssel. Dann verschwindet sie eine Weile mit dem Schlüsselbund, bis sie wieder erscheint und die Schlüssel so weit von sich wirft, dass die Finger erneut vergeblich nach ihnen greifen. Auch diese Performance ist ein bisschen geisterhaft, ein bisschen lustig und für Kinder von großem Unterhaltungswert.
Labore für Wahrnehmungsexperimente
Jacqueline Humphries: Untitled, 2015/16
Ein paar Meter weiter, und wir betreten den Schwarzlichtraum der Künstlerin Jacqueline Humphries. Wie riesige Bildschirme leuchten ihre farbenfrohen abstrakten Bilder im ultravioletten Licht von vier Wänden – und wir Besucher leuchten mit, sind dank unserer eigenen Schatten und Reflektionen Teil des Kunstraums, der mit Begeisterung als Selfie-Background genutzt wird.
Gilberto Zorio: Microfoni, 1968
Wie der akustische Teil eines interaktiven Erlebnisparks der Sinne erscheint uns wenig später Gilberto Zorios Soundinstallation “Microfoni”. Von ihrer Decke hängen schmucklos Mikrofone, unter manchen stehen Betonpodeste. Das Kunstwerk bekommt erst dann Leben, wenn jemand in eines der Mikrofone hineinspricht, -hustet oder -singt, wodurch überraschende Echos entstehen. Die Idee mag etwas überlebt sein, aber Spaß machen die selbsterzeugten Soundeffekte allemal.
Archana Hande: Of Panorama (Video), 2014
Da wir gerade bei kinderkompatibler elektronisch betriebener Kunst sind: Die Inderin Archana Hande hat ein betörendes Video mit dem Titel “Of Panorama” geschaffen, das in einer kontinuierlichen, sehr organischen Metamorphose von Aquarellmotiven Evolutionen in Natur, Landschaft und Stadtplanung veranschaulicht. Vor uns kniet eine Frau neben einem Buggy, und sie ist am richtigen Ort: Man kann sich das Video von Archana Hande durchaus als eine Art Bilderbuchkino ansehen. Doch dem erwachsenen Auge und Hirn bietet es ebenfalls so viel, dass wir uns am liebsten mehrere Durchläufe anschauen möchten.
Greifbare kulturelle Bezüge
Chiharu Shiota: Accumulation: Searching for Destination, 2014-16
Aber es gibt noch mehr zu sehen. Unsere Tochter ist begeistert von den Koffern, die die Japanerin Chiharu Shiota an roten Fäden aufgehängt hat. Mit ihrem Titel “Accumulation: Searching for Destination” nimmt die Installation leicht nachvollziehbar und optisch eingängig Bezug auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik.
Mithu Sen: MUO (Museum of Unbelongings), 2016
Mithu Sen, wiederum eine Inderin und damit wiederum eine nicht-europäische und weibliche Künstlerpersönlichkeit, zeigt das Kuriositätenkabinett “Museum of Unbelongings”. In einem dunklen Raum verströmt ihr golden schimmernder Vitrinenring die Atmosphäre eines Schreins oder Tempels. Sie nutzt ihn, um eine Unzahl gebräuchlicher Artekfakte zu präsentieren: Nippes, Kunst, Kitsch und Devotionalien aus verschiedenen Kulturkreisen; nostalgisch, surreal, volkstümlich, oft aber auch gruselig oder obszön. Mit diesem riesigen Schaukabinett lotet Mithu Sen kulturelle Konventionen und Werte aus, stellt Bezüge her und gibt dem Auge eine Menge Futter. Über Schauriges und Unanständiges empört sich unsere Tochter ein bisschen, aber der Spaß am Schauen siegt.
Hans Op de Beeck: Graue Wunderkammer
Hans Op de Beeck: The Collector’s House, 2016
Doch das großartigste Schaukabinett kommt erst noch. Das seit Messebeginn unzählige Male fotografierte “Collector’s House” von Hans Op de Beeck ist das einzige Kunstwerk, für das wir uns auf der Art Basel in eine Schlange stellen. Und es lohnt sich. Hans Op de Beeck hat die idealtypische Behausung eines betuchten Kunstsammlers in grauem Gips gebaut. Bücherregale, ein Spinett, antikische Skulpturen und ein ausgestopfter Pfau signalisieren klassische Kultiviertheit, während die halbnackte rauchende Schönheit in engen Jeans, die vielen vollen Aschenbecher, ein leerer Pizzakarton und ein aufgeklapptes Notebook eher von neureicher Dekadenz erzählen. Bei aller Ironie, die hier im Spiel ist, schafft dieser Raum eine eigenwillige Magie. Das aschfahle, an Pompeji gemahnende Grau ist nicht nur trist, sondern vor allem still. Es verfremdet die allzu bekannten Objekte und rückt. sie in ein monochromes Off, von dem man gar nicht genug bekommen kann. Obwohl wir um die Schlangen vor dem grauen Raum wissen, lassen wir uns wie viele andere Besucher auch auf einer Bank nieder und genießen ein eigenwilliges Refugium, das uns dem Messetrubel schlagartig entrückt.
Art Basel 2016: Alles so schön bunt hier
Diesen Raum finden wir fantastisch; er kann auch durch AA Bronsons eklektizistisch-spielplatzartigen Steingarten “Folly” nicht getoppt werden, obwohl uns der in unserer augenblicklichen familiären Zwischenphase nach einer Japan- und vor einer Englandreise kulturell sehr anspricht.
Der Unlimited-Sektor der Art Basel ist bunt und kommt uns stellenweise wie ein kreativer Erlebnisspielplatz vor. Mir scheint er in diesem Jahr mehr auf Effekte zu setzen als bei unserem Besuch 2014. Sperriges ist rarer geworden, Politisches findet sich zwar hier und da, potentielle Ecken und Kanten sind aber meist geschmeidig gerundet. Wie bei Ai Weiweis “White House”, einer weiß lackierten chinesischen Holzstruktur auf gläsernen Füßen. Durch seine relative Harmlosigkeit ist der Unlimited-Sektor 2016 noch familientauglicher als vor zwei Jahren. Er bietet ein ideales Terrain, um Kinder mit vielen verschiedenen Darstellungsformen der zeitgenössischen Kunst vertraut zu machen – und das dank des Messetrubels ganz ohne die manchmal angespannte Ruhe von Museen. Vielleicht haben Kinder nach einem Unlimited-Besuch einen etwas zu zirkushaften Eindruck von der Kunstwelt, dafür aber werden sie überzeugt sein, dass Kunst etwas ist, was Spaß macht und womit man ruhig mal den einen oder anderen Nachmittag verbringen kann.
Zwanglos durch die Kunstgalerien
Es gibt natürlich nicht nur den Ausstellungsbereich Unlimited, sondern auch die vielen Stände internationaler Galerien. Wenn man, wie wir, ohne berufliche oder andere feste Absichten hier ist, ist zielloses Durchschlendern herrlich, denn die Entdeckungen, die man en passant macht, sind im realen wie im übertragenen Sinne unbezahlbar. Unsere Tochter freundet sich mit Cindy Sherman an. Und sie möchte unbedingt wissen, ob es wirklich wahr ist, dass wir uns unter keinen Umständen ein Bild von meiner Lieblingskünstlerin Yayoi Kusama kaufen können. Sie zwingt ihren Vater, den Galeristen nach dem Preis einer kleinen Kusama-Leinwand mit Netzstruktur zu fragen. Wer sagt, dass die Preise von Kunstwerken gut gehütete Geheimnisse sind? Der Galerist informiert unsere Tochter bereitwillig, dass man für das Bild rund eine Million Dollar hinblättern müsse. Nach dem Preis für einen glänzenden Yayoi-Kusama-Kürbis fragt sie gar nicht mehr.
Alljährlich bietet die Art Basel auch kreative Programme für Kinder an. Darüber informiert man sich am besten aktuell über die Website.
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