Zuletzt aktualisiert am 23. April 2018 um 22:31

Die Frankfurter Buchmesse 2017 unternimmt jede Menge literarische Reisen in ihr Gastland Frankreich. Mein Frankreich-Lesetipp: vier Jugendbücher, die ihre Leser mitnehmen auf Trips nach Paris – an ein mythisches, magisches, metropolitanes oder auch mondänes Sehnsuchtsziel.

Clémentine Beauvais: DIE KÖNIGINNEN DER WÜRSTCHEN (Carlsen Verlag)

Eine Tour de France als völlig abgedrehter Roadtrip: Mireille, Astrid und Hakima sind via Facebook zu den “Würsten des Jahres” ernannt worden; das heißt: zu den hässlichsten Mädchen ihrer Schule. Statt sich in Selbstmitleid zu ergehen, schließen die drei Freundschaft und entwickeln ein Projekt: Sie wollen nach Paris, um dort an der Party teilzunehmen, die am Nationalfeiertag im Präsidentenpalast stattfindet. Im Grunde wollen sie die Party “crashen”, wofür sie alle drei sehr persönliche und ganz unterschiedliche Gründe haben. Sie planen eine Fahrrandreise nach Paris; finanzieren wollen sie den Trip von ihrer provinziellen Heimatstadt Bourg-en-Bresse in die französische Metropole durch – ausgerechnet – den Verkauf von Würstchen. Als betreuender Volljähriger steht ihnen der Bruder Hakimas zur Seite, und zwar im Rollstuhl: Er hat bei einem Einsatz der französischen Armee beide Beine verloren. Die Fahrradtour der Mädchen wird schnell zu einem Social-Media-Hit; sie erlangen frankreichweit Prominenz und legen einen Weg zurück, der an sich schon fast das Ziel ist – bis sie schließlich wirklich bei der präsidialen Gartenparty ankommen. Die ganze Story ist wunderbar verrückt und verdankt ihren Reiz nicht zuletzt dem Ton der jungen französischen Autorin Clémentine Beauvais. Sie lässt Mireille aus der Ich-Perspektive erzählen, und Mireille ist durch und durch unsentimental, witzig sowie frühreif-intellektuell. Schönheitszwänge, Ausgrenzung und auch das Elend des Krieges – lauter Themen, die die Mädchen auf ihrer Reise begleiten – kommentiert sie in einer Kaltschnäuzigkeit, die sie eher noch schockierender machen. Neben Mireille kommen immer wieder einmal Zeitungen, Twitter-Accounts und Online-Kommentare zur Sprache: eine Idee, die den Roman um zusätzliche Würze und eine sehr aktuelle Note anreichert. Ich selbst habe bei der Lektüre von DIE KÖNIGINNEN DER WÜRSTCHEN mehrfach hemmungslos gekichert und das Buch meinen beiden Töchtern ans Herz gelegt. Die eine ist zwölf, die andere 16, der Verlag empfiehlt den Roman ab 14, aber ich denke, bei Clémentine Beauvais muss man sich nicht festlegen.

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Timothée de Fombelle: DIE KOFFER DES MONSIEUR PERLE (Gerstenberg Verlag)

Es geht um Feen und um Liebe, doch von diesem typischen Jugendbuch-Inventar sollte man sich nicht täuschen lassen: Timothée de Fombelle schreibt mit DIE KOFFER DES MONSIEUR PERLE etwas völlig anderes als die x-te Lovestory mit mainstreamigem Fantasy-Einschlag. Stattdessen legt der Autor Jugendlichen ab 14 ein echtes inhaltliches Schwergewicht in die Hände, das allerdings auf keiner Seite als solches erscheint, sondern äußerst leichtfüßig daherkommt. Um nicht zu sagen: höchst französisch-elegant. Timothée de Fombelle erzählt die Geschichte einer archetypischen Liebe in einer mythischen Welt, aus der die Hauptpersonen in unsere Realität hineinkatapultiert werden. Genauer: Sie werden in das Paris der Dreißigerjahre versetzt. Sie erleben den Krieg, die Judenverfolgung, die Besatzung Frankreichs. Es gibt Szenen, die in einem deutschen Kriegsgefangenenlager spielen, und andere, in denen die Résistance im Mittelpunkt steht. Immer wieder wechselt diese Erzählebene mit Blicken in die Märchenwelt ab, der die Hauptpersonen entstammen, die, wie könnte es klassischer sein, eigentlich eine Fee und ein Prinz sind. De Fombelle stellt eine Fülle von Schauplätzen nebeneinander: Zauberwälder, eine extrem pariserische Manufaktur für Guimauves – übersetzt als “Schaumzucker” – und am Ende sogar das Paris unserer Tage. Kann das alles zusammen funktionieren? Es kann. Wenn man so geschickt und sicher erzählt wie der 1973 geborene Franzose Timothée de Fombelle, dann kann man tatsächlich eine verträumte Fabel mit einer historischen Erzählung zu einem überzeugenden Ganzen verflechten. Und zwar zu einem Ganzen, das auf eine bemerkenswerte Weise die Grenzen zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur verschwimmen lässt. Wobei das vielleicht eine typisch deutsche Sichtweise der Dinge ist. Es ist gut möglich, dass die Franzosen den lesenden Jugendlichen einfach ein bisschen mehr literarisches Gewicht zutrauen.

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Katherine Rundell: SOPHIE AUF DEN DÄCHERN (Carlsen Verlag)

Die Dachlandschaft von Paris ist ein magischer Anblick. In SOPHIE AUF DEN DÄCHERN lässt die britische Autorin Katherine Rundell eine verschworene kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen auf den Pariser Dächern leben – die ROOFTOPPERS, wie der ab elf, zwölf Jahren geeignete Roman im englischen Original heißt. Zu diesen Dachläufern stößt Sophie. Ihre Vorgeschichte ist eigenwillig: Nach einem Schiffsunglück trieb das Mädchen als Baby in einem Cellokasten auf dem Ärmelkanal, um von einem liebenswerten Engländer aufgenommen und im London des viktorianischen Zeitalters aufgezogen zu werden. Plötzlich jedoch kommt der Moment, in dem die Behörden Sophie von ihrem Vormund trennen wollen. Beide entschließen sich, jedes Risiko einzugehen und Sophies Mutter zu suchen, denn Sophie ist überzeugt, dass diese trotz des Schiffsunglücks noch irgendwo lebt, und ihr Vormund nimmt die Intuition des Mädchens ernst. Vage Hinweise führen sie nach Paris, wo die Polizei schnell auf die Spur des Mädchens kommt, das inzwischen eigentlich in einem englischen Heim leben sollte. Sophie wagt sich nicht mehr auf die Pariser Straßen, doch ihr bleiben die Dächer. Sie taucht in die eigenartige Welt der Dachläufer ein, erlebt den Rausch der Freiheit zwischen Vögeln und Himmel und sieht Paris aus einer Perspektive, die sie in ihren Bann schlägt. Katherine Rundells Paris-Roman nimmt die Realität als Sprungbrett in eine poetische Welt, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht, in der es um die essentiellen Gefühle geht, ums Überleben, um Musik und um die Atmosphäre von Orten. Durch diese Welt klettert Sophie mit ihren neuen Freunden, denen die bürgerliche Gesellschaft noch fremder ist als ihr, die sich aber bestens zwischen den Wasserspeiern von Notre-Dame auskennen – dabei ist sie immer auf der Suche nach einer Mutter, mit der sie eine vage Idee und eine große Sehnsucht verbindet.

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Astrid Lindgren: KATI IN PARIS (Oetinger Verlag)

Ein Mädchenbuch, das für eine andere Generation geschrieben wurde, das aber dank der Qualität seiner Autorin frisch bleibt: KATI IN PARIS ist Teil einer Trilogie, die Astrid Lindgren in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre schrieb. Sie rankt sich um ein junges Mädchen aus Stockholm, das so lebt, wie es die Großmütter der heutigen Leserinnen-Zielgruppe ab etwa 14 Jahren getan haben mögen. Kati ist lebens- und reiselustig – die Bände der Trilogie heißen KATI IN AMERIKA, KATI IN ITALIEN, KATI IN PARIS -, sie arbeitet in einem Büro, verliebt sich und heiratet. Die Rollenvorstellungen der Fünfziger sind in diesen Büchern eine Selbstverständlichkeit, aber niemand sollte die Lektüre deshalb als unangemessen für die Leserinnen unserer Tage halten: Immerhin liefern die Kati-Romane ein lebendiges Sittengemälde, das keinen Teenager von heute zu der Überzeugung verleiten wird, Sekretärin sei der einzig passende Beruf für ein Mädchen. Außerdem ist Kati eine echte Persönlichkeit mit einem komplexen, klugen und hintergründigen Gefühlsleben und mit sehr viel Witz. Astrid Lindgren erzählt Katis Erlebnisse aus der Ich-Perspektive, und ihr gelingt ein amüsanter Plauderton, hinter dem sich so viele Einsichten über das Erwachsenwerden verbergen, dass der Roman trotz einer gewissen nostalgisch schimmernden Patina keineswegs überholt ist. KATI IN PARIS ist zudem eine sprudelnde Quelle an Frankreichbegeisterung, Paris-Romantik und Information über die Stadt, die in Katis Augen mondän und großartig ist wie keine zweite. Manches ist heute anders als im Paris der Astrid Lindgren, aber gerade das macht einen Teil des Charmes ihres Romans aus: Es ist hübsch, zu lesen, wie sich junge Frauen früher “bei Lafayette” Hüte kauften und das Quartier Latin von Saxophonklängen vibrierte.

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