Zuletzt aktualisiert am 13. August 2024 um 23:53
Am späten Freitagvormittag von Süddeutschland zum Lago Maggiore, am Sonntagabend wieder zurück: eigentlich nicht unbedingt das, was wir unter entspanntem Reisen verstehen. Und trotzdem wird dieser kompakte Kurztrip zum Lago Maggiore zu einem perfektes Paket von Tapetenwechsel und Inspiration.
Schlagartig glücklich
Die Anreise durch die Schweiz und am Ufer des Lago Maggiore ist schön, die Ankunft eine Art Schönheits-Schock. Wir sind in dem italienischen Dörfchen Castello Cabiaglio in der Provinz Varese gelandet – ganz einfach, weil wir die schweizerischen Unterkünfte zu teuer fanden und uns die einschlägigen Buchungs-Websites den Palazzo Mia in Castello Cabiaglio vorgeschlagen hat. Für zwei Nächte leben wir in einem Zimmer mit Deckengemälde. Wir betreten es vom Garten, den der Palazzo aus dem 16. Jahrhundert einschließt, und sind schlagartig in einer anderen Welt. Italien. Kultur überall. Und was für ein anderes Leben, in dem Drinnen und Draußen, nur durch eine Terrassentür getrennt, ineinander übergehen.
Haute Cuisine auf dem heiligen Hügel
Unseren ersten Abend verbringen wir mit Essen. Wir haben einen Geburtstag zu feiern und wählen Haute Cuisine mit Aussicht: im Ristorante Colonne auf dem Sacro Monte oberhalb von Varese. Küchenchef Silvio Battistoni, vom Guide Michelin sehr wohlwollend erwähnt, serviert acht kleine Überraschungsgänge: hochelegant zwischen französischer Klassik und norditalienischer Regionalität changierend. Wir sitzen auf einer Terrasse mit Blick auf den Lago di Varese, langsam wird es dunkel, über Dessert und Espresso versinkt der erste Tag unseres Kurztrips zum Lago Maggiore.
Italien, nicht ganz von dieser Welt
Am nächsten Morgen überfällt mich Italien mit seiner ganzen Magie. Unser lombardisches Übernachtungsdorf Castello Cabiaglio ist eine Gründung der Römer mit einer Altstadt, die nicht ganz von dieser Welt scheint. Dicht mit alten Häusern bebaute Straßen, schmal, von ihnen abgehend Torbögen und Durchgänge zu weiteren Wohnhäusern. Autos in akrobatischen Parkpositionen. Eine offene Lederwerkstatt. Und eine Piazza mit Kirchlein, groben Steinen, ein paar Sitzbänken und Tischen, die zur örtlichen Café-Bar gehören. Wir frühstücken inmitten einer Soundkulisse aus krähenden Hähnen, der zischenden Espressomaschine der Bar und italienischen Männerstimmen. Kein Italien-Abziehbild könnte stilechter sein. Aber das hier ist kein Abziehbild. Was für ein Glück, denke ich, dass das Leben nicht überall gleich ist. Eine Weile sinniere ich über das Fremdsein, das für Reisende solche Seligkeiten bescheren kann. Dann, wenn es selbstgewählt ist. Und wenn man frei ist, zurückzukehren ins Vertraute.
Monte Verità oder der Berg der kuriosen Wahrheiten
Nach dem Frühstück fahren wir zum Hafenort Laveno und nehmen die Fähre über den Lago Maggiore: auf dem Wasser durch eine Landschaft, die ein Luxus für die Sinne ist (siehe Bild ganz oben). Auf der Westseite des Sees dauert es eine halbe Stunde bis zur Schweizer Grenze, von dort noch zwanzig Minuten bis Ascona. Oberhalb von Ascona liegt der Monte Verità, und der ist unser Ziel. Dieser Berg ist eine der exzentrischsten Kulturlandschaften, die sich denken lassen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erschlossen ihn zunächst russische Anarchisten als alternativen Lebensraum. Es kamen Theosophen hinzu, schließlich im Jahre 1902 die vegetarische Kooperative, die dem Berg den Namen Monte Verità gab. Internationale Künstler und Künstlerinnen aller Couleur fanden im Laufe der Zeit ein Lang- oder Kurzzeit-Refugium auf dem Hügel, darunter Persönlichkeiten wie die Tänzerin Mary Wigman, der Dichter Erich Mühsam und die Malerin Marianne von Werefkin. Gleichzeitig wurde der Berg der Wahrheit zur Heimat für Vertreter der erstaunlichsten Weltanschauungen.
Sicht und Landschaft sind paradiesisch, der Monte Verità ist für Menschen wie uns ein idealer Ort für einen Natur-Kultur-Ausflug. In der organischen Holzarchitektur der Casa Anatta ist ein Museum untergebracht, das die eigenwillige Historie dieses Berges ebenso beleuchtet wie die politischen, philosophischen und künstlerischen Strömungen, die mit ihm verbunden sind. Ein paar Schritte weiter steht das Bauhaus-Hotel, zwischen 1927 und 1929 erbaut von Emil Fahrenkamp und noch heute als Hotel in Betrieb. Am bizarrsten finden wir den Elisarion-Pavillon: einen Rundbau, errichtet für den Gemäldefries “Die Klarwelt der Seligen”, der ein pastellfarbenes homoerotisches Elysium zeigt. Dieses Werk geht auf den baltischen Künstler Elisàr von Kupffer zurück, der um 1900 eine eigene Religion gegründet hatte: den Klarismus. Starker Tobak und für mich als Freundin kultureller Kuriositäten ein bemerkenswerter Fund.
Teegarten im Tessin
Nach all diesen Seltsamkeiten kommen wir an einem Ort wieder zu uns, der im Grunde ebenfalls den Rang einer Kuriosität für sich beanspruchen kann: Auf dem Monte Verità liegt der einzige Teegarten der Schweiz. Der Teepflanze Camellia sinensis gefällt es zwar am besten in Asien, aber auch im Mikroklima oberhalb des Lago Maggiore gedeiht sie. Nach japanischem Vorbild hübsch in Reihen angepflanzt, werden die Teesträucher hier regelmäßig abgeerntet und zu grünem, schwarzem oder weißem Tee verarbeitet. Der Ertrag ist gering, doch der Ort ist wunderbar. Neben dem Garten liegt die Casa del Tè, ein japanisch inspiriertes Teehaus mit Boutique. Auf seiner Terrasse trinken wir Tee: im asiatischen Gogfu-Cha-Stil zwischen Teepflanzen und Palmen, serviert vor der betörenden Kulisse des Lago Maggiore.
Mario Bottas gestreifte Bergkirche
Als Touristin kann ich gnadenlos sein. Wenn schon Tessin, beschließe ich, dann auch Mario Botta. Seit Jahrzehnten will ich die gestreifte Bergkirche San Giovanni Battista in Mogno besuchen, die der Tessiner Architekt in den Jahren von 1992 bis 1996 erbaut hat – nachdem eine Lawine die frühere Kirche und einen großen Teil des Dorfes zerstört hatte.
Im Vorfeld verschleiere ich gegenüber meinem Mann, der am Steuer sitzt, den Serpentinenreichtum und die damit verbundene Dauer des Weges in die Berge. Wie sehr er sich gelohnt hat, wissen wir beide, als wir in dem stillen Dörfchen ankommen. Es ist früher Abend, wir haben die ovale Kirche für uns. Sie ist kleiner, als ich erwartet hatte. Und gleichzeitig unendlich. Mario Botta hat ein großes spirituelles Raumkunstwerk geschaffen. Die raffiniert eingesetzten Streifen aus grauen und weißen Steinen, ihre schwere Materialität, das komplexe Spiel räumlicher Perspektiven, überraschende konstruktive Details: Wir können uns nicht sattsehen und -gehen auf den wenigen Quadratmetern dieser im Wortsinne unfassbaren Kirche. Irgendwann entfernen wir uns mit Bedauern Meter für Meter von ihr, atmen die Luft, die hier oben ein würziges Tonikum ist, und fahren durch eine Landschaft voller archaischer Rustici – ursprünglich für die Landwirtschaft gebauter Häuschen – wieder in die liebliche Seenlandschaft hinunter.
Kurztrip an den Lago Maggiore mit Stippvisite beim Kunst-Grafen
An unserem Abreisetag nehmen wir den Weg durch die Grafschaft Varese, um noch einen kurzen Halt in der Villa Panza einzulegen. Bei dieser Villa handelt es sich um einen Prachtbau, den ein Adliger sich im 18. Jahrhundert errichten ließ, der mehrfach umgebaut wurde, und der heute die Sammlung des schwerreichen 2010 verstorbenen Kunstsammlers Giuseppe Panza beherbergt. Dessen Vorliebe galt der amerikanischen Nachkriegskunst.
Die Villa e Collezione Panza ist nicht einfach ein Museum, in dem Bilder hängen. Sondern sie ist ein Gesamtkunstwerk, in dem historische Architektur und zeitgenössische Kunst zusammenwirken. Wir flanieren durch opulente Räume mit reichlich Schnörkeln, denen abstrakte, häufig monochrome Malereien eine ganz eigene Ausstrahlung verleihen. In den ehemaligen Pferdeställen und Wirtschaftsflügeln sind speziell auf diese Räume zugeschnittene Kunstinstallationen untergebracht – darunter Arbeiten von so bedeutenden Namen wie James Turrell und Dan Flavin. Irgendwann treten wir aus den Kunsträumen in den herrschaftlichen Garten mit seiner üppigen italienischen Vegetation, essen im zugehörigen Ristorante Luce unsere letzten primi piatti südlich der Alpen – und fahren nach Hause.
2 Comments
katl
Wow!!!
Maria-Bettina Eich
Merci!