Zuletzt aktualisiert am 11. März 2021 um 10:21
In Kyoto kulminiert die japanische Ästhetik – nicht nur dank der historischen Tempel und Paläste. Die alte Kaiserstadt ist auch ein fruchtbarer Boden für aktuelles japanisches Design mit tiefen Wurzeln in der Tradition. An vier Design-Orte träume ich mich regelmäßig zurück während dieser Zeit, in der Reisen nicht möglich sind.
Im Modern-Zen-Style aufwachen, elegantes Gemüse frühstücken
Mein Hotel ist gerade frisch eröffnet worden, als ich im November 2019 in Kyoto bin – höchstwahrscheinlich im Hinblick auf die für 2020 anberaumten Olympischen Spiele, die wegen Corona schließlich verschoben werden sollten. Das Oriental Hotel Kyoto Rokujo liegt im Stadtteil Shiogyo-ku. Der Bahnhof Kyoto Station und das Einkaufszentrum Kyoto Tower sind nicht weit entfernt, doch der Weg führt durch ein unübersichtliches Gewirr kleiner, von hölzernen Machiya-Stadthäusern gesäumter Straßen. Bis ich beim Hotel bin, hat sich jeder Großstadttrubel verflüchtigt, und ich habe den Eindruck, mich in einem verwunschenen Flecken des traditionellen Japan zu befinden.
Das Hotel hält nicht nur, was die Nachbarschaft verspricht: Mit seiner Front aus strengen Holzlamellen und Papierlaternen fügt es sich in die historische Umgebung ein, entfaltet in seinem Inneren aber eine zauberhafte zeitgemäße Interpretation der überlieferten japanischen Gestaltungstugenden. Überall klare vertikale Linien, Möbel in hellem Holz, aus der Lobby fällt der Blick auf einen Steingarten, kleinere Stein-Beete dienen als Dekorationselemente.
Mein Zimmer ist reduced to the max: Es besteht im Wesentlichen aus einem Bett direkt auf dem Holzboden, einem grauen Sofa und einer stilvollen Laterne. Die Ausstrahlung des Raums ist konzentriert und ruhig, und da sich hier alles perfekt für mich anfühlt, verkneife ich mir ein kurzes innerliches Gemecker über den eklatanten Mangel an Koffer-Stauraum. Der meditative Minimalismus der Einrichtung hat jedoch keineswegs einen spärlichen Komfort zur Folge: Alles funktioniert bestens, wir sind schließlich in Japan.
Das Frühstück ist von schwer zu übertreffender Eleganz: Keramikschalen mit wunderschönem Gemüse, die Aubergine als Kunstwerk, Misosuppe in einer Keramikkanne. Sehr delikat, das Ganze, aber mein Magen braucht am Morgen immer auch ein wenig westlich-plumpe Substanz, die ich in Form von Rührei und Cornflakes zu mir nehme. Um dann aufzubrechen zu einem Kyoto-Spaziergang, bei dem keine der klassischen Sehenswürdigkeiten auf meinem Plan steht.
Statt Plastik: Handwerkskunst für Kinder
Ich laufe durch Shiogyo-ku, den Stadtteil, in dem mein Hotel gelegen ist. Er gehört nicht zu den berühmten Ecken Kyotos, aber das hat Vorteile, denn anders als im historischen Viertel Gion oder rund um die bedeutenden Sehenswürdigkeiten ist es hier nicht überfüllt. Gelegentlich trifft man auf einen Touristen, ansonsten sind Japaner unterwegs, die hier wohnen und arbeiten. Die Atmosphäre hat jedoch genau diesen Zauber, für den Kyoto berühmt ist: Auf Schritt und Tritt begegnet man dem historischen Japan – in dieser Gegend vor allem dank der Machiya, der traditionellen hölzernen Stadthäuser. Zur Straßenfront hin hatten Händler und Handwerker in der Regel ihre Werkstatt oder ihr Geschäft, während sie im hinteren Teil zusammen mit ihren Familien wohnten.
Ich bin noch keine Viertelstunde zu Fuß unterwegs, als ich auf eine Machiya mit außerordentlich anziehenden Regalen voller kleiner Designobjekte stoße. Das Geschäft heißt Aeru, und die junge Japanerin, die den Laden führt, erklärt mir in erstklassigem Englisch eine Menge spannender Dinge: Aeru habe es sich zur Mission gemacht, Kindern ein Gespür für japanisches Design und Kunsthandwerk zu vermitteln. Aus diesem Grunde kooperiere man mit Handwerkskünstlern aus verschiedenen Regionen des Landes, die klassische Gegenstände mit einem modernen und kindgerechten Twist fertigten: leichtes, schlichtes Lackgeschirr etwa oder Spielzeug in Naturmaterialien.
Wunderschöne Dinge, die ihren Preis haben – und die nur eine sehr ausgewählte Klientel ansprechen. Denn in der japanischen Kinderwelt ist Plastik omnipräsent. Anime-Characters aus Automaten und elektronische Gadgets sind Alltag; nach alten Methoden handgefertigte Holszpielzeuge muten für viele Japaner fast so exotisch an wie für uns.
Dasselbe gilt für die Räumlichkeiten des Aeru-Geschäfts in Kyoto (eine weitere Filiale gibt es in Tokio): Der traditionelle Verkaufsraum der Machiya wird ähnlich genutzt wie früher. Die Händler, erzählt mir die Verkäuferin, hätten zusammen mit ihren Kunden auf einem mit Tatamimatten bedeckten Sockel wie dem gesessen, der auch hier den Raum dominiert. Um so einen Laden zu sehen, muss man in Japan in der Regel ins Museum gehen. Mit einem Konzept, das traditionelle Handwerkskünste für die Kinder des 21. Jahrhunderts relevant machen möchte, harmoniert die Rückbesinnung auf historische Architektur perfekt.
Wir plaudern lange, und irgendwann darf ich – mit Zustimmung der Inhaber – einen Blick in die Werkstatt hinter dem Designshop werfen. Dort wird seit Generationen Textilhandwerk betrieben, das mit Aeru nichts zu tun hat, aber wunderbar ins Bild passt.
D&D Department: eine Institution für japanisches Design
Von Aeru sind es nur einige Minuten, bis ich bei D&D Department bin. Von dieser Kyotoer Institution, die einen Designshop mit einem Designcafé verbindet, hatte ich gelesen. Was mir vorab nicht klar war: dass der Komplex auf dem Gelände eines Tempels untergebracht ist.
D&D Department ist ein Projekt, das der Designprofessor Kenmei Nagaoka ins Leben gerufen hat. Der Shop führt ausgewählte Gebrauchsgegenstände, die für japanisches Design von hohem gestalterischem Niveau stehen und die sonst nur schwer in dieser Konzentration zu finden sind. Eine Reihe zweisprachiger japanisch-englischer Guidebooks, die D&D Department herausbringt, widmet sich interessanten Design-Adressen in den verschiedenen Gegenden des Landes.
Der Fokus auf die Regionen, aus denen die angebotenen Produkte stammen, ist bei D&D Department ebenso wichtig wie bei Aeru. Überhaupt ist er typisch für Japan, denn in dem sich über eine beachtliche Länge erstreckenden Inselreich haben sich im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche handwerkliche, gestalterische und auch kulinarische Tradtionen herausgebildet. Auf die ist man in Japan auf respektvolle Weise stolz. Auch wenn es um modernes japanisches Design geht, spielen die ganz eigenen Kompetenzen der diversen Regionen eine große Rolle. Hätte ich Zeit und Geld, würde ich Japan sofort auf der Spur der D&D-Designbücher bereisen.
Bis es so weit ist, reicht mein Budget immerhin für eine Teeschale aus dem Designshop. Und für einen Kaffee in einem der schönsten Räume, in denen ich je gegessen und getrunken habe. Ich kenne mich zu wenig aus mit Tempelarchitektur, um zu sagen, welchen Zweck der zum Café umfunktionierte Saal mit seinen umlaufenden, durch Holzgitter strukturierten Fenstern und seiner bahnhofsartigen Uhr ursprünglich erfüllt haben mag.
An einer seiner Seitenwände findet sich eine Art Schrein; ansonsten: ein großzügiges, puristisches und behagliches Raumgefühl, das durch niedrige grün gepolsterte Lehnstühle noch verstärkt wird. Diese Stücke vereinen japanische Sitztradition und westliches Komfortempfinden, außerdem sind sie wunderschön. Gefertigt wurden sie von Tendo Mokko, einem Spezialisten für Holzmöbel aus dem Norden des Landes. Die Stühle stehen auf Tatamimatten, und selbstverständlich muss man sich die Schuhe ausziehen, bevor man den Gastraum betritt.
Eins ist sicher: Wenn ich je wieder nach Kyoto komme, kehre ich wieder bei D&D Department ein. Und ich wandere anschließend wieder durch die weiterhin religiös genutzten Säle des Bukko-ji-Tempels. Der ist vielleicht nicht ganz so eindrucksvoll wie der Silberne Pavillon, an dem ich zwei Tage zuvor war, dafür habe ich hier einen kompletten prachtvollen Tempel aus dem 14. Jahrhundert für mich ganz allein. Kyoto ist nicht überall voll.
Im gut versteckten Papier- und Grafikparadies
Bis ich bei Uragu bin, brauche ich eine knappe Viertelstunde und überquere unterwegs den Kamo-Fluss. Das Papiergeschäft hat seinen Sitz in Gion, im historischen Geisha-Distrikt – und zwar in einem alten Teehaus.
Ich weiß nicht, wie man solche Orte vor der Smartphone-Epoche finden konnte. Das System japanischer Adressen ist verwirrend, das sagt jeder Reiseführer, und bislang habe ich noch keinen in Händen gehalten, der hier Licht ins Dunkel hätte bringen können. Selbst mit Navi verlaufe ich mich in Japan oft. Uragu hätte ich ohne digitales Hilfsmittel niemals gefunden: Das Geschäft versteckt sich nicht nur in einer kleinen, unscheinbaren Straße, sondern auch hinter einem Durchgang, der privat aussieht und keinen Hinweis auf den Laden gibt. Aber das Suchen lohnt sich: Als ich den Zugang auf die Gefahr hin, das japanische Diskretionsempfinden komplett zu desavouieren, durchschritten habe, finde ich mich im Paradies wieder.
Dieses Paradies ist klein, es verfügt über eine wunderschöne historische Schmuckvitrine und jede Menge Regale, in denen Waren aus feinem japanischem Papier liegen: Karten, Umschläge, Blöcke, Notizbücher, sogar Fächer; allesamt bedruckt mit den Entwürfen des Grafikdesign-Studios Uragu. Die Motive, die das Studio verwendet, entstammen dem traditionellen Bilderfundus Japans, ausgeführt allerdings sind die Grafiken in einem großartigen modernen Duktus. Ich staune, unterhalte mich mit der Verkäuferin, die sich über die europäische Kundin freut, mache Fotos mit ihrer Zustimmung. Nach einer Weile betritt eine Gruppe von Japanerinnen das Geschäft, zeigt Begeisterung, fotografiert ebenfalls. Denn japanisches Design ist zwar ein weltweiter Begriff, die Kyotoer Finessen allerdings, die unendlich elegante Brücken von der Jetztzeit zur Tradition schlagen, sind auch für Japaner offenbar nicht alltäglich.
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