Zuletzt aktualisiert am 7. März 2022 um 11:22

Das Internet läuft über von Bekenntnissen: Was man nicht alles aus der Corona-Krise lerne! Zum Beispiel, sich wieder aufs Wesentliche zu besinnen. Ich hingegen besinne mich täglich stärker aufs Unwesentliche. Und entwickle ein sehr dringendes Reiseprojekt: Paris nach Corona.

Mythos. Luxus. Poesie.

Paris nach Corona
Street Art von Miss.Tic in La Butte-aux-Cailles

“La poésie est un luxe de première nécessité”, schreibt die Künstlerin Miss.Tic an eine Wand im Pariser Stadtteil La Butte-aux-Cailles – neben ihr Stencil-Porträt einer sinnlichen Dunkelhaarigen. “Die Poesie ist ein Luxus von höchster Notwendigkeit.” Hach, Paris! Der Mensch lebt nicht vom Klopapier allein. Und in dieser Stadt, in der Mythos und Realität nicht auseinanderzudividieren sind, noch weniger als anderswo.

Der Couturier designt ein Hotel

Hôtel L'Antoine
Barocker Mustermix im von Christian Lacroix gestalteten Hôtel L’Antoine

Dass ein Modedesigner ein Hotel einrichtet, kommt vor. Dass ein Modedesigner ein intimes, bezahlbares Hotel in einer eher einfachen Gegend einrichtet und sich dabei mit Wonne in die Traditionen der kleinen Leute vertieft, die das Viertel geprägt haben, ist eher selten. Christian Lacroix versteht sein Design des Hôtel L’Antoine als Hommage an die Handwerker, die jahrhundertelang im Faubourg Saint-Antoine im Osten von Paris tätig waren. (Ganz in der Nähe gibt es heute übrigens mit dem Viaduc des Arts ein wunderbares Zentrum pariserischen Kunsthandwerks.) Der Couturier schwelgt in Tapetenmustern, Kachel-Dekoren, Möbelstilen sowie den Materialien, die die in den Inneneinrichtungs-Werkstätten des Viertels verwendet wurden. Und kreiert ein barock-postmodernes Gesamtkunstwerk zum Übernachten, durch das ein nonchalanter kreativer Übermut weht. Back to basics? Less is more? Fehlanzeige.

Wo Kaufhäuser Hochkultur sind

Le Bon Marché Paris
Bei der Architektur von Le Bon Marché hatte auch Gustave Eiffel seine Hand im Spiel

Bücher. Die Medien haben in den letzten Wochen darüber gestritten, ob Bücher zur Grundversorgung des Menschen gehören und ob deshalb die Buchhandlungen nicht auch während des Lockdowns geöffnet sein sollten. Für mich persönlich stellen Bücher in der Tat überlebenswichtige Güter dar. Nicht überlebenswichtig sind allerdings hohe, golden schimmernde Glasdächer aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Unter solchen bietet das Luxuskaufhaus Le Bon Marché den lebenswichtigen Lesestoff an. Wie entsetzlich dekadent! Und ist es nicht sowieso geradezu unmoralisch, in einer Kaufhaus-Librairie einzukaufen, während kleine Buchhandlungen um ihre Existenz kämpfen? Vermutlich. Aber nicht an diesem Ort. Mit dem Bon Marché wurde die Institution des Kaufhauses begründet, hier entstand im späten 19. Jahrhundert das, was man heute als Konsumkultur, Retail Therapy oder auch Shoppingwahnsinn kennt. Literarisch geadelt wurde der Ort durch Émile Zola, der ihm 1883 einen ganzen Roman widmete: “Au bonheur des dames”, ein Buch über fiebrige Kaufräusche, das Luxusmarketing der ersten Stunde und menschliche Schicksale im Strudel der Gier. Und noch ein weiterer Faktor macht das “Grand Magasin” am linken Seineufer zu einer kulturgeschichtlich bedeutsamen Adresse: Es befreite die Frauen der Bourgeoisie aus ihrem genderbedingten Lockdown, denn hier hatten sie einen Ort, der es ihnen erlaubte, die eigenen vier Wände zu verlassen und sich auf gesellschaftlich anerkannte Weise ins Leben der Stadt zu mischen.

Salon, Macaron, Bonbon

Paris nach Corona: Pierre Hermé
Salon de Thé von Pierre Hermé und L’Occitane-Shop: Das 86 Champs ist ein Hort französischer Aromen

Mode, Parfum, Gourmet-Cuisine: Themen, die fortwährend über Paris schweben und sich immer wieder neu materialisieren. So zum Beispiel in der Ende 2017 eröffneten Location 86 Champs. Dort regiert Pierre Hermé, ein Pariser Genie. Man hat Hermé den Picasso des Macarons genannt, was sehr forciert klingt und trotzdem hohen Wahrheitsgehalt besitzt. Der Patissier hat den Macaron auf einen Level des Raffinements gehoben, der aus deutscher Perspektive geradezu unerhört ist: Der gefüllte Keks als Medium kulinarischer Bewusstseinserweiterung. 86 Champs erlaubt es, die Hermé’schen Kreationen sur place zusammen mit einem Tee, einem Kaffee, kleinen Gerichten zu sich zu nehmen. Hierzu setzt man sich auf die rückwärtige Seite eines von Designstar Laura Gonzalez entworfenen Rings, der mit gerundeten Fliesen in Macaron-Pastell verkleidet ist und über dem mattweiße Ballonlampen leuchten. Auf der vorderen Seite werden die kleinen kulinarischen Kunstwerke verkauft – und nicht nur sie. Pierre Hermé teilt sich den Raum mit einer Institution geradezu idealtypisch französischen Genusses: mit der Kosmetikmarke L’Occitane, die die provenzalischen Naturerzeugnisse und -düfte zelebriert. Dass quasi gegenüber, auf der anderen Seite der Champs-Élysées, das alteingesessene Pariser Macaron-Mekka Ladurée residiert und dass ein Großteil der Verkäufer bei Pierre Hermé asiatischer Herkunft ist, legt die Annahme nahe, dass man es bei 86 Champs mit einer geballten Ladung Frankreich auf Touristen aus Fernost abgesehen hat. Hier trägt Paris ein wenig dick auf mit seinen Art-de-vivre-Trümpfen. Zumal mein kleines Gemüsegericht nicht über das Attribut “korrekt” hinauskommt. Dafür ist das Himbeer-Rose-Litchi-Macaron-Dessert namens Ispahan himmlisch, und man denkt an den berühmtesten Satz, den Marie-Antoinette nie gesagt hat. Wenn sie das Gemüse nicht mögen, sollen sie doch Macarons essen!

Paris nach Corona und der African Style

Paris nach Corona: Metro
Kommt mit Mundschutz wahrscheinlich ganz anders herüber: African Style in Paris

Um einiges unprätentiöser und mindestens ebenso inspirierend ist das Stilkonzept der dunkelhäutigen Ladys in der Metro. Ein gewisser Anteil des Pariser Genius Loci verdankt sich afrikanischen Einflüssen – im Norden der Stadt ist dieser Anteil höher, in der Mitte und im Westen niedriger. Die französische Kolonialgeschichte hat viele bedrückende Kapitel, Immigration ist in Frankreich nicht selten ein problematisches Thema – aber wenn ich mich auf Paris nach Corona freue, dann auch wegen des ganz speziellen Flairs, das Damen in großformatigen Mustern genauso wie die Läden und Restaurants afrikanischstämmiger Franzosen ins Bild bringen.

In 80 Bissen um die Welt

Toraya Paris
Anlaufstelle in Paris nach Corona: der japanische Teesalon Toraya

Liegt es an der Kolonialgeschichte? Oder doch eher an der generellen Begeisterung der Franzosen fürs Essen? Jedenfalls pflegen sie trotz ihres allgemein bekannten Nationalstolzes und ihrer legendären Zurückhaltung beim Erlernen von Fremdsprachen eine grenzenlose Entdeckerfreude gegenüber fremdländischen Gerichten – bis hin zur Schweinshaxe. Das ist gut für Paris, denn hier finden sich die Küchen der ganzen Welt konzentriert in einer Stadt – und das sehr oft auf einem Niveau, das man außerhalb ihrer Heimatländer selten findet. Weshalb Paris der ideale Ort für kulinarische Weltreisen ist, wenn reale Weltreisen gerade nicht möglich sind. Nicht zuletzt Japan-Fans haben es in der französischen Kapitale leicht, denn von Gourmet-Weltnation zu Gourmet-Weltnation erkennt man einander selbstverständlich an: Nippons Küche wird in Frankreichs Hauptstadt hoch geschätzt. Natürlich ist Paris denn auch der Ort, an dem Toraya seine weltweit einzige Boutique mit Teesalon außerhalb Japans hat. Toraya stellt seit dem 16. Jahrhundert Wagashi her: Süßigkeiten, die traditionell zur Teezeremonie gereicht werden und die optisch und aromatisch von maximaler Zartheit sind. Wenn schon nicht Japan, dann wenigstens Paris!

Zu meinen Tipps für weitere japanische und anderen Tee-Orte in Paris geht es hier.

La Vie en rose

Paris Marcadé Event
Zu schön, um wahr zu sein? Egal! Paris-Szenerie für einen Abend, kreiert von Marcadé-Event

Hoteleinrichtungen aus Couturiershand, golden schimmernde Glasdächer, überirdische Patisserien, exotische Inspirationen: nicht wirklich existentiell, möchte man anmerken. Denn geht es nicht letztlich darum, im Hotel einen Platz zum Schlafen zu finden, unter den Glasdächern des Luxuskaufhauses Bücher zu erwerben, beim Tee oder Kaffee eine leckere Stärkung zu sich zu nehmen, mit der Metro von A nach B zu kommen, egal, ob glamouröse Reisegefährtinnen in afrikanischen Gewändern im gleichen Waggon sitzen oder nicht? Und der schillernde Rest: Ist der nicht dekoratives Beiwerk, mythische Überhöhung, letztlich eine Blase von Illusion, die um das Real Thing herumwabert? Nicht in Paris, wo Mode und Kochkunst vollwertige Kulturgüter sind, wo jeder Kubikmeter Luft angefüllt ist mit Geschichte und Geschichten und wo die Alltagspoesie so nahrhaft ist wie ein Steak Frites. Ich freue mich auf den Tag, an dem die Franzosen wieder einigermaßen sorglos auf den Straßen flanieren können und an dem Paris nach Corona für uns eine reale Option ist.

Übrigens: Das Street-Art-Kunstwerk ganz oben im Artikel mit dem schönen Text “Stärker als die Leidenschaft: die Illusion” stammt von Miss.Tic