Zuletzt aktualisiert am 22. August 2022 um 18:25
Drei Tage Westböhmen. Die Eltern wollen mal wieder in eine Gegend, in der sie früher oft, jetzt jedoch schon lange nicht mehr waren. Für die Kinder ist Tschechien ein völlig neues Land, und es irritiert sie, dass es bereits kurz hinter Nürnberg anfängt. “Man kann doch nicht einfach für drei Tage nach Tschechien fahren”, sagt die große Tochter. Doch, kann man. Und man hat sogar genug Zeit für Time Travel via Architektur.
Marienbad: Traditions-Spa in Westböhmen
Marienbad – auf Tschechisch Mariánské Lázně – ist ein irrealer Ort. Schnörkel, Hotelbauten im Zuckerbäckerstil, im Zentrum die filigrane Neue Kolonnade, unter der man sich wie in einem Dinosaurierskelett fühlt: Hier ist nichts wie im wirklichen Leben, aber fürs wirkliche Leben wurde der Kurort in den Bergen auch nicht geschaffen. Seine diversen Heilquellen machten ihn zu einem der trendigsten Spas des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wo Goethe, Chopin, King Edward VII. und Mark Twain wohltuende Wässcherchen tranken, sich auf den schmalen Promenaden drängten und Socializing betrieben.
Unwirkliche Kulisse
Und nun wir. Ein echter sozialer Abstieg für den Badeort, aber nicht sein erster. Nach dem Zweiten Weltkrieg, unter der sozialistischen Regierung der damaligen Tschechoslowakei, war vom ehemaligen Glanz der kleinen Luxus-Enklave nicht mehr viel übrig. 1989 allerdings begann man mit der Sanierung. Das Ergebnis ist eine psychedelische Kulisse für einen Spaziergang durch eine Traumwelt, bei der man sich ganz und gar in Schnörkeln verlieren sollte, ohne zu genau dahinter zu schauen. Denn dort lauert ein etwas trister, sehr standardisierter Tourismus, der es relativ unverblümt auf die Geldbeutel der Marienbad-Besucher abgesehen hat. Ich finde, ehrlich gesagt, das war vor zwanzig Jahren kaum anders; auch die angebotenen Souvenirs sind dieselben geblieben. Mein Mann fand es damals noch spannender und will zurück ins nüchterne Pilsen, wo unser Hotel steht. Aber die Kinder scheinen nicht ganz unzufrieden damit zu sein, sich einem gebauten nostalgischen Rausch inmitten bewaldeter Berge hingegeben zu haben. (Was meine wohlmeinende Interpretation des O-Tons “ja, ist ja ganz schön, kann man sich mal ansehen” ist.)
Mein persönlicher Tipp zum Thema Marienbad lautet: Unbedingt mal für einen Nachmittag hinfahren; der Ort ist einzigartig. Aber dann wieder weg. Denn mit dem Kurstädtchen verhält es sich ähnlich wie mit den Karlsbader Oblaten, die in ihrer Marienbader Version Lázeňské Oplatky heißen: Der erste Biss ist großartig, der zweite von etwas billiger Süße.
Pilsen und Adolf Loos
Pilsen – tschechisch Plzeň – ist ein anderes Kaliber. In den Hotels und der Touristeninformation wird zwar ein beschämend gutes Deutsch gesprochen, aber es ist keine Touristenstadt. Und trotz eines sehr prächtigen zentralen Platzes auch nicht schnuckelig. Die Schätze von Pilsen finden sich zum einen in den Biergläsern, zum anderen im Verborgenen.
Pilsen hatte bis zum Zweiten Weltkrieg eine bedeutende jüdische Gemeinde; die Pilsener Synagoge ist eine der größten der Welt und eines der berühmtesten Bauwerke der Stadt. In der Zwischenkriegszeit gab es unter den wohlhabenden jüdischen Familien von Pilsen eine bemerkenswerte Inneneinrichtungs-Mode. Diese Mode hieß Adolf Loos. Der aus dem slowakischen Brünn stammende Architekt war ein früher Vertreter eines modernen Funktionalismus; seine Schrift “Ornament und Verbrechen” von 1908 ist bis heute berühmt. Ausgerechnet er wurde zum bevorzugten Architekten eines Pilsener Bürgertums, das gleichzeitig kulturell aufgeschlossen war und repräsentativ wohnen wollte. Loos errichtete in Pilsen keine Bauwerke, aber er gestaltete das Innere einer Reihe von Wohnungen, von denen heute vier zu besichtigen sind.
Modernes Design mit Kindern?
Wie Loos moderne Ideale mit luxuriöser Eleganz zu verbinden wusste, zeigt die in den Jahren 1930 und 1931 eingerichtete Wohnung der Industriellenfamilie Kraus auf ziemlich eindrucksvolle Weise. Statt auf schmückendes Beiwerk setzte der Ornament- und Schnörkel-Feind Loos auf die Ausstrahlung von Materialien, auf die Strukturen von Hölzern und Steinen, auf Farbkontraste und nicht zuletzt auf einander gegenüberliegende Spiegelwände, die Räume optisch vergrößerten – ein Effekt, auf den schon die Architekten des Spiegelsaals von Versailles gesetzt hatten.
Wer bis hierhin gelesen hat, stellt sich jetzt vermutlich die Frage, ob man sich solche architektonischen Attraktionen wirklich mit Kindern antun muss. Die Frage ist nicht ganz unberechtigt: Kleinen Kindern bringen solche Sehenswürdigkeiten wenig, aber wir haben eine Vierzehn- und eine So-gut-wie-Elfjährige, und obwohl ihnen anderthalb Stunden in zwei Loos-Wohnungen definitiv zu lange waren, haben sie einiges an Eindrücken und Ideen mitgenommen. Allerdings nicht zuletzt dank der flexiblen Führerin, die außerplanmäßig Deutsch sprach – regulär werden die Touren auf Englisch und Tschechisch angeboten.
Funktionalistische Zauberlösungen, die bei jedem noch so winzigen Detail das Wohlbefinden und den reibungslosen Alltagsablauf der Bewohner ebenso im Auge haben wie bestimmte ästhetische Ansprüche, können für Jugendliche in der Tat interessant sein – vor allem, wenn es um so bemerkenswerte Dinge wie auf das Schuheanziehen zugeschnittene Sitzmöbel geht. Oder um Einbauschränke für sämtliche Lebenslagen und genial ins Mobiliar integrierte Dinge wie Klappspiegel. Einen extremeren Kontrast zu der verschnörkelten Marienbader Dekorationswut kann es kaum geben; die Welt in der Loos-Wohnung ist eine spürbar andere als unter den Marienbader Kolonnaden.
Das Schicksal der Auftraggeber des Loos-Intérieurs ist eng mit der Geschichte des Nationalsozialismus verknüpft: Die Ehefrau und die beiden Kinder kamen im Konzentrationslagern ums Leben; einzig Ehemann Vilém Kraus überlebte die Nazizeit. Auch das sind Tatsachen, die am Verständnis unserer Kinder nicht vorbeigehen.
Infos zu den Adolf-Loos-Wohnungen in Pilsen und zu den Besichtigungsmöglichkeiten gibt die Stadt Pilsen auf einer eigenen Website: https://www.adolfloosplzen.cz/
Warum ich mit meinen Kindern Bauwerke anschaue
Ich selbst habe das Thema Architektur für mich entdeckt, indem ich durch Räume gegangen bin – Kirchen, Wohnhäuser, Bürogebäude, Museumsbauten. Für die unterschiedlichen Empfindungen, die unterschiedliche Räume in einem auslösen, benötigt man keine Theorie und kein Mindestalter. Da es mir in unserer ziemlich durchdesignten Umwelt wichtig erscheint, dass die Kinder sensibilisiert werden für den Einfluss, den das Gebaute auf unser Lebensgefühl hat, nehme ich sie gerne mit in unterschiedliche architektonische Welten – so wie in Marienbad und in Pilsen.
Waldsassen in der Oberpfalz: Deckengemälde mit Wehrmachtssoldaten und Rotkreuzschwester
Der wahre architektonische Hammer unser Tschechien-Reise liegt allerdings diesseits der tschechisch-deutschen Grenze und zeitlich hinter den Intérieurs von Adolf Loos. Bei unserer Rückreise bestehe ich auf einem Schlenker zur Dreifaltigkeitskirche Kappl beim oberpfälzischen Waldsassen. Der außergewöhnliche barocke Kirchenbau soll die Dreifaltigkeit symbolisieren, aber nicht seinetwegen sind wir gekommen, sondern wegen eines ungeheuerlichen Ausstattungsdetails, das mir seit zwanzig Jahren nicht aus dem Kopf geht. Damals zeigte mir ein in der Region ansässiges Ehepaar etwas, was es als extremes Kuriosum empfand: Eine Szene der im pseudobarocken Stil gehaltenen drei Deckengemälde stellte Wehrmachtssoldaten in Uniform und eine Rotkreuzschwester dar. Einfach so, als würde es sich um eine Bibel- oder Heiligengeschichte handeln. Googelt man nach diesem Gemälde, tut man sich schwer. Die Kirche taucht im Internet vielfach als beliebter Wallfahrtsort auf, ohne dass ihre schräge Ausgestaltung irgendwie Erwähnung fände.
Der Maler Oskar Martin-Amorbach ist für diese Seltsamkeit zuständig. Nach einem Brand gestaltete er die Deckengemälde der Kirche zwischen 1934 und 1940 neu. Er wollte auf dem Kuppelsegment Werke der Barmherzigkeit abbilden, und da Martin-Amorbach ein gutes Verhältnis zu den deutschen Machthabern dieser Zeit, zu ihrer Ideologie und ihrer Kunstauffassung pflegte, fanden die in heroisch-militärischer Gestalt an den Kirchenhimmel. Da hängen sie heute noch, und außer uns scheint sich selten jemand darüber zu wundern. Dass Gebäude ziemlich viel Message in sich tragen können, wird für die Kinder allerspätestens hier deutlich.
2 Comments
Lena
Ist ja krass, das Soldatengemälde!
In Marienbad waren wir früher ein paar mal, kurz nach der Jahrtausendwende. Im Sommer wollen wir in die Slowakei und einen Abstecher nach Prag einlegen. Mal sehen, ob wir es auch noch nach Marienbad und Pilsen schaffen, aber ich fürchte, das wird zu knapp.
Maria-Bettina Eich
Hallo, Lena,
ja, es ist krass, und fast genauso krass finde ich die Tatsache, dass diese Bilder einfach so mit größter Selbstverständlichkeit hingenommen werden. Natürlich meine ich nicht, dass man sie übermalen sollte oder ähnliches, als Zeitzeugnisse sind sie unbezahlbar, aber doch irgendwie kommentieren, einordnen, thematisieren.
Slowakei klingt gut. Falls Ihr doch in Pilsen halt macht: Im Sommer ist die Synagoge zur Besichtigung offen, die lohnt sich bestimmt!
Viele Grüße,
Maria