Lange stand der buddhistische Klosterberg Kōya-san auf der Liste meiner Reiseträume. Jetzt wurde er erfüllt: durch zwei Nächte in einem Tempel und unvergessliche Spaziergänge durch eine andere Realität.
Der Weg ist nicht das Ziel, aber auch sehr schön

Man fährt nicht einfach mal schnell auf den heiligen Berg. Man nähert sich ihm an. Klassischerweise mit dem Zug von Osaka, denn der Kōya-san ist auf der Kii-Halbinsel gelegen, die sich südöstlich von Japans zweitgrößter Stadt ins Meer erstreckt. Von Osaka nimmt man den Zug an einen Ort mit dem Namen meiner Schilddrüsenkrankheit. Dort, in Hashimoto, fährt eine kleine Bahn durch das üppige Grün der Provinz Wakayama nach Gokurakubashi. Letzteres ist kein Ort, sondern ein winziger Bahnhof im Wald, der einzig den Umstieg in die Seilbahn dient. Sie bringt einen schließlich auf den Berg Kōya hinauf. Das klingt einigermaßen umständlich, ist aber äußerst bequem. Schließlich sind wir in Japan, wo jede Zugverbindung mühelos funktioniert.

Für meine Freundin und mich ist die Reise zum legendären Klosterberg trotzdem ein kleines Abenteuer – bis uns auf der vorletzten Etappe unserer Fahrt ein volles Bähnchen mit fröhlichen Tagestouristen entgegenkommt. Schlagartig schwindet unser Pionierinnenstolz. Der heilige Berg der Buddhisten kein Geheimtipp, sondern ein beliebtes Ausflugsziel.
Übernachten und essen im Tempel: für zwei Nächte im Soji-in

Wir, die wir in der Dämmerung ankommen, reisen offenbar antizyklisch. Wir haben zwei Übernachtungen im Kloster Soji-in gebucht. Treten durch ein Holztor in einen begrünten Innenhof, werden schon erwartet, mit einem Tee begrüßt, in ein großes Zimmer mit Tatamimatten und Futonbett geleitet. Sodann bittet man uns zum Abendessen.

Shojin Ryori. Wir hatten davon gehört. Die traditionelle buddhistische Tempelküche, immer vegetarisch, nicht selten vegan. In einem Speisesaal nehmen wir Platz, ein Tisch ist für uns vorbereitet, und dann beginnt etwas, was ich nach langem Nachdenken über den passenden Begriff vielleicht als kulinarische Kunst-Performance mit spiritueller Note bezeichnen würde.

In zügiger Folge entstehen immer neue Bilder auf dem Tisch vor uns. Arrangements aus zahllosen kleinen Speisen auf ausgewähltem Geschirr. Jeder Biss eine andere Erfahrung, der wir mit fast kontemplativer Konzentration nachspüren. Gemüse, auf unterschiedlichste Weise zubereitet, Klößchen von abwechslungsreicher Konsistenz, ein Hotpot mit Rettich, Karotten, Tofu in einer Miso-Sake-Brühe. Alles serviert von dynamischen, freundlichen Mönchen.


Ich war gespannt gewesen auf Japans Klosterküche. Doch ein Feuerwerk dieses Niveaus hatte ich nicht erwartet. Der Speisezettel hält ein interessantes Detail parat: Er erwähnt den Namen des Küchenchefs. Den würde man in einem mönchisch-bescheidenen Umfeld nicht unbedingt vermuten. Natürlich googeln wir ihn. Und stellen fest: Toru Kawakami ist kein Unbekannter. Seine Gerichte erschienen schon im Fernsehen, in Magazinen, in einem Manga. Wir hatten im Vorfeld keine Ahnung. Und haben vor Ort riesiges Glück.
Nachtleben in Kōya

Glück haben wir auch mit dem antizyklischen Zeitpunkt unseres ersten Spaziergangs durch den Ort Kōya. Es ist stockdunkel, außer uns ist kaum jemand unterwegs, dafür leuchtet eine zinnoberrote Pagode aus der Nacht. Unversehens sind wir auf dem zentralen Tempelkomplex Danjo Garan gelandet.

Es ist magisch hier. Still. Und erfüllt von einem Leben anderer Art.
Morgens im Haupttempel Kongobu-ji

Im Kloster steht man früh auf. Ich besuche die Sutren-Rezitation der Mönche, auf die eine Ansprache durch einen älteren Priester, vielleicht den Abt, folgt. Dass ich nichts verstehe, ist kein Wunder. Die Überraschung besteht in einem Mönch in Zivil, der sich mir als gebürtiger Amerikaner vorstellt und auf Englisch den Sinn der Ansprache zusammenfasst.
Es gibt mehr als 100 Tempel auf dem heiligen Berg – früher waren es über 2000. Wir beginnen unseren Kōya-Tag mit der Besichtigung des wohl bedeutendsten unter ihnen: dem Kongobu-ji. Säle mit wundervoll bemalten Schiebetüren, ein Steingarten, der als der größte Japans gilt, immer wieder stille grüne Innenhöfchen, überall die einzigartige Verbindung von Innen und Außen, die die japanische Architektur dank ihrer Kombination von Schiebetüren und Engawa bietet: der schmalen Veranda, die oft genug um ganze Häuser herumläuft.


Alte Holzböden knarzen unter uns, wir versinken in der Atmosphäre dieser Anlage und wissen uns bei ihrem Verlassen privilegiert: Als wir gehen, kommen große Gruppen von Tagestouristen. Mit der meditativen Stille ist es jetzt vorbei. In Kōya zu übernachten, lohnt sich nicht nur aus kulinarischen Gründen.
Zeitenthoben: Auf dem Waldfriedhof Okuno-in

Meine Freundin un dich flanieren durch den Ort. Hier ein wunderschöner Blick durch Tempeltore, dort ein aufwendig geschmückter Bau. Viel Grün. Außerdem gibt es raue Mengen der kleinen Souvenirlädchen, an denen Japan vielleicht noch ein wenig reicher ist als andere Länder. Ein Streifzug durch die Geschäfte von Kōya lohnt sich besonders dann, wenn man an klassischen, traditionellen Dingen interessiert ist, wie etwa an Räucherwerk und buddhistischen Devotionalien. Doch auch die vielleicht etwas altmodischen Wagashi aus in hübsche Formen gepresstem Wasanbon-Zucker, die ich gerne als Begleitung zum Tee nach Hause importiere und die ich vielerorts vergeblich suche, finde ich in Kōya.

Irgendwann gelangen wir an die Brücke, die in den Okuno-in führt, den großen Waldfriedhof auf dem Kōya-san. Seit dem 9. Jahrhundert existiert diese Stätte mit inzwischen über 200.000 Gräbern. Eine ganz eigene Landschaft aus hohen Bäumen und Stein, überwachsen mit Moos und Flechten, die ihrerseits eine Geschichte vom Vergehen der Zeit und von der Verbindung zwischen Epochen erzählen. Ein zwei Kilometer langer Weg mit unzähligen Abzweigungen führt durch das überzeitlich anmutende Areal, in dem die strikte Trennung von Vergangenheit und Gegenwart auf eine sehr leise Weise aufgelöst scheint.


Ich weiß allzu wenig über die japanischen Begräbnistraditionen. An diesem Ort wäre es schön, hinter die Bedeutung bestimmter Bauwerke, Formen, Skulpturen blicken zu können. Einerseits. Andererseits hat auch die Ahnungslosigkeit ihren Reiz, die mich schauen und staunen lässt, mit Sicherheit zu westlich geprägten Fehlinterpretationen führt, aber dennoch die besondere spirituelle Atmosphäre dieses angeblich größten Friedhofs in Japan aufsaugt.

Sternstunden auf dem Kōya-san


Ähnlich geht es mir mit den großen Sehenswürdigkeiten Kōyas und dem Kloster Soji-in, das uns für zwei Nächte beherbergt. Ich bin nicht gut eingearbeitet in die Kultur dieses Bergs, der zum UNESCO-Welterbe gehört. Die Klosterstadt existiert hier seit dem 9. Jahrhundert, als der Mönch Kūkai sie zum Zentrum der buddhistischen Shingon-Schule machte. Im Laufe der Jahrhunderte erlebte die Stadt ein wechselvolles Schicksal, das eng verknüpft war mit der politischen und religiösen Geschichte Japans.
Der heilige Berg Kōya-san ist seit langem eine wichtige Pilgerstätte mit vielen Klöstern, die Besucher für eine oder mehrere Nächte aufnehmen. So auch der Soji-in, in dem wir logieren, und der, soweit ich recherchieren konnte, im 12. Jahrhundert gegründet wurde. Auf seiner Veranda zu sitzen, durch seine stillen Gärten zu streifen, Japan in diesem spirituellen Kontext zu erleben: Das sind Erfahrungen, für die ich immer dankbar sein werde.

Es spricht ganz und gar nichts dagegen, die Dinge einfach auf sich wirken zu lassen, im Gegenteil. Wir verlassen den Kōya-san sehr glücklich, voller Eindrücke, rundum erfrischt nach vielen Reisetagen in großen Städten. Aber ich käme gerne ein weiteres Mal, um vielleicht eine Ebene tiefer einzusteigen in die kulturelle Fülle eines der außergewöhnlichsten Orte, an denen ich je war.
1 Comments
katl
Wunderschön!!!!