Zuletzt aktualisiert am 14. April 2022 um 22:17

Noch immer leben wir im Pandemie-Modus. Bleiben drinnen, holen uns Inspiration auf Buchseiten und Bildschirmen. Oder gehen spazieren, um wenigstens irgendwie nach draußen zu kommen. In Bayerisch Schwaben verwandelt die John-Pawson-Kapelle ein kleines Stück dieses Draußen in ein Drinnen von konzentrierter Spiritualität, das uns dem Corona-Alltag schlagartig entrückt.

Minimalismus in Holz

John-Pawson-Kapelle
Ein schmaler Raum und eine andere Welt: in der John-Pawson-Kapelle

Aufeinandergeschichtete Baumstämme, so zugeschnitten, dass ein schmaler Blockbau entsteht. An der Frontseite ein ins Holz gesägtes Kreuz, das durch seine Glasfüllung gelbes Licht in den Raum hineinlässt. Ansonsten nur noch eine Fensteröffnung und ein Betonsockel, der teilweise als Bank zu nutzen ist: Mehr braucht der britische Architekt John Pawson nicht für das minimalistische Kunstwerk, das er für einen Hügel beim Dörfchen Unterliezheim in Bayerisch Schwaben entworfen hat.

Die Sieben Kapellen im schwäbischen Donautal

John Pawson, Sieben Kapellen
Nach dem japanischen Prinzip der “geborgten Landschaft” fällt der Blick hier ins Bayerische

Dass ein Weltberühmter wie John Pawson in einer solchen zwar bukolischen, ansonsten aber selbst für die Verhältnisse der deutschen Provinz recht entlegenen Gegend baut, hat mit einem Projekt namens Sieben Kapellen zu tun. 2016 wurde die Siegfried und Elfriede Denzel Stiftung gegründet, die bei sieben Architekten Wegkapellen für das bayerisch-schwäbischen Donautal in Auftrag gab. Die Bauten wurden zwischen 2018 und 2020 entlang von Radwegen errichtet: einerseits eine Reminiszenz an die Wegenetze früherer Epochen, die nach religiösen Orientierungspunkten ausgerichtet waren, andererseits eine Aufforderung zum Innehalten.

Der große Architekt und sein Holzstapel

John Pawson "Wooden Chapel"
An Schlichtheit schwer zu überbieten: Fensteröffnung in der John-Pawson-Kapelle

Jede einzelne dieser Kapellen ist auf Wunsch der Stifter aus Holz gebaut und verfügt über ein Kreuz, alle sind in die Natur eingebettet. Die 2018 fertiggestellte “Wooden Chapel” von John Pawson verhält sich dabei am konsequentesten: Mit einem “Stapel von Holzstämmen, die zum Trocknen aufgeschichtet sind” hat Pawson das Erscheinungsbild seiner Kapelle verglichen. Sie ist kein Fremdkörper hier am Waldsaum, sondern eher so etwas wie die Fortsetzung der Natur mit anderen Mitteln: ein Stückchen Landschaft, in einen schmalen spirituellen Raum von sieben Metern Höhe und neun Metern Länge verwandelt.

Meditatives Ausflugsziel

John Pawson Unterliezheim
Die natürliche Struktur von Holz reicht vollkommen aus als spannende Ornamentik

Die Kapelle wird besucht. Fahrradfahrer kommen. Und Leute wie wir, die irgendwo in der Nähe der John-Pawson-Kapelle ihr Auto stehen lassen und zu Fuß weitergehen. Ein diskreter kleiner Parkplatz findet sich sogar neben dem Bau. Leer ist es zumindest an einem sonnigen Sonntagnachmittag wie dem, den wir uns für unseren Besuch aussuchen, nicht. Und trotzdem ist es still rund um diesen unprätentiösen Quader, der zwischen der Weite der Hügellandschaft und der Heimeligkeit des Waldes von der Schönheit und Wärme des Holzes erzählt. Sowohl außen als auch innen sorgen die Schnittflächen der verwendeten Douglasien-Stämme mit ihren Formationen und Jahresringen für eine archaische Naturornamentik, die etwas von der Essenz des Waldes zu transportieren scheint.

Inspiration durch Konzentration

Sieben Kapellen
Ein Raum, der einen schlagartig dem Alltag entrückt

Wir bewundern die Farbtöne und die Formen der Stämme, fassen sie an, genießen den Holzgeruch. Ganz automatisch fokussieren wir uns auf Dinge, die weit entfernt sind vom Alltag. Wir betrachten, wie das Licht durch Öffnungen unter dem Dach, durch die Fensteröffnung und das bernsteinfarbene Glas des Kreuzes in den Raum einfällt und ihn je nach Wetter und Tageszeit verändert. Schon zwischen meinen ersten Minuten in der Kapelle am frühen Nachmittag und meinem zweiten Besuch eine Stunde später, als viele Ausflügler schon wieder verschwunden sind und ich den Raum für mich allein habe, verwandelt sich die Atmosphäre. Wie mag es erst im Winter sein oder am Abend? Im Morgenlicht? Bei Gewitter? In Zeiten, in denen Attraktionen Mangelware sind, ist die John-Pawson-Kapelle ein sinnliches Lehrstück zum Thema Inspiration durch Konzentration: ein spirituelles Mikroabenteuer in Zeiten von Corona.

Die John-Pawson-Kapelle als Glücksort für Japanophile

John Pawson in Bayern
Tee passt immer, aber an wenigen Orten so gut wie hier

Die John-Pawson-Kapelle ist auch und gerade für Japanophile das pure Glück. Bevor Pawson überhaupt auf die Idee kam, sich der Architektur zu widmen, reiste er nach Japan, verfiel der traditionellen japanischen Ästhetik, begeisterte sich für den Buddhismus. Das sieht man seiner “Wooden Chapel” an. Der Minimalismus, die meditative Ruhe, das Naturmaterial und der Einfluss der sich wandelnden Tages- und Jahreszeiten auf den Charakter des Raums: Alle diese Qualitäten machen den Ausflug in die Kapelle in Unterliezheim in Landkreis Dillingen zu einem kleinen mentalen Japan-Trip. Wenngleich die “geborgte Landschaft”, die hier nicht wie in Japan durch Schiebetüren, sondern durch eine Fensteröffnung gerahmt wird, ein sehr typisches Stück Süddeutschland zeigt und nicht den leisesten Hauch von Fernost besitzt.