Zuletzt aktualisiert am 5. Juli 2022 um 22:14
Sobald die ersten Augusttage vorbei sind, wird es in Finnland spürbar spätsommerlich. Und noch stiller, als es vorher schon war. Am Pielinen-See in Nordkarelien haben wir uns für ein paar Tage dem So-gut-wie-nichts-Tun hingegeben, umgeben von Grün, Holz und Wasser: den Elementen, die hier alles zu prägen scheinen. Auch die unaufdringlichen Anlaufpunkte, die einen erfreuen, wenn man das Ferienhaus am See mal verlässt.
Finnischer Zen ist grün
Birkenwälder. Nadelwälder. Sonnenuntergang über dem See. Kräuselwellen an einem windigen Morgen. Ferienhäuser aus Holz, Cafés aus Holz. Wenn man ein paar Tage lang nichts anderes gesehen hat, dann verändert sich das Auge. Zumindest das innere. Es stellt sich auf Grün ein, produziert mentale Grün-Bilder selbst dann, wenn man das physische Auge schließt, und beeinflusst das Seelenleben dadurch auf eine Weise, die mal jemand untersuchen sollte. Binnen einer überschaubaren Anzahl von Stunden entsteht ein Mindset, das zwischen psychedelischem Grün-Rausch und Zen schwankt. Ein orangefarbener Pilz sticht in die Augen wie andernorts Neonreklamen. Ob sich die Finnen immer so fühlen? Im übrigen können wir den Pilzen hier tatsächlich beim Wachsen zusehen. Jeden Tag schauen sie etwas weiter aus dem Boden heraus.
Vom Boot zum Café und wieder zurück
An einem Regentag beschließen wir, den Mietwagen ein paar Kilometer wegzubewegen von unserem Ferienhaus am Pielinen-See. Wir fahren zum Café Mandala auf der Mattila-Farm. Eine Blogleserin hat mir den Tipp gegeben – vielen Dank an dieser Stelle dafür! Das große Hauptgebäude der Farm, auf der man auch übernachten kann, ist aus rotem Holz und hat mehrere Veranden, an seinen Seiten nicken absolut filmreife Sonnenblumen. (Kaurismäki meets David Lynch; in der Hauptrolle: Inger Nilsson.)
Wir tauschen die stressfreie Entspannung unseres Ferienhauses – auf Finnisch: Mökki – für ein paar Stunden gegen die stressfreie Entspannung in einem alternativ-idyllischen Hofcafé ein, wo uns nette Menschen den Weg zum köstlichen Büffet mit vorwiegend zeitgemäß-veganen Speisen weisen. Die Rote-Bete-Suppe mit Feta wird bei uns vom einzigen männlichen Familienmitglied bis heute gelegentlich nachgekocht. Der Rückweg zu unserem Ferienhaus führt uns durch diverse Grünstufen immer haarscharf am Rand des Koli-Nationalparks entlang. Man könnte dort wandern und sogar auf den gleichnamigen Berg steigen. Das wird überall wärmstens emfpohlen; man soll von oben eine legendäre Sicht auf den Pielinen-See haben. Wir verzichten. Vielleicht kommen wir ja mal wieder. Ein paar Schritte vom Ferienhaus entfernt haben wir auch eine tolle Sicht auf den Pielinen-See. Inklusive Boot. Bevor wir einen finnischen Berg besteigen, müssen wir erstmal lernen, uns halbwegs würdig in einem finnischen Boot vorwärtszubewegen. Boote sind in diesem Land definitiv obligatorischer als Berge.
Slow Travel um den See herum
Dafür gönnen wir uns den Blick auf den Pielinen-See von der unserem Ferienhaus gegenüberliegenden Seite. Um ans Ostufer zu gelangen, müssen wir erneut eine Wegstrecke im Auto zurücklegen; diesmal eine gar nicht so kurze, denn der Pielinen ist der viertgrößte See Finnlands, und die Straßen, die um ihn herumführen, sind nicht überall asphaltiert. Slow Travel mit Erschütterungen. Beim ersten Stopp: anderes Licht, lichtere Wälder, größere Steine und mehr Wellen als auf unserer Seite. Finnische Abwechslung.
Die Welt der Eva Ryynänen: Wo Natur und Kultur verschmelzen
Natur, so weit das Auge reicht. Natur auch dort, wo es um Kultur geht. Mitten im Grün, direkt am See, finden wir nach ein paar Umwegen Paateri. Hier hat die Holzbildhauerin Eva Ryynänen viele Jahre lang gelebt. 1915 wurde sie geboren, 2001 starb sie. Nach ihrem Kunststudium heiratete Eva Ryynänen einen Bauern aus dem Osten Finnlands, mit dem zusammen sie in Paateri als Landwirtin arbeitete. Wenn sie Zeit hatte, tat sie, was sie schon als Kind getan hatte: Sie fertigte Figuren aus Holz. Meistens welche, die mit der Natur und der Mythologie ihrer Heimat zu tun hatten. Viele von ihnen kann man heute in Paateri im Atelier von Eva Ryynänen sehen.
Ein paar Schritte vom Atelier entfernt steht eine kleine Kirche: Gefertigt aus Holzstämmen, wirkt der Bau, als würde er zusammen mit den Nadelbäumen aus dem waldigen Gelände von Paateri wachsen. Eva Ryynänen hat diese Kirche 1991 fertiggestellt. Ihr Inneres wird von natürlichen Holzformationen bestimmt, als Zierde dienen geschnitzte Waldtiere und -blumen. Eine gigantische Baumwurzel mit einer Glasscheibe bildet den Altar. Der schlichte Raum mit den hölzernen Elementen, die so gearbeitet sind, dass man die Spuren ihrer Herkunftsbäume von ihnen ablesen kann, ist von stiller Spiritualität; Folklore und christliche Motive spielen ineinander. Zur Naturmystik ist es in dieser Gegend immer nur ein kleiner Schritt.
Auch das Wohnhaus, in dem Eva Ryynänen und ihr Mann lebten, scheint direkt in den Wald hineingewachsen – und der Wald scheint in seinem Inneren weiterzuwachsen. Das Äußere ist so gestaltet, dass es Blicke auf Bäume und See freigibt; Möbel und Dekorationsobjekte hat die Bildhauerin in ihrer typischen naturverbundenen Handschrift aus Holz gearbeitet.
Eva Ryynänens Skulpturen stehen nicht in den großen Museen dieser Welt. Aber hier, am Pielinen-See, sind ihre Kunstwerke von großer Überzeugungskraft.
Karelisches Holz
Nicht weit vom Anwesen der Künstlerin, im Ort Lieksa, führt das Pielinen-Freilichtmuseum seine Besucher in die historischen Tiefen der ostfinnischen Holzarchitektur. Wen wundert es, dass man in dieser Gegend vornehmlich in Blockhäusern wohnte?
Der Pielinen-See liegt im Norden von Karelien, einer Region, die bedeutend ist für das kulturelle Selbstverständnis der Finnen und reich an folkloristischen Traditionen. Der größte Teil des im Laufe seiner Geschichte immer wieder umkämpften Karelien liegt heute jenseits der Grenze, in Russland. Vor unseren Tagen am See haben wir das Carelicum in der finnischen Stadt Joensuu besucht, ein Museum, das sehr viel zeigt und erzählt über die Kultur und Geschichte Kareliens. Ein solches Museum ist wichtig, denn in Finnlands freier Wildbahn findet man nicht mehr viele Spuren der karelischen Traditionen. (Zu unserer schönsten Entdeckung im russischen Karelien geht es hier.)
Bemüht hat man sich in Nurmes, am Nordende des Sees. Dort steht das Bomba-Haus, erbaut nach einem historischen Vorbild und Zentrum eines Feriendorfes im karelischen Stil. Die Anlage ist hübsch mit ihren ornamentreich verzierten Fenstern, Balkonen und Dächern. Im Grunde ist es schön, dass es solche Rekonstruktionen gibt. Wir sind trotzdem froh, dass wir statt in einem Feriendorf in der Stille des Waldes wohnen, psychedelisches Grün auf der Netzhaut, unseren privaten Sonnenuntergang vor den Augen, im Ferienhaus eine Sauna: Northern Comfort.
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