Zuletzt aktualisiert am 4. April 2019 um 17:26

Eine Insel in Russland, UNESCO-Weltwunder, fixe Idee: Um auf die Insel Kishi im Onegasee zu kommen, haben wie einen weiten und umständlichen Weg auf uns genommen.

Kishi? Was ist Kishi?

Onegasee

Blick auf den Onegasee – vom Glockenturm der Insel Kishi

Eines Tages, fünf Jahre, bevor wir uns auf die Reise machten, erschien mir die Insel Kishi als russische Fata Morgana auf den Seiten einer Zeitschrift (wozu ich hier mehr erzähle): Ein grasbewachsenes Fleckchen Land inmitten eines nordischen Sees, auf dem sich märchenhafte Kirchen mit unzähligen Zwiebeltürmen erhoben – Zwiebeltürmen, die auf eine ganz eigenwillige Weise schimmerten, obwohl sie wie der Rest dieser Kirchen komplett aus Holz bestanden.

Das unfassbarste der hölzernen Wunderwerke von Kishi, so las ich, war die 1714 erbaute achteckige Verklärungskirche mit ihren 22 in Pyramidenform übereinandergeschichteten Kuppeln. Außerdem gab es noch die Winterkirche Mariä Schutz und Fürbitte von 1764 , in der man während der langen kalten Winter des russischen Nordens Gottesdienste abhielt, und einen 1874 errichteten Glockenturm. Zusammen bildeten sie Kishi Pogost, wobei sich die Bezeichnnung “Pogost” auf ihre Eigenschaft als von einer Holzumfriedung eingefasstes Ensemble bezog. Seit 1990 gehörten die drei Bauten zum UNESCO-Welterbe.

Eine fixe Idee und ihre Folgen

Die Kirchen von Kishi

So sieht Kishi Pogost im Idealzustand aus – auf Wikimedia Commons / (c) Matthias Kabel

Dieses Kishi hatte etwas Zauberhaftes, Exotisches, Mystisches, und mit einer Gefühlswallung, die ich mir bis heute nicht richtig erklären kann, dachte ich: Wenn ich dort nur irgendwann im Leben einmal hinkommen könnte! Ich fing an, Google zu befragen. Erfuhr, dass die Insel Kishi (die im Englishen Kizhi geschrieben wird und im Deutschen oftmals Kischi, was allerdings fälschlicherweise eine stimmlose Aussprache suggeriert) im Onegasee in der autonomen russischen Republik Karelien liegt, ziemlich weit entfernt von allem, was man üblicherweise auf dem touristischen Schirm hat.

Karelien, dachte ich, Karelien ist eine Region, die sowohl zu Russland als auch zu Finnland gehört. Vielleicht konnte man von finnischer Seite Tagestouren auf die Holzkircheninsel buchen, die ja immerhin UNESCO-Weltkulturerbe war? Fehlanzeige. Kishi schien unerreichbar in irgendwelchen geographisch entlegenen, infrastrukturell unerschlossenen Sümpfen zu liegen; zugänglich allenfalls für Teilnehmer sehr spezieller Gruppenreisen. Nichts für uns; schon gar nicht mit Kindern im Gepäck.

Nach Kishi!

Tragflügelboot auf die Insel Kishi

Da steht es, schwarz auf gelb am Fenster des Bootes und in kyrillischer Schrift: Kishi

Aber die Kinder wurden älter und abenteuerlustiger. Die Eltern auch, wenngleich auf einem anderen Level. Kishi hatte sich als fixe Idee in meinem Hirn festgebrannt. Für den Sommer 2017 plante ich einen Familientrip mit den mittlerweile zwölf- und 16-jährigen Töchtern von Helsinki nach Sankt Petersburg, Russisch-Karelien und Finnisch-Karelien. Inklusive Kishi.

Letzteres bedeutete: Wir mussten in die Stadt Petrosawodsk, denn von dort aus fahren zwischen Mitte Mai und Ende August regelmäßig Tragflügelboote auf die Insel Kishi. Petrosawodsk ist die Kapitale der autonomen russischen Republik Karelien und hat immerhin 260000 Einwohner. Wir hatten zuvor nie von der Stadt gehört. Um nach Petrosawodsk zu kommen, besteigen wir in Sankt Petersburg den spektakulärsten Zug, mit dem wir je gereist sind. Er heißt Arktika, fährt in Richtung Murmansk und scheint ganz und gar einer versunkenen Zeit zu entstammen. An anderer Stelle auf diesem Blog erzähle ich mehr davon.

Off the beaten path? Denkste, du engstirniger Westeuropäer!

Petrosawodsk Onegasee

Die Uferpromenade des Onegasees in Petrosawodsk. Der große weiße Bau ist unser Hotel

Petrosawodsk - Kishi mti dem Tragflügelboot

Die Kishi-Tragflügelboote im Hafen von Petrosawodsk

In Petrosawodsk gibt es Sushi-Restaurants und eine Filiale einer von unseren Töchtern geschätzten Modekette. Wir sind trotz der märchenhaften Zugreise nicht in ein gottverlassenes, von der Zivilisation vergessenes Stück Nordrussland geraten, sondern in eine recht moderne, durchaus angenehme mittlere Großstadt. Unsere Bleibe direkt am Seeufer, das Onego Palace Hotel, ist groß, komfortabel und amerikanischen Hotels nicht unähnlich.

Und Ausflüge auf die Insel Kishi sind nicht halb so exotisch, wie wir uns das von Deutschland aus gedacht hatten. Am Hafen von Petrosawodsk liegen jede Menge der grünen Tragflügelboote, die Touristen zu den Holzkirchen bringen. Als wir einsteigen, sind wir Teil einer gut organisierten Menschenschlange; das nächste Boot startet kurz nach unserem. Woraus wir lernen: Der Tourismus dieser Welt ist noch nicht vollständig globalisiert, und nur weil ein Ziel von wenigen Westeuropäern angesteuert wird, ist es deshalb lange nicht spärlich besucht.

Mit dem Tragflügelboot von Petrosawodsk auf die Insel Kishi

Onegasee

Nordische Schönheit: Der Onegasee

75 Minuten dauert die Fahrt mit dem Tragflügelboot, das uns von Petrosawodsk nach Kishi bringt. Man kann die Bootstour vor Ort buchen; wir haben jedoch vorab in ein Komplettpaket mit Überfahrt und individuell geführter Inseltour investiert. Die Wasserfläche, über die wir fahren, erstreckt sich weit um uns her; der Onegasee ist der zweitgrößte See in Europa. Hin und wieder kommen wir an Inselchen mit Gras und Kiefern vorbei, die Landschaft ist flach, der Himmel mal grau, mal blau und riesig: Unserer beschränkten westeuropäischen Erfahrung nach könnte das hier Skandinavien sein.

Kizhi Island

Märchenkirchensilhouette vor grauem Himmel

Und dann, plötzlich, erscheint die Silhouette von Kishi Pogost im Blickfeld: eine Fata Morgana vor grauem Himmel, zauberhaft, aber auch etwas anders als auf den bekannten Bildern. Die oberen Kuppeln der berühmten Verklärungskirche scheinen über dem Korpus des Baus zu schweben, gehalten nur durch ein filigranes Holzgerüst.

Wir steigen vom Boot, laufen im Pulk an Andenkenläden vorbei und kommen zum – polizeibewachten – offiziellen Zugang zur Insel Kishi, die als Ganzes ein Freilichtmuseum ist. Zusätzlich zu den Kirchen von Kishi Pogost und den bäuerlichen Blockhäusern, die schon immer hier standen, sind seit 1951 weitere traditionelle Holzbauten aus ganz Karelien auf die kleine Insel im Onegasee versetzt worden, um an diesem Ort für die Nachwelt erhalten zu werden.

Kishi Pogost wird restauriert

Restaurierung Verklärungskirche Kishi

Die Verklärungskirche mit abmontiertem Mittelteil

Der Kishi-Tourismus ist bestens organisiert. Wir werden aufgerufen und treffen Lidia, die uns über die Insel führt. Lidia studiert Germanistik und spricht ein glänzendes, stellenweise etwas altmodisch eingefärbtes Deutsch. Sie verbringt die Sommersaison regelmäßig als Guide auf der Insel. Zum ersten Mal, sagt sie, hat sie Kishi als kleines Mädchen besucht, und schon damals war die Restaurierung des Kirchenensembles im Gange. Meine leise touristische Enttäuschung über die Unvollständigkeit der Verklärungskirche, deren spektakulärer Kuppelwald sich augenblicklich zu großen Teilen in der Werkstatt befindet, wandelt sich in Beschämung über meinen Egoismus.

Kishi: Schreinerkunst

Jede einzelne Schindel wird von Hand mit der Axt gearbeitet

Kuppel Kishi

Unsere Führerin mit dem Modell einer Espenholz-Kuppel

Die Bauten von Kishi, so erfahre ich später, waren gefährlich vom Verfall bedroht und werden in einem groß angelegten Projekt von Grund auf restauriert – unter Hinzuziehung internationaler Experten sowie kundiger russischer Handwerker. Die Arbeit ist komplex, denn die Kirchen von Kishi gelten als Meisterwerke der Schreinerkunst. Immer wieder ist zu lesen, sie seien ohne jeden Nagel erbaut worden, aber Lidia nimmt uns diese Illusion: Nägel gebe es sehr wohl, aber nur hölzerne. Gearbeitet wurden alle Details der Kirchen mit der Axt; Sägen verwendete man zur Zeit ihrer Erbauung in Karelien nicht. Das heißt: Jede einzelne Schindel jeder einzelnen Kuppel muss auch heute, im Zuge der Restaurierung, von Hand mit der Axt gehauen werden. Hier und da kann man den Handwerkern zusehen. Sie verbringen wie Lidia den ganzen Sommer auf der Insel.

In der Winterkirche

Insel Kishi: Winterkirche Mariä Schutz und Fürbitte

Die Kuppeln der Winterkirche Mariä Schutz und Fürbitte

Wenn wir zu einem nicht-idealen Moment für die Verklärungskirche nach Kishi gekommen sind, so ist der Zeitpunkt unseres Besuchs andererseits ideal für die kleinere Winterkirche. Deren Kuppeln sind zwar nicht so zahlreich wie die der großen Schwester, aber sie wurden nach dem gleichen Muster gefertigt und besitzen denselben silbrigen Schimmer, der sich dem Espenholz ihrer Schindeln verdankt.

Kishi: Winterkirche Mariä Schutz und Fürbitte

Hier wurden die Gottesdienste in den kalten karelischen Wintern abgehalten

Kishi: Ikonostase Winterkirche

Die hölzerne Ikonostase der Winterkirche

Außerdem kann man die Winterkirche betreten, was im Verlauf der Restaurierungsarbeiten nicht immer möglich war. Ein kleiner mönchischer Chor singt einige Lieder, um zu Spenden für den Aufbau der Insel zu animieren, und Lidia erklärt uns die Eigenheiten der hölzernen Ikonostase, die wohl einige Spuren der regionalen Volkskunst trägt. Nach unseren fünf Tagen in Sankt Petersburg wirft uns die Pracht russisch-orthodoxer Kirchen nicht mehr sofort um, aber diese hier ist in ihrer Intimität ein ganz besonderer Ort.

Kishi als Freilichtmuseum

Insel Kishi: Haus Oshevnev

Das Haus Oshevnev wurde 1876 für wohlhabende Bauern erbaut

Freilichtmuseum Kishi

Blick von der Veranda des Bauernhauses

Nach der Kirche kommen die Bauernhäuser, Lidia hat einen klaren Plan. Sie führt uns in das Haus Oshevnev, das wohlhabende Bauern 1876 erbauten – in traditioneller karelischer Holzarchitektur und mit einer barocken Ornamentik, die man sich im prächtigen Sankt Petersburg abgeschaut hatte.

Karelische Ornamente

Karelische Ornamente sehen auf beiden Seiten der russisch-finnsichen Grenze ähnlich aus

Es ist gut, dass wir Lidia dabeihaben. Während wir die historischen Wohnräume anschauen, stellen wir ihr jede Frage, die uns in den Sinn kommt. Für unsere Töchter ist der Rundgang mit einer russischen Studentin um einiges spannender als eine Gruppenführung. Ganz ohne Guide wären wir hier in Anbetracht unserer fehlenden Russischkenntnisse aufgeschmissen gewesen.

Kunsthandwerk und Reenactment

Insel Kishi: Russisches Holzspielzeug

Traditionelles russisches Holzspielzeug wird vor Ort gefertigt und verkauft

Wie an vielen historischen Orten versucht man auch auf dieser russischen Insel, die Tradition lebendig zu halten. Eine Kunsthandwerkerin fertigt Stickereien mit karelischen Ornamenten, ein Tischler schnitzt hölzerne Spielzeugfiguren. Wenige Tage zuvor haben wir ähnliche Holzpuppen und -tiere im Russischen Museum in Sankt Petersburg gesehen.

Kizhi: Reenactment

Heuernte wie in einem russischen Roman aus dem 19. Jahrundert

Sogar Reenactment gibt es auf Kishi: Eine Gruppe junger Russen hat sich in historische Gewänder gekleidet und erntet Heu in einer Szenerie, die dem 19. Jahrhundert entstammen könnte. Dahinter stehen, so Lidia, Historiker, die das traditionelle Leben in Karelien erforschen. Ich werde wohl nie wieder etwas sehen, was meinen Vorstellungen von einem mythischen Russland so nahekommt wie diese Heuernte.

Ein stiller Ort im Norden Russlands

Kishi: Kapelle des Erzengels Michael

Hier findet ein Glockenspiel in der Kapelle des Erzengels Michael statt

Insel Kischi

Inselführerin und großes Kind im russischen Sommer

Das nur sechs Kilometer lange und einen Kilometer breite Inselchen Kishi ist gut besucht an diesem zuerst grauen, dann blauen Sommertag, aber trotzdem ist es ein stiller Ort: Natur, Holzbauten und rundherum die Weite der karelischen Seenlandschaft. Manchmal gibt ein Glöckner ein sehr kunstvolles Glockenspiel in einer der kleineren zum Freilichtmuseum gehörenden Holzkirchen zum Besten.

Am Ende steigen wir auf den Glockenturm von Kishi Pogost und werfen letzte Blicke auf Zwiebeltürme und auf eine Landschaft, die wir nicht vergessen werden.

Russisch-Karelien: Insel Kischi

Die Winterkirche von oben

Russisch-Karelien

Eine kleine Insel in der karelischen Seenlandschaft

INFO Insel Kishi:

Insel Kishi, Russisch-Karelien

Holz unter dem russischen Sommerhimmel

Über die Routenplanung unserer Finnland-Russland-Reise habe ich auf diesem Blog bereits einen sehr ausführlichen Artikel veröffentlicht. Zwischen Petrosawodsk, der Hautpstadt der autonomen russischen Republik Karelien, und der Insel Kishi verkehren zwischen Mitte Mai und Ende August täglich zahlreiche Tragflügelboote. Die Fahrzeit beträgt 75 Minuten; Tickets für die Überfahrt kann in Petrosawodsk an vielen Verkaufsstellen erwerben. Wir haben die Bootsfahrt sowie eine individuelle Tour mit einer deutschsprachigen Führerin vorab online über Visit Russia gebucht.