Zuletzt aktualisiert am 21. Februar 2020 um 9:37

“Ich gehe ja ganz gern mal ins Museum”, schicke ich unnötigerweise voraus, “aber hier in Japan kann man beim Einkaufen mindestens genauso viel über Kultur lernen.” Meine Familienmitglieder nicken. Sorry, Mutter, aber das haben wir auch schon bemerkt.

TRADITION

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Wo könnte man so ungeniert einen Kimono betrachten wie im Kaufhaus? Bei Matsuya in Ginza, Tokios berühmtem Nobel-Einkaufsviertel, streichen wir nach Lust und Laune um Schneiderpuppen, die in bunte Kimonos gewickelt sind. Tatsächlich wird das traditionelle japanische Kleidungsstück selbst im modernen Tokio von einigen Damen getragen – meist von etwas älteren. Später, in Kyoto, sehen wir auch junge Mädchen im Kimono. Wir entdecken dort den einen und den anderen Kimono-Verleih sowie Salons, in denen man sich Haare und Gesicht traditionell stylen lassen kann. Vielleicht das Tüpfelchen auf dem I für die Japanerin, die einen Sonntagsspaziergang zwischen den zahllosen Tempeln, Schreinen und Gärten Kyotos unternimmt?

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Da wir diesen Damen aber nicht hemmungslos auf den Körper schauen können, bewundern und betasten wir alles, was die Kimono-Abteilung im Kaufhaus hergibt – nicht zuletzt die Stoffe für den Obi, mit dem der Kimono gegürtet wird. Ein Obi, stellen wir fest, kostet fast so viel wie der Kimono selbst. Unsere jüngere Tochter überschlägt: Mit allem Drum und Dran muss man für einen Kimono von der Ginza stolze 1000 Euro hinblättern.

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Darin sind dann allerdings auch die Accessoires inbegriffen – blumiger Haarschmuck, Fächer, korbartige Täschchen und die hohen Zehensandalen, die Getas. Das Accessoire-Angebot, das wir in dem Traditionskaufhaus Takashimaya im nördlichen Teil von Ginza finden, verschlägt uns die Sprache. Neben den Kimonos beginnt die Abteilung mit traditionellem Kunsthandwerk: Lackobjekten und Utensilien für die Teezeremonie. “Können wir jetzt mal irgendwo hingehen, wo wir auch etwas kaufen können?”, fragt die ältere Tochter. Selbstverständlich: ins Souterrain, in dem die Lebensmittelabteilung untergebracht ist.

KULINARISCHE ÄSTHETIK

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Wenn man Lebensmittel sehen möchte, die die Optik von Kunstwerken besitzen, ist Japan das Land der Wahl und die Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses großes Kino. Unsere allererste Bento-Box – so der Name der japanischen Lunchboxen, die verschiedene kalte Spezialitäten enthalten – ist in ihrer grafischen Strenge ein optischer Leckerbissen erster Güte. Aber wir wollen ehrlich sein: Einige der uns größtenteils unbekannten Snacks überfordern auch die kulinarisch sehr aufgeschlossenen Erwachsenen unserer Familie. Vor allem die oft seltsam weiche Konsistenz ist uns zuweilen nicht geheuer, aber wir sind auch noch am Anfang der Reise.

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Für unsere Augen jedenfalls ist jedes Häppchen ein Fest, die Anordnung der einzelnen Speisen ein Meisterstück in puristischer Geometrie, die Auslagen der Lebensmittelabteilungen Schaukästen in eine Kultur, in der auch das Alltägliche mit großer Ästhetik praktiziert wird.

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MANIEREN

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Warum nur tragen so viele Asiaten einen Mundschutz? In Europa sieht man sie regelmäßig, und in Japan sitzt man niemals ohne Mitreisende mit weißer Maske vor Mund und Nase in einem Bahnwaggon. Borniert habe ich mich bislang immer gefragt, ob diese Angst vor Bakterien nicht ein bisschen übertrieben ist. Bis mein Mann jetzt in einem frisch gekaufen Buch liest, dass man eine solche Maske trägt, wenn man selbst erkältet ist – um niemanden anzustecken. Ja. Das macht Sinn. Passt zu der rücksichtsvollen Art der Japaner, die wir auf Schritt und Tritt erleben. Und erklärt die Auswahl an Mundschutz-Varianten im Drogeriemarkt.

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Dann sind da noch die legendären Getränkeautomaten. Sie stehen in Japan an jeder Ecke und bieten Wasser, Softdrinks, gekühlten Tee und Kaffee zum moderaten Preis an. Wieso gibt’s die in Japan überall und bei uns nirgends? Auch auf diese Frage findet mein Mann Antwort in seinem neuen Nippon-Buch: In Japan existierten schlicht deshalb mehr Automaten als auf dem ganzen Rest der Welt, weil in diesem zivilisierten Land niemand sie zerstöre.

COOL JAPAN

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Was die modebewussten jungen Japanerinnen tragen, können nur junge Japanerinnen tragen; bei anderen Menschen sieht es albern aus. Shibuya 109 heißt ein populäres Kaufhaus mit kleinen Boutiquen, die zugeschnitten sind auf die zierliche Großstädterin mit mädchenhaftem Sex-Appeal und einer bewundernswerten Fähigkeit, auf High Heels durch die vollen Straßen des Stadtteils Shibuya zu staksen und dabei komplett lässig auszusehen.

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Während das Shibuya-Girl einen Hang zum Damenhaften hat, herrscht in Harajuku der Schuluniform-Stil vor. Dabei läuft die modische Uniform-Variante für die Freizeit mit ihren kurzen Röckchen und Söckchen keineswegs Gefahr, mit echten Schuluniformen verwechselt zu werden. Von denen sehen wir in Japan so manche, und wir können mit Gewissheit sagen: Noch die Uniform des strengsten britischen Eliteinternats sieht dagegen hip aus.

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In Harajuku jedenfalls liegt das Epizentrum der süßen japanischen Kawaii-Mode, bei der jedes Detail verspielt ist, mit Rüschen, Schleifchen, Bändern, Häschenohren und Figürchen verziert und durch schrille Accessoires aufgemotzt wird. Harajukus Shopping-Pulsader ist die Straße Takeshita-dori, die bunt, laut und voll ist. Sie ist die erste Adresse, die wir bei unserem Tokio-Aufenthalt anlaufen. In Verbindung mit dem Jetlag versetzt sie uns in einen psychedelischen Wahnzustand, wird aber von den Töchtern trotzdem intensiv genug wahrgenommen, um später als eines der Highlights der Reise gehandelt zu werden.

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ALTER

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Ein Erlebnis für sich ist die Gehstock-Abteilung, in die wir unversehens im Kaufhaus Takashimaya geraten. Farbig, geblümt, gemustert – hier gibt es Gehstöcke für jeden Stil und Geschmack. Einer Kundin, die mit der Auswahl beschäftigt ist, wird sofort ein Stuhl hingeschoben. Ich bin begeistert: “Die Asiaten haben einen ganz anderen Respekt vor dem Alter als wir, und ich finde es super, dass sich das ästhetische Empfinden der Japaner sogar auf Gehstöcke erstreckt!” Meine große Tochter sieht das prosaischer: “Außerdem gibt es hier viel mehr alte Menschen als anderswo”, kontert sie nüchtern.

PAPIER

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Japan ist ein Papier-Land. Origami. Kalligraphie. Die mit Papier bezogenen Schiebetüren und -wände traditioneller Häuser. Wunderbar gefaltete und gestaltete Papierverpackungen. Bei Itoya auf der Ginza in Tokio werden Schreibwaren auf neun Etagen angeboten. Eine ganze Wand ist mit kleinen Papiermustern überzogen. Zwischen zahllosen Farbnuancen und Papierqualitäten kann man sich hier genau den Bogen aussuchen, den man benötigt. Außerdem gibt es Umschläge in einer Fülle, die im Westen undenkbar wäre. Schließlich kennt die japanische Etikette zahlreiche Anlässe, zu denen Geldgeschenke opportun sind, und die müssen stets dem Anlass angemessen verpackt sein.

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Wir sehen ätherisch umhüllte Snacks und Süßigkeiten; die papierne Verpackung hat einen großen Anteil an der Ästhetik der Lebensmittel. Die pfirsichfarbenen Tütchen im Reiscracker- und Süßigkeitengeschäft Akebono in einer Ginza-Seitenstraße sind an zartem Raffinement nicht zu überbieten.

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Wobei erwähnt werden muss, dass in Japan nicht jede Verpackung aus Papier ist und dass die Mengen von Plastik, die wir hier in den Müll werfen, uns immer mal wieder in die Krise stürzen. Selbst die einzelne Ansichtskarte ist hier in ein Tütchen aus transparenter Folie gehüllt.

MATCHA

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Die Teezeremonie ist das eine. Deren Herzstück ist die Schale mit Matcha, dem pulverisierten, mit einem Bambusbesen aufgeschlagenen grünen Pulvertee. Wir erleben in Japan keine Teezeremonie mit, aber Matcha begegnet uns allerorten. Der japanische Kitkat-Riegel mit Matcha-Geschmack ist weltberühmt; wir probieren Oreo-Kekse mit Matcha-Füllung, weiche grüne Mochi aus Reismehl und Matcha-Eis. Es ist leicht bitter, erfrischend und nicht ganz unser Ding. Sollten wir allerdings wieder einmal nach Kyoto kommen, wo es viele kleine Läden nur mit Matcha-Produkten gibt, werde ich es nochmal probieren. Man könnte sich daran gewöhnen.

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KAWAII

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In unserer Familie verwenden wir den Begriff “Character Shopping”, wenn es um die spezifisch japanische Königsdisziplin des Shopping geht, bei der kleine Figürchen mit Gesichtern ebenso im Angebot sind wie Produkte, die mit diesen Figürchen geschmückt sind. Character Shopping ist in Japan eine große Sache und lässt sich hervorragend im Sanrio-Puroland erleben: dem Freizeitpark in Tokio, der Hello Kitty und ihren Partnergeschöpfen gewidmet ist, die alle von der Firma Sanrio entwickelt und vermarktet werden. Aktuell im Trend: Gudetama, ein faulenzendes Spiegelei mit Gesicht. Aber es geht auch ohne die Shops des Sanrio-Purolands: Character-Kuscheltiere und -Produkte kann man in Japan überall kaufen, denn Japan ist das Land der Kawaii-Kultur, die alles Süße, Niedliche, manchmal Schräge zelebriert – vorausgesetzt, es hat ein Gesicht. Im Souterrain des Bahnhofs Tokyo Station befindet sich eine regelrechte Character-Meile: Hier gibt es Shops, die japanischen Kreationen wie Totoro, Hello Kitty und Pokémon gewidmet sind, aber auch internationale Characters haben hier ihre Geschäfte. Mit Miffy und den Mumins ist sogar europäischer Kinderbuchadel vertreten. Unsere mitgebrachten Miffy-Stäbchenhalter sind der Beweis.

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Auch außerhalb der Character-Geschäfte shoppt man in Japan gern im Kawaii-Style – manchmal geht das gar nicht anders, denn bei vielen Produkten grinsen einen die Verpackungen niedlich aus den Regalen an. Oder sie sind ganz und gar im Manga-Stil gestaltet.

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Wie die schrillen Manga-Girls mit den unglaublich eleganten, den ganzen Tag unter zeremoniellen Gesten und Worten im Kaufhaus Takashimaya hinauf- und hinunterfahrenden Aufzugführerinnen zusammenpassen, von denen eine auf dem Bild ganz oben zu sehen ist, bleibt unklar. Was die Dame wohl in ihrer Freizeit trägt? Manga-Zöpfchen? Japan, du bleibst uns ein Rätsel.