Zuletzt aktualisiert am 5. März 2020 um 22:42
Es ist alles eine Frage der Mathematik. Seit 30 Jahren hat es in Paris nicht mehr so viel geschneit wie am letzen Mittwoch. Seit 30 Jahren ist es eines meiner persönlichen Ziele, einmal Paris im Schnee zu sehen. Wenn es wieder 30 Jahre dauert, bis es so richtig ordentlich schneit in Paris, bin ich 80. Ich weiß nicht, ob ich dann noch leichtfüßig in den TGV springen werde. Also beschließe ich, jetzt zu fahren, am Samstag nach dem großen Schneefall, morgens mit dem TGV hin, abends zurück. Mit dabei: meine Töchter.
Mit einem Schnellzug nach Paris – nur für einen Tag
Ich will, wie meistens, allein nach Paris fahren. Bis mir meine jüngere Tochter unter großem Einsatz von Emotion klarmacht, dass sie unbedingt mitmuss. Ich schaue im Internet: Da sie erst zwölf Jahre alt ist, ist ein Zugticket für sie nicht besonders teuer. Ich frage ihre große Schwester, ob sie auch mitwill nach Paris. Will sie. Da sie bereits 16 Jahre alt ist, ist ein Zugticket für sie ziemlich teuer.
Aber es ist alles eine Frage der Mathematik. Ich google, was ein Skitag für drei Personen im Durchschnitt kostet. Deutlich mehr als drei Zugtickets nach Paris. Wir sind noch nie Ski gefahren und planen auch nicht, je damit zu beginnen. Einen Tag lang in Paris durch den Schnee zu laufen, ist die perfekte Form des Wintersports für uns. Mit viel Bewegung unter freiem Himmel, denn nirgendwo zählt mein Handy so viele Schritte pro Tag wie während meiner Parisaufenthalte.
Der Westen ist weiß
Zwischen Mittwoch, dem entscheidenden Pariser Schneetag, und Samstag, unserem Reisetag, behalte ich das Pariser Wetter online im Blick. Es bleibt kalt, es kommen sogar ein paar einzelne Flocken dazu. Bis zum Freitagabend könnte ich die Zugtickets noch zurückgeben und würde damit einen Verlust von nur 19 Euro machen. Um 22.30 Uhr checke ich eine Webcam, die die Place de la Concorde zeigt: eine weiche weiße Fläche. Am Samstagmorgen fahren wir.
Bis zum Elsass sehen wir allenfalls Puderschnee; ab der Champagne wird es richtig weiß. Monotone, gleichförmig verschneite Felder unter gleißend blauem Himmel und Sonnenschein: gute Bedingungen für einen Wintersporttag.
Die Bebauung wird dichter, die Vororte von Paris sind bilderbuchweiß, die Einfahrt in die Gare de l’Est attraktiv von Schnee akzentuiert. Wir haben fünf Stunden und 42 Minuten bis zur Rückfahrt, die durch die Verspätung bei der Ankunft um zehn Minuten reduziert werden. Ich habe den Tag genau geplant. Unsere erste Station ist die Rue des Martyrs im 9. Arrondissement. Die kenne ich nicht, wollte aber schon länger mal hindurchlaufen. Heute bietet sie sich an, denn die Straße führt zum Montmartre. Als wir aus der Métro ans Tageslicht kommen, habe diesmal nicht nur ich die typische Paris-Epiphanie mit beglücktem Staunen über die Schönheit der Stadt. Meine jüngere Tochter zückt noch auf der Treppe der Métro-Station die Polaroidkamera.
Sushi und Schneeschmelze
Die Sonne strahlt, hier und da liegt am Straßenrand oder auf einem Dach etwas Schnee, und die Rue des Martyrs ist das, was ich mir versprochen hatte: eine schmale, lange, sehr pariserische Straße mit vielen kleinen Lebensmittelgeschäften. Außerdem gibt es dort, wie Google Maps mir verraten hat, eine Filiale der Kette Sushi Shop, die in unserer Familie hoch im Kurs steht. Regelmäßig arbeitet der Sushi Shop mit bedeutenden französischen Köchen zusammen, die für begrenzte Zeit erhältliche Sushi-Variationen kreieren. Ich probiere, was die Sterneköchin Anne-Sophie Pic aktuell ersonnen hat: eine unglaubliche Rolle mit Thunfisch, grünem Apfel, Avocado, Dill und vielen weiteren aromatischen Finessen. Für ihr Verhältnis zum Essen muss man die Franzosen einfach lieben, wenngleich das Sushi-Menü mit etwas weniger Verpackungsmaterial garantiert genauso lecker gewesen wäre.
Von der Markise auf der gegenüberliegenden Straßenseite tropft es. Ich werde etwas panisch. Taut der Schnee schneller, als wir unsere Sushi verspeist haben?
Wir gehen weiter in Richtung Montmartre. Auf dem Weg kaufen wir als Mitbringsel für den daheimgebliebenen Vater in einem hippen Coffee-Shop Knuspermüsli, ohne nach dem Preis zu fragen. Großer Fehler. Es kostet zehn Euro. Ein paar Straßen weiter kaufen wir in einem leeren Laden, in dem außer einem jungen Asiaten hinter einem Apple-Computer und ein paar Socken nichts zu sehen ist, drei Paar verrückter Strümpfe mit Gesichtern – zum Preis von insgesamt zehn Euro. Pariser Mathematik.
Wintersport auf dem Montmartre
Über den Montmartre kann man streiten. Ich gehe nicht oft hinauf, wenn ich in Paris bin, der beliebte Hügel ist mir unter dem Strich allzu gut besucht. Andererseits ist er wirklich verdammt romantisch, und wenn man sich nicht garade in den populären Straßen aufhält, ist man zwar nicht allein, taucht aber doch in eine erstaunlich idyllische Dorf-Atmosphäre ein. An diesem Schneetag will ich exakt dorthin, denn ich will die verschneiten Pariser Dächer von oben sehen.
Unterhalb der Kirche Sacré-Cœur biegen wir von den typischen Montmartre-Treppen ab in eine kleine Seitenstraße und machen Fotos (siehe ganz oben). Die Dächer von Paris sind nicht wirklich weiß, und der Schnee hat seine flauschigsten Zeiten eindeutig hinter sich. Dafür ist die Straße, durch die wir laufen, glatt von festgefahrenem Schnee mit einer Wasserschicht obendrauf. Wir setzen unsere Fähigkeiten zur Balance ein, was eine umso größere Herausforderung ist, als wir uns zwischen den Tropfen hindurchschlängeln, die von Balkonen, Markisen und Bäumen fallen. Wintersport halt. Am Mittwoch sind sie auf dem Montmartre übrigens Ski gefahren.
Friedhof im Ausnahmezustand
Wir bewegen uns in Richtung Cimetière de Montmartre, dem nächsten Ziel auf unserem Tagesplan. Ich wollte gern an einen Ort, an dem der Schnee ein bisschen unberührter ist als in den Straßen. Meine ältere Tochter findet Friedhöfe gut, der auf dem Montmartre ist meiner Meinung nach an Romantik nur schwer zu überbieten, außerdem ist hier Heinrich Heine begraben: Der Friedhofsbesuch wäre also gleichzeitig ein Bildungserlebnis.
Vor der verschlossenen Eingangspforte steht eine Gruppe von Franzosen, die wir nach dem richtigen Eingang fragen. Wegen des Schnees sei der Friedhof geschlossen, sagen sie uns. Merde. Wir verstehen, warum sich die Frankokanadier seit Tagen über die Aufregung der Franzosen ob einiger Zentimeter Schneefalls lustig machen. Durch die graffitibesprühten Geländer der Eisenbrücke, die über den Cimetière de Montmartre führt, machen wir wenigstens Fotos.
Matschiges Marsfeld
Nächste Station: der Eiffelturm. Meine Fast-Dreizehnjährige war einmal mit vier und einmal mit sechs Jahren in Paris, da ist ein klassischer Eiffelturmblick durchaus mal wieder an der Tagesordnung. Außerdem kann man tolle Polaroid-Bilder vom Eiffelturm machen. Und zwar auch hier wieder unter Einsatz der sportlichen Fähigkeiten, denn das Marsfeld hat sich in eine weiche, matschige, von tiefen Pfützen durchzogene Fläche verwandelt.
An dieser Stelle ist alles eine Frage der Bildbearbeitung: Für ein romantisches Instagram-Eiffelturmfoto gibt der verbleibende Schnee noch genug her. Unbeschnittene Bilder zeigen die nasse Wahrheit, die langsam in unsere Schuhe eindringt. Wir machen uns auf den Weg in Richtung Tuilerien.
Sahnehäubchen: Beim Patissier
Unsere letzte Station ist der Salon de Thé von Sébastien Gaudard. Sébastien Gaudard ist ein recht namhafter Patissier, der sich mit der Wiederbelebung und Neuinterpretation traditionellen französischen Backwerks beschäftigt. Da ich es wirklich großartig finde, wie ernst die Franzosen die Personen nehmen, die Torten herstellen, will ich mit den Töchtern nicht in irgendein beliebiges Café, sondern in eins mit einem Patissier, der eine eigene Handschrift pflegt. Und da ich außerdem finde, wir könnten uns eine Scheibe von den Franzosen abschneiden, wenn sie ihr Geld grundsätzlich lieber in luxuriöses Essen als in luxuriöse Autos investieren, macht es mir auch nichts aus, für sahnige, cremige, von Baiser-Substanzen gehaltene Törtchen sowie für einen “Gateau de voyage”, einen Reisekuchen zum Mitnehmen, ein paar Euro bei Sébastien Gaudard liegenzulassen. Meine Töchter erklären mir, sie möchten irgendwann wieder in genau dieses Café.
Schnee in Paris: Alles eine Frage der Perspektive
Meine persönliche Besessenheit von der Idee, einmal im Leben Paris im Schnee zu sehen, begann mit der Lektüre des Romans “Les enfants terribles” von Jean Cocteau, einer infamen und poetischen Geschichte aus dem weißen Paris. Als ich das Buch vor unserem Tagesausflug aus dem Regal zog, stellte ich fest, dass ich es im Winter 1987/1988 gelesen hatte – genau in der Saison, in der das letzte Mal richtig viel Schnee in Paris gefallen war.
Wir werden bei unserem Ausflug allerdings mit aller Deutlichkeit daran erinnert, dass Schnee in Paris nicht für alle Menschen ein poetischer Grund zur Freude ist. Kurz nach unserer Ankunft sagt meine jüngere Tochter: “Wir sind noch keine zehn Minuten hier und haben schon drei Obdachlose gesehen.” Einmal stoßen wir in einer Métro-Station auf ein verlassenes Nachtlager, das eindrücklicher ist als jede Statistik zum Thema. Ich habe als Studentin ein ganzes Winterhalbjahr in Paris zugebracht – ohne Schnee – und bin während dieser Zeit immer wieder massivem Elend in Paris begegnet. Natürlich kann ich daran nichts ändern, aber es ist eine Facette der Stadt, die meine Töchter durchaus auch zur Kenntnis nehmen dürfen.
Deshalb kann man Paris trotzdem wunderbar finden. Bestimmt sieht es ganz grandios aus, wenn die Stadt sich alle 30 Jahre in ein Winter-Wonderland verwandelt. Aber wir genießen sie auch im halbgeschmolzenen Zustand. Immerhin gibt es sogar in den Bergen Wintersporttage mit suboptimalen Schneeverhältnissen.
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