Zuletzt aktualisiert am 30. September 2018 um 16:22

Montréal war aufregend, die Landschaft drumherum bukolisch, die Stimmung französisch. Nach dem ersten Teil unserer Québec-Reise fahren wir weiter in den raueren Osten des frankophonen Kanada, wo das europäisch angehauchte Raffinement abnimmt und wir es mit Walen, Außenbordern und indianischer Kultur zu tun bekommen.

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II. INTO THE WILD – ZUMINDEST EIN BISSCHEN

Natürlich müssen wir in die Ville de Québec, die Stadt mit dem gleichen Namen wie die Provinz. Sie ist das historische Herz der Region, nirgendwo sieht es so sehr nach altem Europa aus wie hier. Und nirgendwo in Québec außer hier erleben wir ein touristisches Scheitern auf ganzer Linie. In Québec City gibt es stellenweise mehr Straßenmaler pro Quadratkilometer als auf dem Montmartre. Die zweifellos hübschen Straßen im zum UNESCO-Welterbe ernannten historischen Zentrum sind gedrängt voll mit Menschen, und wir spüren unsere kanadische Entspanntheit mit jedem Schritt schwinden. Aber wenigstens auf einen Drink ins Hotel Château de Frontenac wollen wir, das hatten wir uns geschworen, zu Ehren von Hitchcocks Québec-Film “I Confess”, dessen Showdown dort stattfindet. Auch hier scheitern wir. Die eine Bar hat Plätze frei, aber in die dürfen keine Kinder; in die andere dürfen Kinder, aber es gibt keine freien Plätze. In die Außenwände des Château ist ein Starbucks eingelassen. Er hat freie Plätze, Kinder sind erlaubt, der Hitchcock-Charme liegt bei null.

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Wir freuen uns, dass wir kein Hotel im Stadtzentrum gebucht haben, sondern in Wendake, einem Indianerreservat bei Québec City, über das es auf diesem Blog bereits einen eigenen Beitrag gibt. Im übrigen spricht man in Kanada nicht von Indianern, sondern von First Nations. Das Hotel Musée Premières Nations ist das erste Themenhotel unseres Lebens. Die Außenarchitektur von indianischen Langhäusern inspiriert, innen Holz, Kaminfeuer, Bilder von First-Nations-Künstlern. Und überall, sogar auf den Betten, liegen Felle, teils mit Köpfen und Pfoten, vor denen unsere Töchter sich mit Wonne grauseln. Das Ganze wirkt rustikal, stimmungsvoll, komfortabel – aber wie indianisch es wirklich ist, werden wir nie wissen. Immerhin kann man als Gast sogar in einem rekonstruierten Langhaus übernachten, und zum Hotel gehört ein First-Nations-Museum. An der Rezeption sehen wir ein Angebot für einen indianischen Perlenketten-Workshop. Unsere Kinder wollen teilnehmen, natürlich, und natürlich lassen wir sie, wenngleich wir mit leicht snobistischem Misstrauen eine sehr wohlfeile Art der Geldmacherei wittern.

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Doch es kommt ganz anders. Die Töchter sitzen zusammen mit einer ausladenden, schönen, bunt gewandeten Lady an einem Tisch, die nach ihren eigenen Worten “vor 60 bis 65 Jahren” geboren ist. Sie erzählt von ihrem Engagement für die Erhaltung alter Traditionen, von den Sprachforschungsprojekten der Region, ist stolz, dass die Kinder in Wendake heute wieder die Sprache ihrer Nation – so der hiesige Begriff für Indianerstämme – lernen können und dass die Erwachsenen dafür Abendkurse besuchen. Sie beobachtet unsere beiden Töchter beim Perlen-Aufziehen und gibt sehr liebevolle, tiefgreifende und bildhafte Einschätzungen ihres jeweiligen Wesens ab. Uns allen stockt ein wenig der Atem: Wie verrückt ist das? Wir glaubten, ein mit geschicktem Marketing-Gespür initiiertes Animationsprogramm gebucht zu haben, und finden uns in einer spirituellen Kommunikationssituation wieder, die die Kinder nachdrücklich beeindruckt und den gebastelten Ketten enorme Symbolkraft verleiht.

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Im Grunde wirkt Wendake wie ein Suburb mit ein paar folkloristischen Elementen, nicht wie eines dieser Reservate, in denen das soziale Elend groß ist. Die Führerin im Freilichtmuseum Ohnhüa Chetek8e, selbst Native, hat eine klare Meinung dazu: Hier, in Großstadtnähe, seien die Ausbildungschancen für die Reservatsbewohner gut und die sozialen Probleme entsprechend gering, dafür hätte man viel vom ursprünglichen Spirit verloren. In einsameren Regionen sei es genau umgekehrt. Wie auch immer es bestellt sein mag um das Verhältnis von Authentizität und Tourismusmarketing: Das Bestreben, an die eigene, jahrzehntelang unterdrückte Kultur anzuknüpfen, ist in Wendake vielerorts spürbar, und es beeindruckt uns. Unsere Töchter verlieben sich in die aus Pflanzen geschnittenen Tiere am Straßenrand, die mit ihrer kosmischen Symbolik für die ansässigen Clans stehen.

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Östlich von der Stadt Québec wird die Landschaft rauer, die Ortschaften werden spärlicher, der Sankt-Lorenz-Strom immer breiter. Dort, wo der Saguenay-Fjord in den Strom einschneidet, ist die Straße plötzlich zuende, und die Autos müssen mit einer Fähre durch den Nebel hinübersetzen nach Tadoussac, wo die Straße nach Osten weitergeht. Wir bleiben in Tadoussac, denn einmal im Leben wollen wir Wale sehen, und Tadoussac feiert sich als Kapitale des Whale Watching. Im 150 Jahre alten Hotel de Tadoussac kommen wir uns vor wie Reisende einer längst vergangenen Epoche. Trotz der vielen Walbeobachtungsgäste hat der Ort etwas Einsames, fühlt sich ein wenig an wie der letzte touristische Outpost vor dem Ende der Zivilisation.

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Wir buchen eine Walbeobachtungstour, von der ich an anderer Stelle auf diesem Blog ausführlich erzählt habe. Das Ungeheuerliche geschieht: Wir sehen einen Blauwal. Gewiss, das Erlebnis ist kurz, und hätte man uns nicht gesagt, dass das Stück auftauchender Walhaut samt imposanter Blas-Fontäne von einem Blauwal stammte, hätten wir es nicht gewusst und nicht den glücklichen Schauder empfunden, den uns die Begegnung mit dem größten Tier der Erde über den Rücken jagt. So aber erhält unsere Reise eine Krönung, und für einen Moment fühlen wir wirklich die Grenze der Zivilisation.

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Auf der Rückfahrt nach Montréal, wo wir das Flugzeug nehmen, machen wir schließlich etwas richtig Kanadisches. Wir übernachten an einem Postkartensee, an dem man Boote mieten kann, ich habe Geburtstag, und ich will mit meiner Familie in einem Motorbötchen herumfahren. Keiner von uns hat je so ein Ding bedient, und mein Französisch kommt im Gespräch mit dem Mann vom Bootsverleih an seine Grenzen. In den Reiseführern stand etwas vom berüchtigten Dialekt der Québecois – hier hören wir ihn. Der mitleidige Blick, mit dem wir betrachtet werden, ist unmissverständlich. Der Herr scheint zu bezweifeln, dass wir jemals wieder an Land kommen.

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Und wenn es nach uns ginge, würden wir das auch gar nicht tun. Im Rausch schippern wir über den Lac à l’Eau Claire, wir sind im Paradies, wir wollen nie mehr weg.

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Hier geht’s zu Teil 1 unserer Québec-Reise: Von Montréal nach Montebello