Zuletzt aktualisiert am 5. April 2020 um 18:44
Anfang November überlegte ich, an welchem der kommenden Wochenenden ich nach Paris fahren sollte. Dann erschütterten die Anschläge vom 13.11. die Welt. Ein Bahnticket nach Paris zu kaufen, stand nicht mehr zur Debatte. Aber ich hatte schon ziemlich bald einen “Jetzt-erst-recht”-Impuls. Trauer und Entsetzen über die Anschläge sind geblieben und werden bleiben, aber inzwischen hat sich die unmittelbare Panik gelegt. Also bin ich gefahren. Wie fühlt sich Paris im Dezember 2015 an?
Überall Trikoloren
Bleu-blanc-rouge vor hellblauem Dezemberhimmel
Schon oft bin ich, von der Gare de l’Est kommend, irgendwo in Paris aus den Schächten der Metro ans Tageslicht gestiegen und brauchte zunächst drei Umdrehungen, um mich zu orientieren. Bei diesem ersten Paris-Besuch nach den Anschlägen vom 13. November schiebe ich meinen Kopf aus der Station Étienne Marcel und sehe blauen Himmel, graue Schieferdächer, beigen Sandstein, einen liebevoll begrünten Balkon und eine davor aufgespannte Trikolore. Schöne Farben für einen Wintertag. Das Blau-Weiß-Rot der Flagge gehört allerdings nicht zum typischen Farbspektrum des Pariser Wohnhauses. Es ist nach den Anschlägen dazugekommen. Bis ich nach fünf Minuten mein Hotel erreicht habe, ist es mir ungezählte Male begegnet.
Paris im Dezember 2015: Trikoloren überall
Ich wohne diesmal in der Rue Montorgueil im zweiten Arrondissement. Ich habe diese Straße schon immer gemocht mit ihrem Gewimmel von rustikalen Lebensmittelläden und Cafés. Es ist sonnig, Mittagszeit, die Terrassen voll besetzt, die Stimmen, die ich aufschnappe, sprechen fast ausschließlich französisch. Von der anschlagsbedingten Flaute des Pariser Tourismus merkt man hier nichts. Die Stimmung ist fantastisch; ich denke: Sie sind grandios, diese Pariser, sie lassen sich durch die Angst vor möglichen weiteren Anschlägen nicht von ihren Café-Terrassen vertreiben; ganz im Gegenteil. Trotzig hängen sie ihre Flaggen aus den Wohnungen, zelebrieren das Leben und das Französischsein. Eine euphorische Welle der Frankophilie flutet mein Hirn.
Place de la République, Dezember 2015
Gedenkbotschaften auf der Place de la République
Bevor ich mich auf meine üblichen Paris-Routen begebe, gehe ich zur Place de la République, bei der ich seit Jahren nicht war. Sie ist, wie man überall gelesen hat, zu einer Art inoffizieller Gedenkstätte für die Opfer der Terroranschläge geworden. Schon von weitem sehe ich die Marianne-Statue in ihrer Mitte, und ich sehe die Unmengen von Flaggen, Botschaften, Blumen, Kuscheltieren, Kerzen, die man um ihren Sockel herum gelegt hat. Ich finde es zwar ein wenig affig, wenn man als geographisch und persönlich weit von den Anschlägen entfernter Mensch, der keinerlei Leid durchmachen musste, seine subjektiven Gefühle betont, aber dennoch muss ich an dieser Stelle sagen: Auf den Anblick der zur Gedenkstätte gewordenen Statue kann einen kein Bild und kein Pressebericht vorbereiten. Trauer und Entsetzen sind hier körperlich greifbar. Hinzusehen und die Botschaften zu lesen, ist auch als von den Geschehnissen weit entfernte Deutsche nicht einfach. Ein wenig lakonische Frechheit hier und da ist wohltuend: “Vouloir tuer la Liberté. Ah les cons!”, fein säuberlich getippt. “Die Freiheit töten zu wollen. Ach, diese Idioten!”
Marianne: schon immer ein Symbol der Freiheit
Und plötzlich weiß man den säkularen Akt des Shoppens zu schätzen
Ich mache mich auf den Weg zum linken Seine-Ufer. Rund um die Rue de Sèvres stehen die Zeichen auf Konsum unter massiver Weihnachtsdekoration. Das Kaufhaus Le Bon Marché, ultimativer Tempel des Luxus-Shopping, toppt mit stilvoll glitzernden Baumsilhouetten im Art-déco-Treppenhaus alles, was mir an weihnachtlicher Eleganz je untergekommen ist. Es ist eine Wonne, hier herumzulaufen, in einer benachbarten Buchhandlung einzukaufen, an anderer Stelle so herrliche wie unnötige gepunktete Lederhandschuhe zu erstehen. Ich gehöre zu den Menschen, die eigentlich immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie Geld ausgeben, dem Luxus frönen und sich den Überfluss der westlichen Welt vor Augen halten. Heute nicht. Heute erscheint mir der säkulare Akt des Shoppens wie eine ethisch wertvolle Rebellion gegen terroristischen Fanatismus; wunderbar unfundamentalistisch.
Nachweihnachtliches Flair im Kaufhaus Le Bon Marché
Paris lässt sich nicht unterkriegen
In der Fondation Cartier läuft die Ausstellung “Beauté Congo” mit moderner Kunst aus der Republik Kongo, die einer der Gründe ist, aus denen ich in diesem Winter nach Paris wollte. Es ist Dienstag, die Fondation ist bis zehn Uhr abends geöffnet. Obwohl ich erst spät komme, staut sich am Kassenhäuschen eine kleine Schlange, und in der grandiosen, bunten, antikonventionellen Ausstellung tummeln sich Mengen von Parisern, oft trotz fortgeschritter Stunde mit Kindern, helle und dunkle Hautfarben gut gemischt. Meine Euphorie geht durch die Decke. In welcher anderen Stadt würde man an einem Dienstagabend zwischen acht und zehn eine solche Zahl von Leuten antreffen, die sich begeistert kongolesische Kunst anschauen? Wo gäbe es gleichzeitig so viele Afrikaner und so viele interessierte Europäer, die sich von einem derartigen Ausstellungsthema so sehr fesseln ließen, dass die Schau verlängert werden müsste? Ich war mit dem Gefühl angereist, man habe Lutetia eine Wunde geschlagen, aber die Stadt lässt sich nicht unterkriegen, ist pariserisch wie eh und je oder vielleicht noch ein bisschen mehr.
Trikoloren auch im multikulturellen 18. Arrondissement
Am nächsten Morgen wieder Flaggen; überall. Wimpel, Trikolore-Aufkleber an Fensterscheiben, in einem Geschäft nur eine kleine Karte mit der Nationalflagge im Schaufenster. Und dann, unter einem Street-Art-Motiv mit zwei sich Umarmenden, eine violette Schrift auf einem Rollladen: “Même les méchants rêvent d’amour” – “Sogar die Bösen träumen von Liebe”. Voilà; dies scheint die Message der Stadt zu sein. “Vous n’aurez pas notre haine”, hieß es auf einem der Plakate an der Place de la République: “Ihr werdet unseren Hass nicht bekommen” – in einer Bezugnahme auf die berühmt gewordene Facebook-Botschaft eines Mannes, der bei den Anschlägen seine Partnerin und Mutter seines kleinen Sohnes verloren hat.
“Sogar die Bösen träumen von Liebe”
Jede Menge Sicherheitskontrollen
Noch eine fantastische Ausstellung – diesmal in der unkonventionellen Halle Saint-Pierre auf dem Montmartre -, dann der Rückweg über die Champs-Élysées zum Hotel. Bewaffnete Gendarmen, die in Dreiergrüppchen die Bürgersteige auf und ab gehen. Ich springe bei Marks & Spencer herein, um mir ein Sandwich zu kaufen. Bevor ich durch die Tür gelassen werde, wird meine Tasche durchsucht. Moment mal, wie oft musste ich eigentlich in den letzten 29 Stunden meine Tasche öffnen?
Polizeipatrouille auf den Champs-Élysées
Mit meiner üblichen Verspätung hole ich das Gepäck im Hotel ab und nehme ein Taxi, um rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen. Der Taxifahrer erzählt mit monotoner Stimme: Wie leer Paris ist, weil so wenige Touristen in der Stadt sind. “Sie haben Angst.” Dass die Hotels nur zu fünfzig Prozent belegt sind. Dass auch die Pariser Angst haben und zum Jahreswechsel aufs Land fahren. Im Radio hat er gehört, dass in ländlichen Gegenden am Silvesterabend schon viele Restaurants ausgebucht sind. Die Gare de l’Est sieht heute so trüb aus, wie seine Stimme klingt. Vier Gendarmen tummeln sich an einer Café-Bar. Eigentlich ein gutes Zeichen, wenn sie sich langweilen. Schon bei meiner Ankunft schien mir, dass der Bahnhof nicht übermäßig bewacht war. Im Dezember 1996 war ich in Paris, als es einen Anschlag in der Metro-Partnerlinie RER gab. An den folgenden Tagen sah man in jeder Bahnstation schwerbewaffnete Soldaten, die Stimmung war damals extrem angespannt. Andererseits liegen die aktuellen Anschläge ja schon einige Wochen zurück; 1996 habe ich die direkten Folgetage miterlebt. So grüble ich vor mich hin – und komme zu dem Gleis, an dem der TGV nach Stuttgart wartet. Ich kann aber nicht einfach so zum Zug gehen. Eine Kontrollstation wurde auf dem Bahnsteig errichtet. Manche Passagiere werden abgetastet. Ich muss meinen Koffer und meine kleine Reisetasche auf einen Tisch legen und öffnen, werde höflich gefragt, ob man sie durchsuchen dürfe. “Machen Sie das bei allen Zügen, die ins Ausland fahren?”, frage ich und bekomme die enigmatische Antwort: “Bei einigen.” Meine Taschen sind unverdächtig, aber bevor ich schließlich in den Zug einsteigen darf, schaut ein Schaffner sich eingehend meine Fahrkarte an. Das Sicherheitspersonal hier gehört nicht zur Polizei, sondern zur Sécurité ferroviaire, zur Bahnsicherheit.
Kofferkontrolle an der Gare de l’Est
Nein, die schwerbewaffneten Soldaten aus der Akutphase der Anschläge von 1996 sehe ich diesmal nicht. Dafür routinierte Sicherheitsmaßnahmen, die auf unklare Dauer angelegt scheinen. Lutetia, man hat dir eine Wunde geschlagen, und obwohl du nach wie vor du selbst bist, klafft sie noch.
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