Zuletzt aktualisiert am 29. März 2024 um 21:43
Im Internet und überhaupt in den Augen des Zeitgeists sind Tränen augenblicklich ja recht populär. Deshalb bekenne ich an dieser Stelle ungeniert: Beim Besuch des Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum habe ich ein Taschentuch benötigt. Aber auch Menschen, die durch gerade Linien nicht zu Tränen gerührt werden, sei Tokios architektonisches Freilichtmuseum ans Herz gelegt. Es ist einzigartig.
Klarheit und Konzentration
Das Gipfelerlebnis in Tokios architektonischem Freilichtmuseum erfordert keinen Aufstieg, sondern allenfalls eine etwas kontemplative Geisteshaltung. Wobei: Nicht einmal die braucht man mitzubringen; sie fängt einen ein, sobald man vor dem ersten der begehbaren traditionellen japanischen Wohnhäuser seine Schuhe abgestellt hat. Von jetzt an gibt es gerade Linien, Minimalismus, Geometrie und eine Klarheit und Ruhe von spiritueller Qualität. Im Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum hat man alte japanische Wohn- und Geschäftshäuser teils rekonstruiert, teils hat man sie hier nach dem Abbau und Transport aus verschiedenen Stadtteilen von Tokio neu angesiedelt – und einen Schatz geschaffen. Denn die traditionelle japanische Holzarchitektur ist anfällig für Feuer ebenso wie für Überschwemmungen und feuchtes Klima – und für Erdbeben sowieso. Deshalb gibt es außer den sorgsam gehegten Palästen, Tempeln und Schreinen nicht übermäßig viele gut erhaltene alte Gebäude in Japan.
Einfache Formen und Materialien, Bezug zur Natur
Das ist nicht einfach schade, sondern extrem schade. Denn die japanische Spiritualität erschließt sich nicht zuletzt über die spezielle Ästhetik der Architektur mit ihrer Konzentration auf Ritual und Kontemplativität, mit ihrer Liebe zu einfachen Materialien und Formen sowie ihrer Bezugnahme auf die umliegende Natur. Um solche Architektur zu finden, muss man in der Geschichte nicht allzu weit zurückgehen. Zwar zeigt das Freilichtmuseum einige fantastische Bauernhäuser aus der Edo-Zeit, die von 1603 bis 1867 andauerte und in der Tokio den Namen Edo trug. Aber das erste Haus, in das ich persönlich hineingerate, stammt von 1902, gehörte dem einflussreichen Politiker und Premierminister Korekiyo Takahashi und verfügt trotz seines nicht-archaischen Außenbaus (siehe Bild ganz oben) sowie eines westlich eingerichteten Zimmers über alles, was die japanische Architektur ausmacht.
Ohne Japan wäre die moderne Architektur kaum zu denken
Ein Gedanke kommt mir ständig, während ich durch traditionelle japanische Wohnräume verschiedener Epochen wandle: Ohne Japan wäre die moderne westliche Architektur nicht zu denken. Ob Frank Lloyd Wright, Alvar Aalto oder Gerrit Rietveld: Bei ihnen allen findet man nicht nur die entschlackten geometrischen Räume, die Liebe zur Linie und oftmals zum einfachen Material wieder. Auch die elegante Funktionalität eingebauter Möbel und Aufbewahrungselemente, die Flexibilität der Räume, die in Japan durch Schiebetüren gegeben ist, galten im Westen als revolutionäre Merkmale der Modernität, während sie in Japan alte Tradition waren. Mit dem Erfolg, dass uns die schnörkellosen alten Häuser im Tokioter Freilichtmuseum erstaunlich modern vorkommen.
Die historische Straße im Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum
Während ich so wandle und weiß, dass ich genau für dieses spirituelle Architekturerlebnis nach Japan gekommen bin, ist meine Familie mir entwischt. Mein kontemplatives Tempo ist definitiv zu langsam für Vater und Töchter. Gelegentlich treffe ich sie, und es ist eindeutig, dass das Museum auch etwas für die Kinder ist – trotz ihres deutlich geringeren Ergriffenheitsgrades. Die meisten kleinen Japaner sehen wir übrigens, wie nicht anders zu erwarten, in dem Areal der Museumsanlage, in dem eine Stadtstraße mit historischen Geschäften, Gasthäusern und einem Badehaus nachgebaut ist.
Die meisten der Geschäftshäuser stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert und tragen eine wunderbare nostalgische Patina – einschließlich der Waren, die in ihnen angeboten wurden und die auch heute zu sehen sind. Da gibt es Japanschirme und Schreibutensilien, Haushaltswaren, Sojasaucen, schön verpackte Lebensmittel und Kosmetika.
Offene Ladenfronten vermitteln eine Idee vom Alltagsleben und der Atmosphäre im Tokio früherer Zeiten. Immer wieder begegnen uns die für Japan typischen Linien und Gitterstrukturen aus Holz, die auch in vielen zeitgenössischen Gebäuden zu finden sind. Hier kommen wir ihrem Ursprung etwas näher, was mich nicht zuletzt im Hinblick auf meine Töchter freut, für die sich das Bild vom japanischen Stil hier etwas rundet. Wie man liest, hat auch Hayao Miyazaki, der große Zeichentrickkünstler des Studio Ghibli, das Museum gern besucht.
Fusion von moderner Architektur und japanischer Ästhetik
Diese Ästhetik kommt auch bei einem überraschenden Wohnhaus von 1942 zur Geltung, das der Architekt Kunio Mayekawa für sich selbst baute – in einer Zeit, zu der Baumaterialien wegen des Krieges rationiert waren. Kunio Mayekawa trieb die Entwicklung des modernen Bauens in Japan voran. In seinem Haus sitzt man, wie zur gleichen Zeit in Europa und Amerika, auf modernen Stühlen und Bänken, aber anders als im Westen wird der Blick nach draußen von Schiebetüren mit Gitterstrukturen eingerahmt, und die einfachen Materialien sind höchst puristisch miteinander kombiniert. In dieses Haus würde ich sofort einziehen. Da der Wunsch aus diversen Gründen höchst unrealistisch ist, schüttle ich ihn weise ab und verlasse das Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum im idealen Zen-Modus wunschloser Zufriedenheit.
INFO Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum:
Vorab ein Hinweis: Das Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum ist nicht mit dem historischen Edo-Tokyo-Museum zu verwechseln, zu dem es offiziell zwar gehört, das aber eine andere Institution an einem ganz anderen Ort ist.
Das Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum befindet sich in der Satellitenstadt Koganei, die etwa 30 Kilometer westlich von Tokio liegt und von dort aus bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist. Über verschiedene Anfahrtsmöglichkeiten gibt die Website des Museums Auskunft. Wir selbst haben einen relativ idiotensicheren Weg gewählt, der dafür etwas teurer war als nötig: Wir sind vom Bahnhof Shinjuku mit der Chuo Line zum Bahnhof Musashi-Koganei gefahren und haben von dort ein Taxi zum Koganei Park genommen, in dem das Museum liegt. Für den Rückweg haben wir uns einfach von den freundlichen Museumsangestellten sagen lassen, von wo aus wir am besten den Bus zurück zum Vorstadtbahnhof nehmen sollten.
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