Zuletzt aktualisiert am 5. Februar 2021 um 22:09
Kurze Zeit, nachdem diese Worte in unserer Familie geäußert wurden, riefen das Archäologische Museum Hamburg und Tanja Praske zur Blogparade #KultBlick auf. Das Thema: “Verloren und wiedergefunden? Mein Kulturblick” passte genau zu meinen Gedanken über die vielen alten Häuser, die meine Töchter sich schon ansehen mussten. Und über die Gründe, aus denen ich Besuche in historischen Wohnungen seit Jahren mit großer Passion zelebriere und sie zu den Essentials für meinen persönlichen #KultBlick zähle.
Die Sache mit den Alltagsobjekten
Normalerweise reagiere ich auf Sätze wie “Mama, wir haben genug alte Häuser gesehen!” mit Weghören. Wenn man sich auf Reisen jedes Teenager-Gemecker zu Herzen nehmen würde, bliebe man den ganzen Tag im Hotel oder Ferienhaus sitzen. Diesmal allerdings standen wir vor dem Eingang eines Freilichtmuseums am finnischen Pielinen-See, und plötzlich dachte ich: Ja. Sie haben wirklich genug alte Häuser gesehen. Ich habe eine schnelle Solo-Runde durch das Pielisen Museo gedreht, die Familie zufrieden und online in der finnischen Sonne zurücklassend, und mich gefragt: Warum, um alles in der Welt, schleppe ich meine Töchter eigentlich bei jeder Gelegenheit in historische Behausungen? Denn, um auf das Thema der Blogparade zu kommen, ich mag alte Häuser nicht einfach nur, sondern ich habe das Gefühl, mein #KultBlick findet in ihnen in geballter Form ganz vieles von dem, was mich mein Leben lang an Kultur fasziniert hat.
Viele Leute sind Naturfreunde: wandern über Berge, radeln durch Wälder, genießen Sonnenuntergänge am Meer. Ich mag die Natur auch sehr gerne, aber meine große Leidenschaft sind Artefakte: Dinge, die Menschen hergestellt haben. Auf dem Blog Kultourbunt ist übrigens im Rahmen der Blogparade #KultBlick ein Text entstanden, der sehr schön erklärt, warum die Natur in unseren Breiten im Grunde selbst schon wieder als Artefakt gelten kann: da sie nämlich weitestgehend vom Menschen gestaltete Kulturlandschaft ist.
Mich interessieren Artefakte, weil sie nicht nur etwas über vitale Bedürfnisse erzählen, sondern auch über die Weltsicht vieler verschiedener Menschen zu vielen verschiedenen Zeiten. Jeder einzelnen Form jedes noch so simplen Alltagsgegenstandes liegen viele Faktoren zugrunde. Während man an einem alten Stuhl einerseits ablesen kann, welche Materialien und Werkzeuge den Menschen zu einer bestimmten Zeit zur Verfügung standen und wie komplex ihre handwerklichen oder industriellen Möglichkeiten waren, sagt er vor allem eine Menge aus über die Werte, die die Menschen jeweils bewegt hat. Und zwar in zweifacher Form: Zum einen werden selbst in sehr einfachen Alltagsobjekten oftmals Schönheitsideale greifbar, die eine enge Verbindung zur generellen Weltsicht ihrer Zeit hatten. Zum anderen prägen die Dinge mit ihrer ästhetischen Ausstrahlung und ihrer funktionalen Wirkung das Leben ihrer Benutzer.
Wenn aus der Theorie Geschichten werden
Das alles ist schön, gut und sehr theoretisch. Wenn man sich alte Häuser anschaut, wird es auf einmal anschaulich: Aus der Theorie wird eine Geschichte. In einem Raum wie der Old Library des prächtigen georgianischen Landsitzes Harewood House im nordenglischen Yorkshire kann man, wenn man möchte, einiges lernen über englischen Klassizismus, über Chippendale-Möbel und über die Lebensweise sowie Selbstdarstellung des englischen Adels in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Aber bei unserem Besuch tauchen wir vor allem ein in die Atmosphäre des damaligen Lebens, die durch Einrichtungsgegenstände, Farben, Ornamente, Proportionen hervorgerufen wird.
In der Old Kitchen desselben Hauses erfahren wir, wie eine topmoderne Küche im späten 18. Jahrhundert aussah. Und während wir uns nicht wirklich vorstellen können, wie es war, hier als Köchin oder Küchenmädchen zu arbeiten, bekommen wir doch eine leise Ahnung von der Atmosphäre, in der sich das Leben “below stairs”, in den Arbeitsräumen der Bediensteten im Untergeschoss, anfühlte. Kurz: Für einige Augenblicke unternehmen wir eine Zeitreise.
Alte Häuser: Vehikel für Zeitreisen
In meinen Augen sind alte Häuser die perfekten Vehikel für Zeitreisen. Sie zeigen, wie sich das Alltagsleben abspielte und was man – auf den verschiedenen Ebenen des materiellen Status – als angenehme Lebensumgebung empfand. Häuser erzählen davon, welche Dinge den Menschen zu verschiedenen Zeiten wichtig waren, wenn sie nur das Nötigste besaßen, und sie führen vor, wie die Objekte der Begierde aussahen, wenn man reich war. Sie können die Augen öffnen für sehr ergreifende Armut und für völlig übertriebenen Reichtum. Das alles ohne anstrengende Belehrungen, sondern durch das Mit-Haut-und-Haar-Eintauchen in eine dreidimensionale Umgebung, die viele Sinne auf einmal anspricht und der Phantasie Nahrung gibt.
Kaum jemand muss besonders weit fahren, um solche Erfahrungen zu machen; Deutschland und seine Nachbarländer sind reich an Schlössern, Freilichtmuseen, historischen Wohnungen. Und oft reicht sogar schon ein gut erhaltenes Altstadtbild für ein gewisses Zeitreise-Feeling.
Wenn man jedoch die Gelegenheit zum Reisen hat, dann kann man beim Häuser-Besichtigen unter Umständen in ganz besondere Ekstase-Zustände verfallen. Mein diesbezüglich größter Moment fand in Japan statt, im Edo-Tokyo Open-Air Architectural Museum. Dieses Freilichtmuseum ist ein Mekka für alle, die ein wenig von der traditionellen japanischen Wohnkultur erleben wollen.
Beim Betreten des erstbesten japanisch-schlicht eingerichteten Hauses in diesem Museum fühlt sich unsere ganze Familie in eine völlig andere Welt versetzt. Allein durch die Einrichtung empfinden wir etwas von der japanischen Spiritualität, in der es um Konzentration und Kontemplation geht. Dieses Raumgefühl ist durch kein Buch und durch keinen Film zu ersetzen. Auch die Kinder schlägt die Atmosphäre in ihren Bann.
#KultBlick auf das, was die Dinge erzählen
Warum ich meinen Töchtern trotz vieler solcher positiver Erfahrungen das finnische Freilichtmuseum erspart habe? Ganz einfach, weil sie auf unserer Finnland-Russland-Reise schon ziemlich viel gesehen hatten und ich in ihren Gesichtern Anzeichen einer kulturellen Reizüberflutung sah. Trotzdem wünsche ich mir, dass der #KultBlick meiner Töchter bei den Alltagsdingen anfängt, denn sie erzählen unerschöpflich viel über Menschen und Zeiten. Außerdem sind wir alle überall von Artefakten umgeben und bewegen uns dank der virtuellen Realität seit einigen Jahren zusätzlich in einer Dimension, bei der jedes Detail menschengemacht ist. Um sich in dieser Welt zu orientieren, finde ich es unerlässlich, einen Sinn für das zu entwickeln, was die Dinge zu erzählen haben.
Bild ganz oben: Bauernhaus im Freilichtmuseum auf der Insel Kishi in der russischen Republik Karelien
4 Comments
Tanja Praske
Liebe Maria-Bettina,
toll, absolut toller #KultBlick – gut, mir gehen langsam die Superlative aus, eure mittlerweile 80! Beiträge zu #KultBlick zu würdigen. Jeder einzelne Kulturblick ist ein Überraschungspaket mit vielen Denkanreizen.
Ja, ich habe es bei Junior aufgegeben, ihn ins Museum und Co zu schleppen. Vielleicht reichte es aus, um ihn später aus Eigeninteresse dorthin zu bringen.
LG
Maria-Bettina Eich
Liebe Tanja,
das ist dann die nächste Frage, die uns als kulturbeflissene Eltern beschäftigen wird: Wozu führt unsere Begeisterung mittelfristig bei den Kindern? Entwickelt sie sich zu Anreiz oder zu Abschreckung? – In ein paar Jahren wissen wir mehr…
Liebe Grüße,
Maria