Zuletzt aktualisiert am 27. August 2019 um 12:11
Kaum jemand rechnet noch damit, dass die digitalen Medien das gedruckte Buch von der Bildfläche verdrängen werden. Dennoch fühlt sich der Zauber der Ausstellung “Buchwelten” im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg ein kleines bisschen trotzig an – zumindest für mich. Als wollte man sagen: Ausgerechnet jetzt, da das Buch ersetzbarer scheint als je zuvor, wollen wir zeigen, wie herrlich es wirklich ist.
Die Herrlichkeit der Buchwelten
Denn an der Herrlichkeit des Buches lässt diese Austellung keinen Zweifel. Sie zeigt zum größten Teil Kunstwerke, die aus Büchern gemacht sind; vereinzelt auch Fotokunst, deren Gegenstand Bücher sind. Das zauberhafte und publikumswirksame Aushängeschild der Schau ist die “Library” der amerikanischen Künstlerin Lori Nix (siehe Bild ganz oben): die Fotografie einer sich in romantischer Auflösung befindenden Bibliothek, in der sich die Natur Raum verschafft wie in verfallenden Häusern. Bäume schlagen Wurzeln in dieser Bibliothek, einer hat beim Wachsen bereits das Dach durchstoßen und gibt den Blick frei auf den blauen Himmel. Lori Nix baut aufwendige Dioramen im Miniaturformat, fotografiert diese Modellwelten und zerstört sie dann: ein Prozess, der dem speziellen Charme des Verfalls entspricht, der ihre menschenlosen Szenerien immer kennzeichnet. Ihre patinaüberzogene “Library” übt auf die meisten Betrachter einen magischen Sog aus; man möchte sich in sie hineinbegeben, ein Buch aus einem der Regale ziehen, einen der umgestürzten Stühle aufrichten, sich daraufsetzen und lesen, lesen, lesen.
Unendliche Verheißungen
Schließlich ist eine Bibliothek voller Bücher eine Verheißung unendlich vieler unendlicher Geschichten. Die türkische Künstlerin Irem Tok entwirft Buchkreationen, die mit winzigen, sich grenzenlos widerspiegelnden Modellbaulandschaften gefüllt sind. Sie erzählen von der Unerschöpflichkeit der Welten und Geschichten, die sich in Büchern verbergen. In ihren Buchobjekten möchte man sich ebenso verlieren wie in Lori Nix’ Bibliothek und in den Papierkunstwerken der Engländerin Su Blackwell. Su Blackwell arbeitet mit alten Büchern, aus deren Seiten sie zauberhafte Szenarien baut, deren Motive häufig Märchenstoffen und legendären Erzählungen wie “Alice im Wunderland” entspringen.
Die besondere Materialität von Büchern
Nicht nur Su Blackwell zelebriert die Magie und auch die physische Qualität von Büchern, mit der kein elektronisches Lesegerät mithalten kann. Die ganz besondere Materialität des Gegenstands, der auf vielen dünnen, zwischen Buchdeckeln festgehaltenen Seiten die immateriellen Ideen und Geschichten der Menschheit bewahrt, fasziniert einige der in Bad Homburg gezeigten Künstler. Guy Laramée schnitzt einen Canyon in die aufgeschichteten und aneinandergereihten Exemplare der Encyclopedia Britannica. Seine “Grand Library” präsentiert sich wie eine verwunschene Landschaft, deren Textur in rätselhafter Weise zwischen losen Blättern und monumentalem Gestein changiert. Hier und da finden sich an den Ausstellungswänden Zitate – darunter eines von Ernst Penzoldt, der sich eine vielgestaltige Naturszenerie aus Büchern ausmalt.
Zwischen Buch und organischer Welt
Vielleicht liegt es nicht zuletzt daran, dass Papier aus Holz gefertigt wird – auf jeden Fall lassen mehrere Künstler der “Buchwelten” die Grenze zwischen dem Informationsträger Buch und dem Organischen verschwimmen. Wie etwa Hubertus Gojowczyk, wenn er ein Vogelnest zwischen die Seiten eines alten ornithologischen Bandes setzt.
Der namhafteste der in der Ausstellung vertretenen Künstler lässt Buch und Holz verwachsen. Bei der Skulptur “Mutterkorn” von Anselm Kiefer liegen die verwesenden Seiten eines Buchs über einem vertrockneten Getreidebündel: zwei Spielarten toter Pflanzenmaterie, die auch dann eindrucksvoll sind, wenn man, wie ich, mit mangelhaftem Allgemeinwissen durch die Ausstellung geht. Dass Mutterkorn nämlich ein Pilz ist, der über den Befall von Roggen im Mittelalter zu schlimmen Seuchen führte, habe ich erst mit einigen Tagen Verspätung nachgelesen. Die etwas morbide Kombination zwischen dem Medium des Wissens und der Pflanzenwelt unter dem Vorzeichen der Verwesung funktioniert auch über die bloße Anschauung.
Ausstellung “Buchwelten”: INFO
Die Ausstellung “Buchwelten” läuft noch bis zum 4. Februar 2018 im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg. Die Öffnungszeiten sind Dienstag von 14.00 bis 20.00 Uhr; mittwochs bis freitags von 14.00 bis 19.00 Uhr; Samstag, Sonntags und an Feiertagen von 10.00 bis 18.00 Uhr. Der Eintrittspreis beträgt 5,00 Euro; für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren ist der Eintritt frei. Bad Homburg ist von Frankfurt am Main aus bequem in 21 Minuten mit der S-Bahn zu erreichen. Vom S-Bahnhof Bad Homburg sind es gute 15 Minuten Fußweg bis zum Museum.
Foto ganz oben: Lori Nix: Libarary, 2007 / (c) Courtesy of Galerie Klüser, München
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