Zuletzt aktualisiert am 26. Januar 2021 um 18:45

Die Erde dreht sich schnell, und ruck-zuck findet man sich hinter dem Mond wieder. Man muss dankbar sein, wenn man Kinder hat, die der Generation Z angehören. Zumindest, wenn sie einem hin und wieder Initiationserlebnisse im Ritualgefüge ihrer Konsumwelt ermöglichen. Wir haben viel gelernt im Flagship Store von Glossier New York.

Die Vorgeschichte

Glossier New York, SoHo
Spoiler: Wir waren da. Im immersiven Retail-Reich von Glossier New York

Tochter, 14 Jahre: Wenn wir in New York sind, will ich in den Flagship Store von Glossier.

Eltern, 50+: Was ist das?

Tochter: Ein Kosmetikgeschäft.

Eltern: Muss das sein? Kosmetikgeschäfte gibt es überall.

Tochter: Nicht Glossier. Glossier gibt es einmal in LA und einmal in New York.

Eltern (mit aufkeimendem Verdacht): Woher kennst du das?

Tochter: Ääääh… Ich sag das Ypsilon-Wort nur ungern, aber es könnte sein, dass einige Youtuber Glossier ziemlich toll finden. (Ob sie zu diesem Zeitpunkt bereits weiß, dass Glossier sogar von einer Beauty-Bloggerin gegründet wurde, lässt sich nicht rekonstruieren.)

Eltern tun, was in der Regel Teenager gegenüber ihren Eltern tun, und verdrehen die Augen.

Mutter, nach kurzem Googeln: Also gut. Dein Glossier ist in SoHo, dahin wollen wir sowieso.

Tochter: xxx (für ihren Gesichtsausdruck reicht meine Desktop-Tastatur nicht aus, dafür wären leidenschaftliche Emojis vonnönten)

Der Tag X: Bei Glossier New York

SoHo im strömenden Regen. Eine Tür in der Lafayette Street. Keine Pracht und kein Glitzer, sondern ein bescheidener Eingang, der sich als Portal zu einer Insider-Welt gibt. Glossier New York. Wir treten ein.

Glossier New York: Stairway
Stairway to Heaven

Innen nicht etwa ein belebter Verkaufsraum voller Schönheitsprodukte, sondern ein kleiner Empfangstresen. Und eine Treppe, die nach oben führt – in ein organisches Gipsgewölbe in zartestem, mattestem Rosa; einem milchigweißem Lichtkreis entgegen. Nichts in der gesichtslosen, sinnlichen und sanften Grotte verrät, wohin sie führt. Immersion scheint das Stichwort zu sein. Wir steigen auf in eine von der Alltäglichkeit losgelöste Dimension.

Am oberen Ende der Treppe erneut ein Raum mit Tresen, der muss durchquert werden, dann führen unsere Schritte ins Herz des Glossier-Grals. Mit herkömmlichen Verkaufsflächen hat das intime Intérieur, in dem wir uns wiederfinden, wenig zu tun. Auf hellen, gerundeten und gewellten Tischen stehen Flaschen, Tuben, Tiegel mit Farbakzenten vor allem in Rosa. Sie sind schlicht, aber äußerst wohlgestaltet in organischen Formen gehalten. Weich, schmeichlerisch, mit sinnlichen Wölbungen. Würde Apple-Designer Jonathan Ive Produkte für Barbie entwerfen: Sie müssten so aussehen.

Glossier Design
Wenn die Apple-Designabteilung für Barbie arbeiten würde, könnte das Ergebnis so aussehen
Glossier New York: dotcom lip balm
Die zeitgemäß-zarte Farbpalette des Dotcom-Lipbalms

In den gut geplanten Rillen der Tischchen liegen Schminkstifte und Tuben mit Lippenbalsam oder Rouge nebeneinander, angeordnet zu Farbpaletten von betörendem Pastell. Hier und da runden Blumen die duftige Ästhetik ab, eine Gipsbüste und ein paar Marmorblöcke deuten antikisch-mediterrane Assoziationen an. Wasserbassins mit Glossier-Flaschen darin verströmen eine Idee von Reinheit.

Menschen im rosa Raum

Dies ist kein Ort der konsumistischen Reizüberflutung. Die Anzahl der angebotenen Produkte ist überschaubar, man darf sie ausprobieren, dieselben Artikel sind auf verschiedenen Tischen verfügbar, damit jeder Zugang hat und sich nach Anwendung der Kosmetika im Spiegel betrachten kann. Dieser Spiegel ist bedruckt mit einer Textmessage: You are beautfiful. Subtext: Body-Shaming, Schönheitsklischees und Diskrimination waren gestern; wir leben im Zeitalter von Diversität und Selbstliebe.

An der gewellten Stirnseite des Glossier-Raums läuft ein pralles rotes Sofa mit Polstern wie aufgespritzte Lippen auf Rundbogenfenster zu. Die lassen mattes Licht herein, geben jedoch nicht die Blick auf die ruppigen Straßen von SoHo frei. Dies hier ist ein Kokon der weichen Form. Wer bei dem Sitzmöbel an das berühmte Lippen-Sofa von Dalí denkt, stammt sicher aus dem 20. Jahrhundert wie ich, aber ich verwette meine Glossier-Feuchtigkeitscreme (dazu später) darauf, dass die Designer der Gachot Studios, die zusammen mit dem Architekturbüro PRO hinter dem Look von Glossier New York stehen, das surrealistische Ding im Hinterkopf hatten.

Glossier NYC. Design: Gachot Studios
Irgendjemand hat am Ende des drallen und kurvigen roten Sofas seinen Coffee to go stehenlassen

Das Sofa ist wichtig. Mein Mann und meine eher nicht so glossige ältere Tochter entspannen sich hier mit Hilfe ihrer Handys, während das jüngere Kind sich mit höchster Konzentration dem Produktangebot widmet ist. Ein weißhaariges Paar verweilt eine Weile auf dem Sofa. Vor allem jedoch ist dieses Möbelstück ein Ort für Männer, die die Shoppenden begleiten. Mit dieser Feststellung bewege ich mich selbstverständlich in überkommenen Gender-Klischees, die im Glossier-Reich eigentlich nicht mehr gelten. Die Angestellten tragen übergroße zartrosa Overalls, an denen ihre individuelle Genderdefinition mittels eines Aufklebers angebracht ist: Es gibt die Varianten “she/her”, “he/him” und “they/their”. Das ist sehr gut, so legen wir beim Einkauf niemanden auf ein Geschlecht fest, das seine (bzw. ihre im Singular oder Plural) Äußerlichkeiten uns im Schubladendenken verhafteten Ewiggestrigen signalisieren könnten.

Glossier New York: Retail design
Mal ganz ehrlich: Hier sieht es schon ziemlich klassisch-feminin aus
Glossier NYC propagiert Diversität
Hier hinter einer Vitrine zu sehen: der Overall der “Offline Editors”

Dass die Einkaufenden trotzdem fast ausnahmslos weiblichen Genders sind – beziehungsweise ganz eindeutig nach dem aussehen, was wir noch immer recht unbefangen mit weiblichem Gender assoziieren -, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Wegweisend sind hier die sehr jungen She-Personen, doch nicht wenige werden, wie meine Tochter, von Frauen mittleren Alters beschattet. Ich wette, vielen von denen geht es wie mir, als ich zu meiner Tochter sage: “Meine Feuchtigkeitscreme ist alle, meinst du, ich sollte mir mal den Priming Moisturiser kaufen?” Überteuert ist Glossier zum Glück nicht.

Das ultimative Kauferlebnis

Im Flagshipstore von Glossier nimmt man sich nichts vom Tisch und trägt es zur Kasse. Man spricht stattdessen mit einem der rosa beoverallten, tabletbewehrten Shes, Hes oder Theys – präzise Berufsbezeichnung: “Offline Editors” – und sagt erstens, was man möchte, und zweitens, wie man heißt. Und man gibt kurz die Kreditkarte aus der Hand.

Für den Look von Glossier New York sind die Gachot Studios und das Architekturbüro PRO zuständig

Danach passiert es. Der Ort des zentralen Geschehens ist der Emfpangsraum am oberen Ende der Treppengrotte. Auf der einen Seite eine Wartebank in einer Nische mit einem eher virtuell als real anmutenden rosa-wolkigen Hintergrund von fast aggressiver Sanftheit. Auf der anderen Seite ein aufwendiges vertikales Laufband. Es bringt die mit Namen versehenen rosa Glossier-Tüten mit den individuellen Bestellungen aus einem geheimnisvollen Off in unsere Welt, lässt die Tüten für die Länge eines Handyvideos um eine Ecke laufen und überantwortet sie dann der Hand einer strahlenden Angestellten, die sie der nicht minder strahlenden Kundin überreicht.

Glossier New York
Am Ziel. Die Tüte kommt. Das Glossier-Glück ist perfekt

Wir verlassen den rosa Gral, und nichts ist mehr, wie es war. Wer bei Shopping noch an den schnöden Tausch von Ware gegen Geld denkt, war nicht bei Glossier. In dieser sanften, spirituellen, genderneutralen Welt, in der Körper und Seele in harmonischem Ambiente zu sich kommen, in der man sich ganz auf die Schönheit der Produkte, des eigenen Ichs und des persönlichen Instagram-Feeds fokussieren kann und in der man schließlich mit der unvergleichlich spannenden Ankunft einer personalisierten Tüte belohnt wird.

Hämisch sagt meine ältere, tütenfrei den Store verlassende und generell eher schwarz als rosa gestimmte Tochter zu mir: “Jetzt weißt du, dass du in einer Welt lebst, die du nicht mehr verstehst.” Aber ich wische ihren Kommentar zur Seite. Ich bin lernfähig. Und konnte inzwischen mit Befriedigung feststellen, dass auch die reifere Haut nicht mit dem Inhalt der attraktiven rosa-weißen Tube überfordert ist, die jetzt meinen Bereich der Badezimmerablage ziert. Mütter mittleren Alters, kauft euch den Priming Moisturiser von Glossier! Und freut euch, wenn ihr für einen kurzen Moment Zugang zu dem rosa Reich einer Zukunft erhaltet, in der Konsumieren eine Kulturtechnik und der Retail Space ein Ort der Selbstfindung ist.

Glossier New York und Glossier überhaupt: INFOS

Einkaufen bie Glossier New York
Alles so schön rund hier: wohliges Einkauserlebnis bei Glossier New York

Vorab die Grundkenntinsse für alle, die wie ich aus dem 20. Jahrhundert stammen und sich eher seltener mit Youtube-Beautyvideos die Zeit vertreiben: Glossier ist ein Kosmetiklabel, das 2014 von der Beauty-Bloggerin Emily Weiss gegründet wurde. Glossier war eine reine Online-Marke, und das digitale Business ist bis heute Schwerpunkt des in der Internet-Community schnell zum Kult gewordenen Labels, das sowohl beim Umgang mit Social Media als auch in Sachen Design den Puls der Zeit mitdefiniert. Global ist Glossier allerdings noch nicht; in einigen europäischen Ländern kann man die Produkte des Labels zwar ordern, in Deutschland jedoch bislang nicht.

Umso spektakulärer nahm sich die Eröffnung der beiden bisher einzigen dreidimensionalen Geschäfte der Marke aus: Seit 2018 gibt es Glossier LA und Glossier New York; beide aufwendig designt, in Millennial Pink gehalten und zu hundert Prozent instagrammable.

Glossier New York ist in SoHo zu finden: in der Lafayette Street 123. Öffnungszeiten sind täglich von 11.00 bis 21.00 Uhr. Hinkommen ist kein Problem; es gibt ausreichend Underground-Stationen in fußläufiger Entfernung, die nächste ist Canal Street. Hineinkommen kann schon ein größeres Problem sein. Um aus dem familiären Nähkästchen zu plaudern: Kurz nach unserer Reise musste mein Mann aus beruflichen Gründen wieder nach New York. Er wurde von seiner jüngeren Tochter beschwatzt, ihr noch einmal den unglaublichen Dotcom Lip Balm mitzubringen (und so eine kleine neue Tube Priming Moisturiser, dachte ich, hat auch noch niemandem geschadet). Mit dem Erfolg, dass er 20 Minuten lang in der Schlange vor dem Eingang von Glossier New York stand, bis er in einer der sukzessive hereingelassenen Kleingruppen von drei bis vier Personen eintreten durfte. Auch musste er den “Offline Editors” seine Kaufabsichten eindringlich signalisieren – bei aller Liebe zur Diversität wird ein augenscheinlich männliches Wesen mittleren Alters nicht wirklich als typischer Glossier-Kunde wahrgenommen.