Zuletzt aktualisiert am 22. November 2024 um 9:26
Nein, ich war nicht auf der Suche nach besonders beschaulichen Orten in der Megametropole. Ich wollte eigentlich nur ein paar neue, unterschiedliche Facetten der Stadt erleben. Und bin dabei unversehens in überraschend stille, eindringliche, unvergessliche Ecken geraten: verwunschene Tokio-Tipps, zu schön, um sie nicht zu teilen.
Klang nach Marketing, entpuppte sich als japanischer Garten
Es ist mein drittes Mal Tokio, und wie bei den vorherigen Reisen lasse ich mich bei der Hotelauswahl von gängigen Buchungsportalen inspirieren. Lage, Stil, Preis sollen aus der Ferne einigermaßen plausibel erscheinen, außerdem bin ich dieses Mal mit einer Freundin unterwegs, und wir wollen keine Mini-Zimmer. Unsere Wahl fällt auf das Grand Prince Hotel Takanawa, das nah am großen Tokioter Bahnhof Shinagawa liegt. Die Website wirbt sogar mit einem japanischen Garten, aber diese Info lassen wir links liegen. Wir haben großartige Reisepläne, da brauchen wir keinen Hotelgarten, der zwischen Hochhäuser gequetscht ist.
Denken wir. Genauer: Denke ich. Und werde unmittelbar nach Ankunft im Hotel auf sehr angenehme Weise einer ignoranten Arroganz überführt. Im mentalen Nebel des Jetlags nämlich sieht so ein illuminierter japanischer Garten von oben aus dem Zimmerfenster sehr hübsch aus. Gerade, weil er zwischen Hochhäusern liegt. Und beim Hindurchspazieren und Lesen der Infotafeln stellt sich sogar heraus, dass es sich hier keineswegs um eine Attraktion für Hotelgäste handelt, sondern um einen in den 1970-er Jahren auf einem ehemaligen Palastgelände angelegten Garten im traditionellen japanischen Stil, in den man sogar einige aus unterschiedlichen Gegenden stammende Gebäude von kulturgeschichtlicher Bedeutung transferiert hat. Es ist ein Traum, vielleicht allzu engagiert beleuchtet, aber dafür übertrifft er im Tageslicht des nächsten Morgens noch das, was er im Ankunftsdunkel versprochen hat. Das Ganze fängt ziemlich gut an.
Old Japan in Little Europe: das Kosoan-Teehaus
Am allerersten Tokio-Tag bin ich allein unterwegs; meine Freundin trifft ehemalige japanische Kommilitoninnen. Mein Plan ist nicht wirklich einer: Ich will herumlaufen, Tokioter Alltags-Vibes tanken und mich deshalb möglichst in ein Viertel begeben, in dem Leute wohnen. Außerdem habe ich eine kleine Liste mit interessant klingenden Tee-Orten in der Hinterhand. Einer davon ist das vielerorts hochgelobte Kosoan-Teehaus in Jiyugaoka. Einem Stadtteil, in dem sich laut Internet kleine Geschäfte und Wohnhäuser mischen. Perfekt. Das Internet erwähnt auch den Spitznamen von Jiyugaoka: Little Europe. Dafür bin ich zwar eigentlich nicht nach Japan gekommen, aber ich lasse mich nicht abschrecken.
Was für ein Glück. Der europäische Charakter Jiyugaokas will sich mir nicht richtig erschließen, auffällig allerdings ist die Häufung von kleinen Geschäften mit französischen Namen. Von der Existenz des Teehauses Kosoan muss man wissen, um es zu finden. Aus seiner Umgebung sticht es durch seine traditionell japanische Bauweise und durch den Eingang in einen kleinen Garten heraus, beschildert ist es nur mit einem unscheinbaren japanischen Namenshinweis. Ich ersticke aufkommende Hemmungen im Keim, betrete den Garten und bin in einer verwunschenen Welt. Ein kleines grünes Reich, umgeben von klassischer Holzarchitektur. Ein Eingang, an dem man die Schuhe stehen lässt, und dann der Teeraum mit niedrigen Tischen und Sitzkissen. Eine Schale Matcha, serviert mit Matcha-Cheesecake, getrunken mit beglückendem Blick auf ein intimes Gartenrefugium. Als ich das letzte Mal in Tokio war, habe ich verzweifelt nach Teehäusern gesucht, diesmal sitze ich am ersten Tag in meinem persönlichen Paradies. “Das ist Japan”, frohlockt mein Touristinnenherz, aber wie untypisch dieser kontemplative Ort für Tokio ist, belegen die fasziniert fotografierenden Japaner vor dem Eingang zum Garten des Kosoan-Teehauses.
Erst verirrt, dann versunken: Programmpunkt Kappabashi-Straße
Am nächsten Tag steuern meine Freundin und ich ein Ziel an, das ganz oben auf unserer gemeinsamen Tokio-Liste steht: die Straße Kappabashi Dori, in der dem Vernehmen nach ein Haushaltswarengeschäft neben dem anderen liegt. Wir planen, einfach mal durch diese Straße hindurchzubummeln, aber wir haben die Rechnung ohne Japan gemacht. Zunächst finden wir die ziemlich berühmte und zwischen den Stadtteilen Asakusa und Ueno auch relativ zentral gelegene Straße nicht. Wir verlaufen uns in einem Gewirr von Wohnstraßen, und es ist eine Wonne. Japanische Stadtbilder – zumindest die überschaubare Anzahl moderner japanischer Stadtbilder, die ich kenne – zeichnen sich durch ihre hemmungslose Heterogenität aus. Kein Haus passt zum nächsten, oftmals harmonieren die unteren Haushälften nicht einmal mit den oberen, der visuelle Eindruck ist chaotisch, der berühmte japanische Gestaltungswille lässt sich an den Außenansichten der Wohnarchitektur nicht ablesen. Prägende Maßgaben, so scheint es, sind einerseits die Nutzung noch der winzigsten Fläche, andererseits die Verbindung sämtlicher Bauwerke durch das ikonische Netzwerk von Stromkabeln, das so typisch ist für Japan. Ich laufe durch diese still in der gleißenden Nachmittagssonne liegenden Straßen wie durch ein psychedelisches Labyrinth.
Bis die Kappabashi Dori kommt: auch sie keineswegs eine gestylte Einkaufsstraße, sondern eine unspektakuläre Gerade mit unspektakulären Ladeneingängen. Wir wollen bummeln, aber wir versinken. Lassen uns einsaugen in einen repetitiven Kosmos von Sieben, Messern, Porzellanschälchen, Holzbrettern, Pfannen. Es ist ein Rausch mit Landeskunde-Effekt. Japan ist in kulinarischer Hinsicht schließlich ganz besonders japanisch, und die Küchengeräte erzählen unendlich viele Geschichten über Ansprüche, Wertsetzungen, Ästhetik. Wir wissen nicht, wie uns geschieht, da ist es fünf Uhr nachmittags, und die Läden machen zu.
Highlight unter den kulinarischen Tokio-Tipps: das 1899 Ochanomizu
Wir spüren schlagartig, dass uns die Beine wehtun und wir Hunger haben. Setzen uns in ein Taxi und fahren ein paar Minuten, um diesem kulinarisch geprägten Tag noch ein passendes i-Tüpfelchen aufzusetzen. Wir lassen uns nieder im Restaurant 1899 Ochanomizu, in dem sämtliche Speisen mit Tee zubereitet werden.
Dass ich diese Adresse vor der Reise im Internet entdeckt habe, hat natürlich mit meiner Tee-Obsession zu tun. Dass ich sie als einen meiner liebsten Tokio-Tipps weiterempfehle, allerdings nicht unbedingt. Was im zurückhaltend und modern gestylten Restaurant 1899 Ochanomizu serviert wird, schmeckt schlicht und ergreifend fantastisch – Tee hin, Tee her. Klare Kreationen mit Fleisch oder Fisch, außerdem sehr viel Gemüse. Ausgeprägte Aromen, bei denen der Tee keine dominante Rolle spielt, sondern das Gesamtgefüge unterstützt.
Farblich allerdings dominiert der Matcha, obwohl auch andere Teesorten in den Speisen verarbeitet und in die Drinks gemischt sind. Überhaupt die Drinks! Der Matcha Fizz wird uns unvergessen bleiben. Und das Dessert: ein Matcha-Törtchen mit Matcha-Eiscreme und kleinen süßen, sauren, würzigen Beigaben. Maximale Delikatesse.
Europäisch-japanische Avantgarde: Im Tarō-Okamoto-Museum
Ich bin noch immer verliebt in das katzen-igel-wildschweinartige Kunstwesen, das mich im Skulpturengarten des Tarō Okamoto Memorial Museum angeschaut hat: ein bisschen kawaii, ein bisschen traurig und auf hilflose Weise gefährlich.
Ohnehin bilden dieser Garten und das Museum des Tarō Okamoto ein Biotop, das von ganz eigenen Wesen bevölkert wird. Sie sprechen eine künstlerische Sprache, die unverkennbar mit den Avantgarden der klassischen europäischen Moderne verwandt ist. Der 1911 geborene Tarō Okamoto studierte in der Zwischenkriegszeit in Paris. Picasso gilt als eine seiner entscheidenden Inspirationsquellen, doch der vordergründig kindliche Blick und die spielzeughaften Formen seiner Skulpturen lassen mich noch mehr an Miró denken.
Das Museum im ehemaligen Wohnhaus des Künstlers ist eine Entdeckung. Von der Luxus-Einkaufsstraße Omotesando geht man nur einige Minuten durch das angenehme, ebenfalls reich mit Boutiquen von Nobelmarken bestückte Viertel Aoyama, um plötzlich vor einem modernen Bau zu stehen: einer Kunst-Enklave mitten in Tokio. Der Vorgarten mutet fast tropisch an; üppige Pflanzen und üppige Skulpturen scheinen einander zu durchwirken. Tarō Okamoto hatte das Haus nach seiner Rückkehr aus Europa von dem Le-Corbusier-Schüler Junzo Sakakura bauen lassen und bewohnte es von 1954 bis zu seinem Tod im Jahr 1996.
In dem sehr lebensecht erhaltenen Atelier entstanden die Werke eines Malers und Bildhauers, der wie kaum ein anderer mit den künstlerischen Traditionen Japans brach, der in Europa zunächst abstrakt, später surrealistisch gearbeitet hatte. Und der, anthropologisch hochgebildet und auch als Anthropologe tätig, die Liebe der europäischen Avantgarden zu primitiven Kunstformen teilte – ganz besonders zu Masken. Deren Verwandlung ins Cartoonhafte, die typisch ist für Tarō Okamoto, scheint mir eine einzigartige Brücke zu schlagen: von den Ausdrucksformen seiner europäischen Kollegen zu der Ästhetik eines Landes, in dem selbst die alltäglichsten Gegenstände mit Gesichtern versehen werden. Und auch zu dem Schaffen seines Vaters, den Tarō Okamoto war der Sohn eines frühen Manga-Zeichners.
Handwerkskunst und Stille im Japan Folk Crafts Museum
Das Tarō-Okamoto-Museum ist ein überraschendes Refugium in einer sehr geschäftigen Gegend Tokios. Der Weg zum Tokioter Kunsthandwerksmuseum Mingeikan hingegen fühlt sich an, als entferne man sich im Zeitraffer aus der Millionenmetropole und begebe sich in eine beschauliche Ecke eines versunkenen Japan. Und das, ohne die zentralen Stadtviertel zu verlassen.
Mit dem Tokioter Museum für Volkskunst, dem Japan Folk Crafts Museum, hat es eine besondere Bewandtnis. Gegründet wurde es 1936 durch den Philosophen und Kunstkritiker Sōetsu Yanagi, der in den 1920-er Jahren die Mingei-Bewegung gegründet hatte. Mit dem Wort Mingei bezeichnete diese Bewegung die kunsthandwerklichen Gegenstände, die die Menschen in allen Regionen Japans über Jahrhunderte für den täglichen Gebrauch geschaffen hatten. Yanagi und seine Mitstreiter entdeckten die Schönheit dieser ohne einen expliziten Kunstwillen von anonymen Handwerkern gefertigten Dinge. Sie bereisten Japan, spürten getöpferte, gewebte, lackierte und andere handgemachte Objekte auf, sammelten sie, präsentierten sie einem modernen Publikum und schufen damit ein Bewusstsein für die traditionelle Alltagsästhetik eines Landes, das sich in den Jahren zuvor massiv im westlichen Sinne zu modernisieren begonnen hatte.
Soweit die Theorie hinter dem Mingeikan, wie das Japan Folk Crafts Museum im Volksmund heißt. Die Realität ist bezaubernd – oder vielleicht eher verzaubernd. In einer stillen Straße im Wohnviertel Komaba stehen sich zwei Gebäude gegenüber, die 1936 von Yanagi entworfen worden waren: sein nur an wenigen Tagen für Besichtigungen geöffnetes Wohnhaus und das Museum, beide im traditionell japanischen Stil gebaut. Das Museum hat die Anmutung eines Wohnhauses, dunkles Holz knarzt unter unseren Schritten, eine spektakuläre Y-förmige Treppe, ein Raumkunstwerk für sich, führt ins Obergeschoss. Wir sind nicht die einzigen Besucher, aber es ist ruhig im Mingeikan. Dieses Museum ist kein Geheimnis, aber es ist auch keiner der gängigen Tokio-Tipps. Es fordert seinen Besucherinnen ein wenig Hingabe ab: den Willen, sich auf Vitrinen voller zurückhaltender – und nur auf Japanisch beschrifteter – Gegenstände einzulassen, die niemals große Geschichten von Reichtum, Adel und Pracht erzählen wollten wie so viele Museumsexponate dieser Welt. Dafür künden sie von einer Ästhetik des alltäglichen Lebens, die für mich eine der faszinierendsten Eigenheiten Japans ist.
2 Comments
katl
Zauberhafter Anfang, freue mich auf die Fortsetzung!
Stellt sich nur die Frage: Wo war ich, als du bei Taro Okamoto warst???
Maria-Bettina Eich
Beim Bogenschießen! Liebe Grüße!