Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020 um 11:57
Wenn man nichts erwartet, kann man auch nicht enttäuscht werden. Dafür aber unter Umständen überwältigt. So ging es uns in Pittsburgh. Die Stadt war ursprünglich nicht mehr als ein Name irgendwo am Rande meines Bewusstseins, landete zufällig auf unserer Reiseroute – und wurde binnen weniger Tage zu meinem persönlichen amerikanischen Traum.
Pittsburgh by night
Wir kamen bei Nacht. Suchten uns zwischen Wolkenkratzern zurecht in einer Stadtstruktur, für die der Begriff “Straßenschluchten” erfunden worden sein mag. Fanden unser Hotel Embassy Suites by Hilton, nahmen den Aufzug hinauf in unser Zimmer. Und wollten nicht mehr weg.
Um genau zu sein: Ich wollte nicht mehr weg. Aber auch der Rest der Familie war geflasht, als alle aufgereiht in ihren Betten lagen, Füße und Augen ausgerichtet auf eine bilderbuchmäßige Wolkenkratzerlandschaft. Pittsburgh glitzerte nicht, es leuchtete in einem matten Gelb: keine city that never sleeps, eher eine Stadt im verschwiegenen Halbschlaf mit geheimnisvollen dunklen Ecken.
Ketchup, Stahl, Pop-Art
Am nächsten Morgen leuchtet Pittsburgh immer noch nicht. Wir stehen zwischen hohen Gebäuden aus Backstein und mattem Beton, und von einer Hauswand schauen die “Two Andys” auf uns hinab. Der linke von ihnen ist Andy Warhol, einer der berühmtesten Söhne der Stadt, der rechte der Stahl-Tycoon Andy Carnegie. Carnegie hat Pittsburgh im 19. Jahrhundert zur hochindustrialisierten “Steel City” gemacht. Einträchtig sitzen die zwei Andys mit Lockenwicklern im Haar unter violetten Frisierhauben nebeneinander – verewigt 2005 durch die Street-Art-Künstler Tom Mosser und Sarah Zeffiro.
An einer weiteren Hauswand prangt die Erinnerung an den nächsten Pittsburgher, ohne den Amerika nicht wäre, was es ist – und zwar in Form einer überdimensionierten, gefährlich roten Ketchupflasche. Henry John Heinz wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als Spross deutscher Einwanderer in die prosperierende Industriestadt hineingeboren, und bis heute regelt die Heinz Company vom Firmensitz in Pittsburgh aus die Versorgung der Welt mit Ketchup und einer mittlerweile unüberschaubaren Fülle weiterer Lebensmittel.
Derlei Pittsburgh-Basics habe ich mir im Vorfeld angelesen, aber sie waren nicht der Grund für unseren Besuch. Was wir uns anschauen wollten, war Fallingwater: Frank Lloyd Wrights architektonisches Meisterwerk über einem Wasserfall in den Wäldern Pennsylvanias. Und da Pittsburgh die nächstgelegene Stadt ist, beschlossen wir, dort zu übernachten und uns bei der Gelegenheit ein wenig vor Ort umzusehen.
Zum Strip District – oder: Wenn der Weg besser ist als das Ziel
Wir bewegen uns in Richtung Strip District, wo laut jedem Pittsburgh-Guide, online oder offline, das coole urbane Herz der nunmehr postindustriellen Steel City schlägt. Man sollte meinen, dieser Strip District sei schwer zu verfehlen, aber wir schaffen es, uns zu verlaufen. Massiv zu verlaufen. Und das ist ein Glück. Denn der Weg ist in diesem Fall besser als das Ziel.
Wir landen on the wrong side of the tracks und können uns am eigenen Leib davon überzeugen, dass Amerika das Land der großen, tendenziell ziellosen Straßen ist. Sowie die Heimat der filmreif-poetischen Tristesse. “Let’s do it right!”, steht an einem verrottenden Eisenbahngebäude. Der Optimismus stirbt zuletzt. Ein bisschen weiter prangt der ermutigende Slogan “Improvement of the Poor” an einer Wand – verblassend. Es ist der Name einer 1875 gegründeten Wohlfahrtsorganisation für notleidende Bürger.
Mit dieser Poesie zwischen Eisenbahngleisen, Stromleitungen und Parkplätzen kommt der Strip District nicht mit. Jedenfalls nicht in unseren Augen. Es gibt Mengen von Cafés und kleinen Shops, einige gefallen uns ganz gut, aber das Viertel fühlt sich ein wenig wie ein durchkommerzialisiertes Hipster-Disneyland an.
Bei Andy Warhol in Pittsburgh
Macht nichts. Kaum sind wir auf dem Weg zu Andy Warhol, hat Pittsburgh uns wieder. Zwischen Downtown und dem Andy Warhol Museum liegt der Allegheny River. Wir überqueren ihn auf der Andy Warhol Bridge, drehen uns nach der Skyline um und holen tief Luft. Das hier ist also der Nährboden, auf dem aus empfindlichen, künstlerisch begabten Kindern slowakischer Einwanderer Stars einer ur-amerikanischen Kunstbewegung werden können – einer Kunstbewegung, die ohne Konsumkultur und Kapitalismus nicht zu denken wäre.
Pittsburgh jedenfalls verfügt über eine fantastische Warhol-Sammlung. Ich habe zwei Teenager-Töchter, die ihrer Meinung nach schon unverantwortlich viel Kunst gesehen haben, die den Besuch im Andy Warhol Museum aber ziemlich zu schätzen wissen. Man sieht die berühmten Pop-Art-Standards, aber auch sehr viel weniger Bekanntes aus Warhols verschiedenen Schaffensperioden, das sich in Teenageraugen zu einem runden Gesamtbild fügt.
Erst Andy, dann Randy: Pittsburghs alternatives Kunstareal Randyland
Aus kunsthistorischer Sicht mag es ein Frevel sein, vom Pittsburgher Andy nahtlos auf den Pittsburgher Randy zu kommen, aber für unser Gefühl fügt sich die Kreativität beider perfekt in die Vibes dieser Stadt.
Randyland ist ein buntes, wildes, schrilles und gleichzeitig extrem behagliches Kunstareal, das aus dem Traum eines einzelnen Mannes erwachsen ist. 1995 kaufte Randy Gilson eine ziemlich heruntergekommene Ruine auf der damals übel beleumundeten North Side der Stadt, auf der auch das Andy Warhol Museum liegt – letzteres allerdings wesentlich zentrumsnäher. Zusammen mit seinem jüngst verstorbenen Lebenspartner David Paul Francis McDermott verwandelte Randy Gilson im Laufe der Jahre drei Häuser und einen Innenhof in ein knalliges Wunderland. Man kann es als eine einzige Kunstinstallation sehen oder als ein Ensemble aus vielen solchen, man kann von Street Art sprechen oder von Outsider Art, doch wie auch immer man es einordnet: Randyland ist ein sympathischer Ort, der Besuchern jeden Tag – außer bei besonders strengem Winterwetter – von zehn Uhr morgens bis zur Dämmerung offensteht, und zwar ohne Eintrittsgebühr. Kleinkinder spielen hier im Sand, Mädelsgrüppchen machen Selfies – Fotografieren ist ausdrücklich erwünscht -, Anwohner treffen sich zum Plaudern, wir staunen und fühlen uns wohl. Unterstützen übrigens kann man Randyland durch Spenden oder durch den Kauf kleiner Kunstobjekte.
Amerikanischer Sonnenuntergang
Eine berühmte Sehenswürdigkeit Pittsburghs ist der Duquesne Incline: eine altmodische Zahnaradbahn, die 1870 eingerichtet wurde, um Arbeiter aus den höher gelegenen Stadtvierteln in die Flussebene zu bringen. Früher gab es diverse derartige Bahnen an den Hängen der Flüsse Allegheny und Monogahela, die in Pittsburgh zum Ohio zusammenfließen; heute sind es noch zwei. Wir nehmen keine der beiden, verbringen aber einen Abend in einem der Aussichtslokale an der oberen Station des Duquesne Incline. Das Essen ist so mäßig, wie es sich für ein Aussichtslokal nun einmal gehört – Touristen kommen schließlich auch, wenn die kulinarische Qualität schwach ist. Und obwohl wir normalerweise kritische Esser sind, ist unser Abend mit Blick auf den Sonnenuntergang über Pittsburgh das pure Glück. Niemand würde behaupten, dass diese Stadt die grandioseste Skyline der Vereinigten Staaten hätte, aber sie besitzt etwas so ungemein Anschauliches: Rechts sieht man die Wolkenkratzer der Downtown, die zwischen Allegheny und Monogahela dreieckig in den grünen Point State Park ausläuft. Links der Ohio, der sich langsam in die Weiten der amerikanischen Landschaft schlängelt. Einen mythischeren Eindruck von der Neuen Welt, in deren Wildnis man hier und da große Städte gesetzt hat, damit dort Arbeit, Geld und Menschenschicksale kulminierten, kann ich mir kaum vorstellen. Und auch keinen schöneren.
Pittsburgh mit Familie: HOTELTIPP
Wenn wir in die USA oder nach Kanada reisen, buchen wir unsere Hotels meist über den Nordamerika-Spezialisten Canusa, der ein recht gutes Preis-Leistungsverhältnis bietet – gerade, wenn man mit Kindern unterwegs ist. Canusa hat vorwiegend Ketten- und Businesshotels im Programm, in denen es in Nordamerika üblicherweise Zimmer für vier Personen gibt. Diese Adressen sind so gut wie immer in Ordnung, aber nicht in jedem Fall sprühen sie vor Charme. Das Embassy Suites by Hilton Pittsburgh Downtown allerdings, das Canusa und vorschlägt, finden wir herrlich: Untergebracht ist es in den oberen Stockwerken des 1910 fertiggestellten Henry W. Oliver Building, dessen prächtige Eingangshalle im Art-déco-Stil eine Sehenswürdigkeit für sich ist. Unser Zimmer hat nicht nur einen fantastischen Ausblick, sondern außerdem einen Vorraum mit Sofas: So viel Raum, noch dazu angenehm cool eingerichtet, hat man in einem bezahlbaren Innenstadthotel selten. (Und für diesen Tipp werde ich von niemandem irgendwie entlohnt, er entspringt schlicht der familiären Begeisterung.)
2 Comments
Jenny
Na Mensch, wieder so ein Geheimtipp. Ich weiß zwar immer noch nicht, ob ich jemals die USA besuchen werde, aber du machst mich so langsam immer neugieriger 😉
Liebe Grüße
Jenny
Maria-Bettina Eich
Tja, liebe Jenny, in Deinem Fall muss man wohl sagen: First we take Manhattan… 🙂
Ich gehöre nicht zu diesen Fans, denen das Herz höher schlägt, sobald ihr Flugzeug auf amerikanischem Boden landet, möchte auch nicht dort leben und verspüre sowohl gesellschaftlich als auch politisch eine ziemliche Distanz zu den USA. Aber zum Reisen finde ich Amerika unglaublich spannend, bereichernd, oft auch schön. Gerade dadurch, dass sich in unserer Kultur so vieles auf die USA bezieht, tragen wir ja alle irgendwelche mythischen Amerika-Vorstellungen mit uns herum – positive oder negative; egal. Das macht das echte Amerika für mich so interessant. Und für meine Töchter ist es nicht anders: Jugendbücher, Netflix-Serien – alles spielt in den USA, und dieses Land ein bisschen selbst zu erleben, ist super. Auch und gerade für Teenager, die die politischen Themen schon ein bisschen einordnen können.