Zuletzt aktualisiert am 29. März 2024 um 21:26
Hvitträsk ist ein kleines Ensemble von Architektenhäusern nicht weit von Helsinki; ein Gesamtkunstwerk, ein Jugendstil-Juwel, ein Refugium am See, ein Stein und Holz gewordener Traum von Finnland. Es ist ein Ort, den wir zusammen mit unseren Kindern zweimal im Abstand von sechs Jahren besucht haben – in diesem Sommer entgegen pubertärer Anti-Haltung und mit bemerkenswert positiver Wirkung auf die allgemeine Stimmung.
Durch den finnischen Wald
Beim ersten Mal, im August 2011, hatten wir einen Mietwagen, aber kein Navi, und Hvitträsk war kaum zu finden. Ein Jogger im finnischen Wald gab uns den entscheidenden Hinweis. Als wir sechs Jahre später einen Tagesausflug von Helsinki nach Hvitträsk planten, fragten wir vorab bei der Touristeninformation in Helsinki nach dem Weg: Wir sollten mit einem Nahverkehrszug bis nach Kauklahti fahren, dort einen Bus bis zu einer bestimmten Haltestelle nehmen, “and then you have to walk quite a bit”. Noch vor besagter Haltestelle stoppte der Busfahrer am Wegesrand, musterte uns mit Kennermiene und fragte: “Where do you wanna go?” Mit unserer Antwort hatte er eindeutig gerechnet. Um nach Hvitträsk zu gelangen, müssten wir jetzt aussteigen und dann über einen Feldweg hinein in den Wald.
In diesem Wald bekamen alle Familienmitglieder schlagartig gute Laune. Er war so ungeheuer finnisch; vor allem dort, wo er den Blick auf den Vitträsk-See freigab. Die Töchter, die eigentlich gegen einen Ausflug in die Pampa gewesen waren, nur um ein Haus zu sehen, dass sie nach Aussage ihrer Eltern bereits einmal gesehen hatten, zückten ihre Handys und machten Bilder. Eine französische Familie zog an uns vorbei: auch sie vierköpfig, auch sie mit zwei Teenagern, aber deutlich dynamischer und zielstrebiger als wir. Womit mal wieder bestätigt wäre, dass Franzosen einfach die besseren Kulturtouristen sind.
Nationalromantik: der finnische Jugendstil
Und dann: Hvitträsk. Ein um einen Hof angelegtes Ensemble aus einer großen Villa, einer kleinen und zwei Gärten, das die jungen Architekten Eliel Saarinen, Herman Gesellius und Armas Lindgren im Jahr 1901 erbauten, um dort gemeinsam mit ihren Familien zu leben und zu arbeiten. Das Grundstück lag am See, mitten in der Natur, und dennoch nicht weit von Helsinki entfernt: ein günstiger Ort für drei junge Familien, die aus der Stadt in die ländliche Idylle ziehen wollten. Diese Idylle stimmte zudem perfekt mit den künstlerischen Vorstellungen des Architekten-Trios überein, das sich schon 1896 in Helsinki zusammengeschlossen hatte. Dank dem Erfolg ihres für die Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 entworfenen finnischen Pavillons waren die drei zu führenden Vertretern des nationalromantischen Stils geworden. Diese finnische Variante des Jugendstils fand ihre Vorbilder in den alten Bauernhäusern des Landes und deren traditionellen Ornamenten, die vor allem in der Region Karelien noch zu finden waren. Auch Burgen dienten als Inspirationsquelle. Die Bauten von Hvitträsk künden von beidem: von der Faszination durch das Mittelalter und von der Begeisterung fürs Ländliche. Damit waren die finnischen Architekten nicht allein: Viele ihrer Ideale teilten sie mit der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung.
Eintauchen in einen durchgestalteten Kosmos
Soweit die Theorie, die ich meinen Töchtern von zwölf und so gut wie 16 Jahren zwar inzwischen zumuten könnte, mit der ich mich aber vorsichtig zurückhalte. Schließlich will ich die nach einer Zimtschnecke im Café von Hvitträsk langsam aufkeimende Aufgeschlossenheit nicht gefährden. Ich schätze mal, die Eltern der französischen Teenager sind da etwas weniger gehemmt.
Das Gute an Hvitträsk allerdings ist: Wenn man hinschaut, sich eine Weile durch die Zimmer dieses Gesamtkunstwerks mit den vielen ästhetisch durchdachten Details und den von den Architekten selbst entworfenen Möbeln bewegt, erfährt man durch Anschauung so viel, dass man die Theorie locker in den Hintergrund schieben kann. Wir tauchen ein in einen durchgestalteten Kosmos, der auf nahezu jedem Meter von den Träumen erzählt, die seine Architekten zu einer bewohnbaren Realität machen wollten.
Zwischen Mittelalterromantik und Schwedenstil
Da ist das Wohnzimmer (Bild ganz oben) mit seinen schweren Formen, den schmiedeeisernen Details sowie dem großartigen Teppich, den der finnische Künstler Akseli Gallen-Kallela entwarf und der über einer Bank liegt. Die Atmosphäre hat etwas Archaisches, das im nächsten Raum ein dezidiert mittelalterliches Flair annimmt: Das Esszimmer kombiniert eine Gewölbedecke, ornamentale Fresken und Bogenfenster zu einem burgartigen Interieur, das allerdings wenig von der Zugigkeit historischer Burgzimmer hat, sondern eine sehr neuzeitliche Behaglichkeit verströmt.
Das Spielzimmer der Kinder Eliel Saarinens dagegen ist weiß und leicht eingerichtet und könnte direkt einem schwedischen Kinderbuch entsprungen sein. Schon vor sechs Jahren, als wir mit unseren Mädchen von damals sechs und zehn hier waren, fand ich, dass allein dieses Spielzimmer einen Hvitträsk-Besuch mit Kindern rechtfertigen würde.
Der gebaute Traum von einem besseren Leben
Die inzwischen größeren Töchter nehmen noch etwas mehr in sich auf: den Wunsch nach einem naturverbundenen Leben, der sich in Hvitträsk in der Wahl der Materialien, in der Harmonie zwischen Bauten und Landschaft und in den großen Fenstern und Balkonen manifestiert. Die Idee, durch die Gestaltung des Alltagsumfelds das Leben zu verbessern. Die Sehnsucht nach den alten Mythen, die sich in den vielen traditionsverhafteten Ornamenten widerspiegelt. Und, last not least, das Ideal von einem kreativen Leben, das die drei Architekten von Hvitträsk durch die Verbindung von Wohnen und Arbeiten umsetzen wollten.
Dass die Töchter ebenso geflasht sind wie ich durch die spezifisch finnischen Eigenheiten dieser Jugendstil-Variante, wage ich zu bezweifeln. Aber dass sie etwas von der ganz eigenen Atmosphäre dieses nordischen Architektenhauses aufsaugen, steht außer Frage.
INFO: Hvitträsk
Seit 1971 ist das 1901 erbaute Hvitträsk Museum. Zu besuchen sind zwei Stockwerke des Südflügels im Haupthaus, die Eliel Saarinen von 1901 bis 1923 mit seiner Familie bewohnte.1923 siedelte er in die USA um, nutzte das inzwischen ganz in seinem Eigentum befindliche Hvitträsk aber bis 1949 als Sommerhaus. Arnas Lindgren war nach nur zwei Jahren aus Hvitträsk zurück in die Stadt Helsinki gezogen, während Herman Gesellius bereits 1916 verstarb. Die dem Haupthaus gegenüberliegende kleine Villa wurde 1922 durch ein Feuer zerstört und 1936 von Eliel Saarinens Sohn Eero wiedererbaut. Heute beherbergt die kleine Villa ein Café und ein Restaurant.
Wie oben geschildert, ist es nicht ganz unkompliziert, nach Hvitträsk zu kommen – es sei denn, man ist mit Auto plus Navi unterwegs. Allen anderen würde ich vorschlagen, sich bei der Touristeninformation im Zentrum von Helsinki nach den gerade aktuellen Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erkundigen. Ist man einmal da, hat man allerdings ein schönes Ziel für einen Tagesausflug erreicht, denn außer der Villa sind auch die Gärten und die Landschaft am See einen Umweg wert.
Hvitträsk ist während der Wintermonate geschlossen. Die jeweils aktuellen Öffnungszeiten finden sich auf der Website.
2 Comments
Elke
Lieben Dank noch einmal für deinen Hinweis! Euer Besuch hat sich ja richtig gelohnt. Kurioses Gebäude! Diese Schuppentier-Pfeiler! 🙂 Das werde ich beim nächsten Helsinki-Besuch einplanen. Liebe Grüße von der Küste, Elke
Maria-Bettina Eich
Ja, es ist sehr eigenwillig – und sehr finnisch! Eines der Nebengebäude ist ganz und gar im Schuppentier-Look gehalten…
Liebe Grüße in den Norden,
Maria