Zuletzt aktualisiert am 15. Juli 2024 um 23:11
Warum nur ist das viktorianische Zeitalter so gnadenlos populär, gerade bei Teenagern? Als Setting für Jugendromane ist es erste Wahl, und cooles Gothic-Styling kommt niemals ohne viktorianische Anklänge aus. Während ich wohl noch länger rätseln werde, warum das Victorian Age so hip ist, profitiere ich von den Vorteilen dieses Trends und besuche bei unserem Trip nach London mit Teenagern mit meine Töchtern Orte, an denen abgründiges viktorianisches Flair zu spüren ist.
Highgate Cemetery: die Friedhofstour
Manche Tipps bekommt man nur, wenn man Kinder im Teenageralter hat. Wir sollten uns in London unbedingt den Highgate Cemetery anschauen, sagte eine Freundin meiner großen Tochter. Mehr als den Namen hatte ich von diesem Friedhof nie gehört, aber die Website sah verheißungsvoll aus. Der viktorianische Highgate Cemetery im Norden von London, ist da zu lesen, besteht aus einem West- und einen Ostteil. Im Osten ist Marx begraben, aber die eigentliche Attraktion ist die Westhälfte, die man nur mit Führung besichtigen kann. Whatsapp der Tochter an die Freundin: Habt ihr eine Führung gemacht?, Antwort der Freundin: Ja, die Führung ist super. Wir buchen.
Friedhofsknappheit im viktorianischen Zeitalter
Ein früher, feuchter Abend. Doreen begrüßt uns euphorisch, findet Tageszeit und Wetter perfekt für den Friedhofsbesuch, und erklärt zunächst die Basics: Im frühen 19. Jahrhundert wurden in London die Friedhöfe knapp. Das lag an dem Bevölkerungszuwachs, den die Stadt im Zuge der industriellen Revolution erlebte, und auch an den Massen von Todesfällen unter jüngeren Leuten. An denen waren einerseits die katastrophalen hygienischen Zustände in den armen Vierteln des viktorianischen London schuld. Andererseits, wie Doreen es mit hörbaren Anführungszeichen formuliert, das damalige Entertainment: Prostitution, Geschlechtskrankheiten, Gewalt.
Verwunschene Wege zwischen Steinen und Moos
Um der Gräberknappheit Herr zu werden, beschloss das Parlament im Jahr 1832 die Einrichtung sieben neuer Friedhöfe in Vororten von London. 1839, als Queen Victoria zwei Jahre lang im Amt war, wurde der Highgate Cemetery eröffnet – und zwar sein heutiger Westteil. Unter wohlsituierten Londonern wurde der Friedhof bald zu einer Prestigeadresse für die ewige Ruhe, sodass er 1856 um einen Ostteil erweitert werden musste. Die spektakuläre Gräberarchitektur, die den Ort so einzigartig macht, findet sich jedoch vor allem im Westen, durch den wir geführt werden. Führungen, sagt Doreen, sind nötig, sonst ist die Gefahr zu groß, dass Besucher sich von den Wegen entfernen und von nicht mehr ganz standfesten Grabsteinen verletzt werden. Das möchte niemand von ihren Zuhörern erleben: Die Grabmale sind oft von gigantischen Ausmaßen. Außerdem sind wir Doreen für ihre Ortskenntnis dankbar, denn der Friedhof wurde von seinem Architekten Stephen Geary so angelegt, dass man auf verschlungenen Wegen wandelt, von denen aus man niemals genau sieht, woher man kommt und wohin man geht. Sehr romantisch.
Ewige Ruhe im prestigeträchtigen Umfeld
Wer in viktorianischen Zeiten etwas auf sich hielt, demonstrierte seinen gesellschaftlichen Status auch nach dem Tod: Zu diesem Thema hat Doreen eine Menge Anekdoten parat, die sie mit hübscher britischer Ironie zum Besten gibt. Die höhergelegenen, teuren Gräber und Mausoleen des Highgate Cemetery erzählen vom Standesbewusstsein ihrer Besitzer. Auf uns strahlen sie einen seltsam vertraulichen Umgang mit dem Tod aus – einerseits fühlt sich dieser Ort gothic an, andererseits seltsam friedvoll. Es ist sympathisch, zu wissen, dass der Friedhof nach einer langen Zeit der Stilllegung und nach den erfolgreichen Restaurationsmaßnahmen seit den 1970-er Jahren inzwischen nicht mehr nur ein Denkmal ist, sondern wieder ein Ort, an dem Menschen begraben werden. Schön ist auch, dass es in London mit Teenagern möglich ist, an Führungen wie der über den Highgate Cemetery teilzunehmen. Ganz einfach, weil die Kids mittlerweile genug Englisch verstehen.
Holly Village: Blick in eine versunkene Welt
Als wäre der Highgate Cemetery nicht schon verwunschen genug, kommen wir auf unserem Weg dorthin an einem baulichen Ensemble vorbei, das uns den Atem verschlägt. Durch ein verschlossenes Tor mit einer Fülle von neogotischem Spitzenwerk sehen wir in einen Garten voller romantischer und etwas unheimlicher Hexenhäuschen. Giebel und Erker, Türme wie Hexenhüte, düstere Patina und eine Jahreszahl auf dem Eingangstor: 1865.
Das Werk einer viktorianischen Philanthropin
Zum Glück sind auf dem Torbogen auch die Worte “Holly Village” zu lesen, nach denen sich erstklassig googeln lässt: Eine reiche und bescheidene Erbin, die Baroness Angela Burdett-Coutts, ließ das Ensemble von zwölf Häusern 1865 erbauen. Es war nur eines der vielen philanthropischen Werke dieser Freundin von Charles Dickens, die das Holly Village offenbar zusammen mit dem Schriftsteller plante. Meine Tochter würde gerne einziehen, aber Google macht diesen Wunsch zunichte: Fast nie, so heißt es hier, erscheint ein Haus des in England wohl einzigartigen Holly Village auf dem Immobilienmarkt; um eins zu besitzen, muss man es erben.
The Attendant: Café in der Herrentoilette
Britischer Humor? Kreatives Marketing? Upcycling? Oder einfach die sinnvolle Nutzung einer außergewöhnlichen Räumlichkeit? Wie auch immer, das Café The Attendant in Fitzrovia ist in einer ehemaligen viktorianischen Herrentoilette untergebracht. Und weil die bessere Gesellschaft es im viktorianischen Zeitalter gern demonstrativ prächtig hatte, machte die Liebe zum Ornament auch vor der öffentlichen Bedürfnisanstalt nicht halt.
Unterirdisches London
Um 1890 wurde die unterirdische Herrentoilette mit ihrem oberirdischen und irgendwie fast überirdischen Eingang gebaut. Während der vielen Jahrzehnte, während derer sie nicht mehr genutzt wurde, konnte niemand sehen, was sich unter den schmiedeeisernen Schnörkeln verbarg – bis die floral verzierten Porzellan-Pissoirs als hübsche Gestaltungselemente für Sitzplätze im Café entdeckt und entsprechend renoviert wurden. Man kann das geschmacklos finden, aber wir finden das winzige Café cool. Einerseits, weil wir auf schräge Weise ein Stück viktorianisches London entdecken, das uns sonst für immer verborgen geblieben wäre; andererseits, weil die frischen, gesunden Sandwiches und Salate ein zeitgemäßer Genuss im besten Sinne sind. Der Ehrlichkeit halber sei allerdings gesagt: Eltern, die London mit Teenagern bereisen und dabei in The Attendant hinabsteigen, müssen damit rechnen, den Altersdurchschnitt des Cafés spürbar zu heben.
INFO London mit Teenagern:
Highgate Cemetery
Der Highgate Cemetery besteht aus in zwei Teilen: Der East Cemetery, auf dem Karl Marx begraben ist, kann ohne Führung zu einem Eintrittspreis von 4 Pfund besucht werden; für Personen unter 18 ist der Eintritt frei. Der West Cemetery mit seiner spektakulären Friedhofsarchitektur ist nur im Rahmen einer Führung zu besichtigen. Erwachsene zahlen 12 Pfund, für Kinder und Teenager von 8 bis 16 liegt der Preis bei 6 Pfund, jüngere Kinder sind bei den Touren nicht zugelassen. Führungen kann man über die Website online buchen. Wie man am besten zu dem im Norden Londons östlich von Hampstead Heath gelegenen Friedhof kommt, hängt von der Ausgangsposition ab. Eine detaillierte Wegbeschreibung mit Karte gibt es als Download auf der Website des Friedhofs.
Holly Village
Das Holly Village kann man nur von außen besichtigen. Es liegt gegenüber der südlichen Seite des Highgate Cemetery East und ist von der Swain’s Lane aus einzusehen.
The Attendant
Das Café The Attendant gibt es dreimal in London; die Location in der viktorianischen Herrentoilette ist in Fitzrovia gelegen, in der Foley Street 27a. Die nächste Underground-Station ist Goodge Street; der Fußweg dorthin dauert zwischen fünf und zehn Minuten.
Danke an Crazyb00ks für den Tipp, den Highgate Cemetery zu besuchen!
Zu weiteren Tipps für London mit Teenagern geht es hier
5 Comments
Silke
Danke für den tollen Tipp! Unfassbar schön und mystisch. Egal ob mit oder ohne Teenager, beim nächsten Londonbesuch steht auf jeden Fall die Highgate Cemetery auf der to-see-Liste.
Maria-Bettina Eich
Liebe Silke, Du wirst es nicht bereuen! Die Führung dort war wirklich eine gute Stunde reine Verwunschenheit, jenseits des normalen Lebens – gewürzt allerdings mit wunderbar britischen Anekdoten!
Liebe Grüße,
Maria
Ulli B
Highgate Cemetery: SUPERTIPP!!!
Romantik unter großen Bäumen. Eine Insel der Ruhe!
Wir waren im Juli 2018 mit 3 Teenagern da.
Wir haben einige Tage vorher gebucht. Ging alles unkompliziert.
Der Rundgang war in Englisch. (Leider ist meines nicht gut genug, so dass mir sicher einige Geschichten und Kuriositäten entgangen sind.)
Der Friedhof wird von einem Non-Profit-Verein betrieben.
Maria-Bettina Eich
Toll, von Eurer Erfahrung zu lesen! Ich finde, um von dem Ort etwas zu haben, muss man auch gar nicht alles verstehen, was die Führerin oder der Führer sagt – Hauptsache, Herumlaufen und die Stimmung miterleben.
Herzliche Grüße,
Maria