Zuletzt aktualisiert am 30. Juni 2017 um 18:56
In Rekordzeit splittet sich die Familie in zwei Teile: Der Vater sagt “Nichts für mich”, und die große Tochter wendet nur angewidert den Kopf. Die Mutter findet, eine Ausstellung über Fleisch in der Kunst müsse man unbedingt anschauen, während das jüngere Kind sich durch das etwas grausige Thema zum Mitkommen in die Villa Rot anstacheln lässt.
Jana Sterbak: “Vanitas: Flesh Dress for an Albino Anorectic”
Unsere Familien-Aufsplittung, der die Absage einer Freundin vorausging, die eigentlich mit mir zur Ausstellungseröffnung von “Fleischeslust” kommen wollte, dann aber den Flyer sah und lieber zu Hause blieb, ist eigentlich schon ein ziemlicher Erfolg für die aktuelle Schau in der Villa Rot. Wann vermag Kunst bereits so zu polarisieren, bevor man sie überhaupt gesehen hat? In der Villa Rot im oberschwäbischen Burgrieden (knapp 25 Kilometer südlich von Ulm) hat man sich in den letzten Jahren nicht gescheut, die Kunst von einer sehr körperlichen Seite anzugehen: Es gab eine Ausstellung über Tattoos sowie eine über Haare, und jüngst ging es um das Thema Geruch in der Kunst. Vor einem gewissen Ekel-Faktor ist Museumsleiterin Stefanie Dathe dabei nie zurückgeschreckt.
Jana Sterbak: “Chair Apollinaire”
Wir auch nicht; diesmal allerdings betreten wir die Ausstellungsräume in der idyllischen Villa mit mehr Zögern als je zuvor. Etwas beklommen schnuppern wir. Riecht es hier nach Fleisch? Oder ist der Stoff nur auf Leinwände, Fotos, Videos gebannt? Nicht ausschließlich. Im zweiten Raum steht Jana Sterbaks Sessel “Chair Apollinaire” – ein Wortspiel zwischen dem englischen Wort für Stuhl und dem französischen für menschliches Fleisch -, der mit Rindfleischscheiben bezogen ist. Zum Glück getrocknet und geruchsfrei. Oder? Meine Tochter ist nicht ganz sicher. Jana Sterbak ist eine Fleisch-Künstlerin, die keine Hemmungen kennt. Ihr Kleid aus Frischfleisch (siehe Foto oben) ist zu einem berühmten und höchst umstrittenen Kunstobjekt geworden, popularisiert durch einen sehr ähnlichen Dress, in dem Lady Gaga aufgetreten ist.
Wir sehen viel gemaltes Fleisch. Wenn uns nicht gerade Gedärme entgegenquellen, findet meine Zehnjährige das gar nicht so eklig, sondern manchmal sogar schön. Bei anderen Exponaten würde ich ihr gern die Augen zuhalten, besonders bei diversen Videos, die Gewalt und Morbidität sehr effektvoll mittels viel menschlichen Fleischs zum Ausdruck bringen.
Next Nature Net: “Bistro-in-vitro (Knitted Meat)”
Wir sind ein wenig erleichtert, als wir bei einer Vitrine mit einem amüsanten gestrickten Steak ankommen, dessen Struktur “Meat” buchstabiert. Die Organisation Next Nature Net hat sich in einem kreativen Projekt mit Möglichkeiten von in vitro gezüchtetem Fleisch beschäftigt: experimentell, mit etwas Humor und etwas Ernst. Unter anderem kann man sich auf einem Bildschirm sein In-vitro-Fleischmenü zusammenstellen – in der Villa Rot ebenso wie zu Hause, denn das Bistro In Vitro existiert auch online.
Sehr hautnah wird die Fleischlichkeit mit Wim Delvoyes Fleischmosaik und dem wunderbaren Wurst-Teppichladen von Fischli/Weiss, beide zum Glück per Foto und nicht als Frischfleisch präsentiert.
Fischli/Weiss: “Wurstserie (Im Teppichladen)” (c) The Artist,Sprüth Magers,Mathew Marks,Eva Presenhuber
Als wir den älteren Museumstrakt, die eigentliche Villa Rot, verlassen, fühle ich mich seltsam körperlich angegriffen durch diese Konfrontation mit dem Stoff, aus dem ich bin und den ich manchmal esse. Die morbide Schönheit von Vera Mercers fotografierten Stillleben in der neu angebauten Kunsthalle lässt mich – anders als meine Tochter – aufatmen. Inspiriert von Renaissance- und Barockgemälden, bieten sie eine Distanz zu der allzu leiblichen Innenansicht des Fleischs, die wir gerade hinter uns haben.
Vera Mercer: “Pig Feast Omaha” (c) Courtesy by the artist and WERKHALLEN OBERMANN BURKHARD
Noch bis zum 21. Februar 2016 läuft die Ausstellung “Fleischeslust” in der Villa Rot. Sie zu besuchen, bedeutet für – möglichst nicht allzu kleine – Kinder wie für Erwachsene, sich einem sinnlichen Erlebnis auszusetzen, das massiv unter die Haut geht: im Wortsinne. Als wir das Museum verlassen, spüren wir eine neue Sensibilität für diesen eigenwilligen Stoff Fleisch. Das finde ich bemerkenswert, dennoch sind in “Fleischeslust” für mein Empfinden etwas zu viele Arbeiten zu sehen, die auf Schockeffekte setzen, deren Eindruck aber schnell verpufft. Bilder von ihnen unterschlage ich in diesem Blogbeitrag und zeige lieber die, an die wir uns erinnern werden – wie das “Stillleben mit Fleisch” von Katharina Arndt (siehe ganz oben), das meine Tochter cool fand.
3 Comments
Marlene
Das klingt ja wirklich nach einer gewagten Ausstellung, die einiges vom Besucher fordert. Allerdings ist Wegsehen manchmal auch feige. Wer den Anblick eines toten Fischs vorm Zubereiten nicht ertragen kann, sollte sich vielleicht näher mit seinem entfremdeten Verhältnis zu seinem Essen beschäftigen. Bei der Ausstellung scheint es aber ja auch um Fleisch, das nicht gegessen wird, zu gehen.
Viele Grüße,
Marlene
Maria-Bettina Eich
Hallo, Marlene,
in der Tat geht es nicht nur um Fleisch, das fürs Essen bestimmt ist. Trotzdem wäre die Ausstellung für Vegetarier eine Zumutung! “Gewagt” ist sicher das richtige Wort.
Herzlich,
Maria