Zuletzt aktualisiert am 26. September 2019 um 17:41

Tanja Praske hat zu einer Blogparade mit dem Thema “Kultur ist für mich…” aufgerufen. Was Kultur für mich ist? Gute Frage. Immerhin blogge ich seit zweieinhalb Jahren über Kultur mit Kindern; genauer: über Kunst und Reisen mit Kindern und Teenagern. Wobei Reisen für mich eng mit Kultur verknüpft ist. Warum das Ganze?

P1110412bTrommeln:  oben von Claes Oldenburg und Coosje van Bruggen, hier von kanadischen Inuit

Es gibt viele Definitionen der Wortes “Kultur”; einige hervorragende in den Beiträgen dieser Blogparade. Ich würde salopp behaupten, dass Kultur da anfängt, wo der Instinkt aufhört. Sprich: Da, wo wir die uns umgebende Welt nicht mehr instinkthaft-unreflektiert als reines Medium unserer vitalen Bedürfnisbefriedigung wahrnehmen und nutzen, setzt bereits Kultur ein. Wenn wir die Möglichkeit haben, die Büffelherde nicht mehr nur unmittelbar als Nahrung oder Tod zu sehen – je nachdem, wie der Tag läuft -, sondern wenn wir eine gewisse mentale Distanz zu ihr aufbauen, dann beginnen wir, sie zu interpretieren.

Zum Beispiel fangen wir an, Tiere als symbolbehaftete Wesen zu deuten, die wir in Höhlenmalereien verewigen, wie das in unserem Kulturkreis getan wurde. In anderen Kulturkreisen hat man die Umwelt – Pflanzen, Tiere, die Erde, das Wetter, die Mitmenschen – anders interpretiert als bei uns. Dass sich Kulturen in regionalen Gruppierungen ausgebildet haben, ist dabei kein Wunder. Natürlich kann jeder Einzelne eine eigene Sicht auf seine Umwelt entwickeln, doch die großen, wirkungsvollen Interpretationen der Welt sind immer im Kollektiv entstanden. Was wohl damit zu tun hat, dass der Mensch nicht allein lebt und es eine gewisse Verbindlichkeit von Werten geben muss, damit viele Einzelne gemeinsam überleben.

So weit, so gut. Die Tatsache, dass sich so viele geographisch und epochal unterschiedliche Kulturen ausgebildet haben, bedeutet letztlich, dass es für uns Menschen eine Vielfalt von möglichen Interpretationen unserer Umgebung gibt und dass wir der Welt grundsätzlich mit einer gewissen Deutungsfreiheit gegenüberstehen. Für viele Menschen ist der Alltag natürlich von der Abwesenheit solcher Freiheit gekennzeichnet; sie sind fest eingebunden in Funktionszusammenhänge oder sogar in ideologische Systeme und haben nicht die Wahl, ihrer Umwelt mit der Attitüde von Freiheit entgegenzutreten. Hier kommt die Macht von Kulturkreisen zum Tragen, die durchaus die individuelle Freiheit beschneiden kann.

P1110010bWie würde es sich anfühlen, hier zu wohnen, auf Montréals Plateau du Mont-Royal?

Und was hat das jetzt mit Reisen und Kunsterlebnissen en famille zu tun? Für mich: alles. Wenn ich reise, bleibe ich an dem Ort, an den ich reise, zwar ein Fremder, aber ich nähere mich so sehr an, wie es mir möglich ist, und für die Dauer von ein paar Wochen, manchmal nur ein paar Tagen, erlebe ich, wie Menschen andernorts ticken, und sehe die Welt gelegentlich sogar für Momente durch ihre Brille.

Ähnlich ist es bei Kunsterlebnissen: Kunst ist eine ganz dezidierte Methode der Weltinterpretation; sie bringt kulturelle Sichtweisen auf den Punkt. Früher kultischen, religiösen, politischen Deutungszusammenhängen verpflichtet, heute mehr von individuellen Perspektiven abhängig, zeigt sie uns, auf welche Weisen wir Welt wahrnehmen können. Besonders seit dem Beginn der Moderne hält sie uns vor Augen, was für eine ungeheure Vielfalt von Wahrnehmungsmöglichkeiten es gibt – und erzählt uns, dass wir frei sind in der Wahl unserer Perspektive.

pigs.jpg!LargeDa sag’ noch einer, ein Schwein sei einfach ein Schwein! Diese beiden sind von Franz Marc

Hier liegt für mich die Verbindung von Kunst und Reisen: Beides verhilft uns dazu, die Welt aus unterschiedlichen kulturellen Blickwinkeln zu sehen. Eine solche kulturelle Aufgeschlossenheit ist bereichernd für Geist und Sinne. Fördert Toleranz. Kann uns glücklich machen, wenn sie uns stimuliert. Aber die kulturelle Aufgeschlossenheit bringt auch eine emanzipatorische Erfahrung mit sich: Wir lernen, dass dieselben Phänomene unserer Umwelt ganz verschiedene Dimensionen haben; je nachdem, durch welche Brille wir sie sehen. Dass niemand unsere Perspektive festlegen kann, kein System und keine Sozialgruppe. Dass alltägliche Routinen weniger erstickend sind, wenn wir uns die Freiheit des Blicks bewahren.

Was Kultur für mich persönlich ist? Inspiration für solche Erfahrungen. Und damit einer der zentralen Werte, die ich meinen Kindern mit auf den Weg geben will.

P1050860bDiesen Stuhl hat der koreanische Künstler Kim Myeongbeom aufgehängt