Zuletzt aktualisiert am 27. September 2021 um 18:18
Linz hat einen Donauhafen, der seit fünf Jahren Street-Art-Hafen ist. Das heißt: Überall auf dem Hafengelände sieht man Lagerhallen, Mauern und Container, die mit großen Murals und kleineren Graffiti besprüht und bemalt wurden. Ständig kommen neue hinzu. Während einer Mural Boat Tour kann man sie vom Wasser aus ansehen – und danach bei einem Schnupperkurs selbst mit einer Spraydose auf Wände malen. Wir haben es mit unseren Teenager-Töchtern ausprobiert und hatten danach ziemlich gute Laune.
Ein Samstagnachmittag im Linzer Hafen
Der Samstagnachmittag fängt gut an. Karten für die Mural Boat Tour in der Hafengalerie Linz gibt es in einem Art Space, das seinen Namen verdient: Das Gebäude am Linzer Gewerbehafen ist ein großer Schaukasten voller Bilder und Installationen, die Lust machen auf das, was die nächsten zwei Stunden bringen. Wir werden in Leuchtwesten gehüllt, weil das im Hafengebiet Vorschrift ist, und folgen unserem Guide zur Bootsanlegestelle.
Der Weg dorthin ist bereits ein Teil des Ziels, denn im Linzer Hafen kann man schauen, wohin mal will; irgendein Gemälde oder Graffiti sieht man immer. Macht sich natürlich cool auf dem Industriegelände.
Street-Art-Historie auf dem Wasser
Unser Boot cruist ein wenig vor sich hin, dann beginnt Leonhard Gruber mit seiner Moderation. Gruber ist einer der drei Initiatoren des Mural Harbor, und er geht das Thema Street Art sehr fundiert an: Er spricht über die mexikanischen Muralisten des frühen 20. Jahrhunderts, zieht die Linie zu den Graffiti-Sprayern im New York der Achtziger, die bereits damals Verbindungen zur etablierten Kunstszene hatten, und springt dann nach Europa, wo sich die Street Art vor allem in Frankreich schon früh zu einer anerkannten Kunstform entwickelte. Wow: Kunstgeschichte unter freiem Himmel und im lässigen österreichischen Tonfall. Hat nichts zu tun mit den von unseren Töchtern verschmähten Museumsführungen.
Die internationalen Stars des Mural Harbor
Heute, sagt Leonhard Gruber, gelte die Street Art manchen als die größte Kunstbewegung der Menschheitsgeschichte. Und man merkt ihm an, was es ihm bedeutet, einige der Stars dieser Kunstbewegung für den Linzer Hafen gewonnen zu haben. Zum Beispiel den Belgier ROA, dessen riesige, oftmals geschundene, unendlich fein und vorwiegend in Schwarz-Weiß gemalte Tiere zu den großen Werken der urbanen Wandmalerei gehören. Gruber erzählt, wie es war, als ROA seinen in der Mitte zerschnittenen, dann verdrehten Bock und einen Vogel auf ein Linzer Hafengebäude gebracht hat: Er habe einfach angefangen mit den Tieren, ohne sich vorher auf der Wand ein Konzept zu machen, und dann fünf Tage lang weitergemalt, auf dem Korb einer Hebebühne, vom Morgen bis zum Abend: Knochenarbeit, die Beharrlichkeit erfordert und sich für Gruber in ihrem Anspruch deutlich vom schnellen Graffiti-Schriftzug unterscheidet.
Einer, der ebenso freihändig, ebenso versiert im Großformat und ebenso geschickt im Umgang mit den baulichen Gegebenheiten arbeitet wie ROA, ist der Spanier Aryz. Er hat 2014 das berühmteste Bild des Linzer Mural Harbor gemalt – und zwar ganz klassisch mit Farbrollen, nicht mit Spraydosen. Sein Bild von einer Mutter, das ihren missmutig-verwöhnt wirkenden Sohn umarmt, misst 30 auf 15 Meter – und befindet sich auf einem der Betonsilos, die zu der Zeit errichtet wurden, zu der Hitler die “Führerstadt Linz” plante. Aryz hat sein Bild “Overprotected” genannt. Ich drehe mich um, weil ich das Grinsen meiner Tochter im Rücken spüre. Der Abriss des Silos ist übrigens geplante Sache: Street Art ist nur selten für die Ewigkeit.
Morbide Österreicher
Auch Österreich hat seine Street-Art-Stars. Zum Beispiel Nychos, der seine Vorliebe für Knochen und Eingeweide gern damit erklärt, dass er aus einer Jägerfamilie kommt. 900 Quadratmeter misst seine umwerfend detaillierte Schlange mit dem Titel “Translucent Serpent”, die er für die Linzer Hafengalerie geschaffen hat.
Einem anderen Österreicher können wir während der Bootstour beim Sprayen zuschauen, was unsere jüngere Tochter sehr beeindruckt: Size Two bemalt die Kühlhalle des Linzer Hafens, und wir bekommen einen Live-Eindruck von der Malerei eines gigantischen Murals. Die Hafen AG ist die große Unterstützerin des Linzer Street-Art-Projekts, sie hilft auch finanziell – damit die Künstler anreisen können, untergebracht und verpflegt werden, Material bekommen. Eine Gage allerdings ist nicht drin; wer in den Mural Harbor kommt, der arbeitet unentgeltlich: weil ihn die Location reizt, er sich für eine bestimmte Wand begeistert, die Freiheit genießt, die der Hafen den Künstlern lässt. Die Ausnahme von dieser Regel ist just der augenblicklich malende Size Two: Der Chef des Hafens hatte sich zum ersten Mal ein Thema für ein Bild gewünscht. Er wollte der Kühlhalle ein Denkmal setzen. Also siedelt Size Two eine seiner grotesken Szenerien diesmal in einem Iglu an.
Nimm die Spraydose in die Hand
Die Bootstour dauert rund eine Stunde, danach übernimmt Grubers Kollege. Er steht vor einer bunt besprayten Hauswand, vor sich Kartons mit Spraydosen, und erklärt uns in Kurzversion, wie man einen der typischen Graffiti-Schriftzüge, einen Tag, aufbaut. Wichtigste Message: Just do it; viel könne man nicht falschmachen, und im Zweifel wird übermalt.
Dann dürfen wir an die Spraydosen. Zum Glück sind wir viele Teilnehmer, die Hemmungen fallen schnell. Keines unserer Familienmitglieder hatte auch nur die geringste Ahnung, wie viel Spaß es macht, Hauswände zu besprühen. Unsere ältere Tochter findet das Subversive am Kunstgenre Graffiti faszinierend. Ihre jüngere Schwester legt einen coolen sorbetfarbenen “True”-Schriftzug hin und kalkuliert den Preis für ihre künftige Karriere als Sprayerin. Was sie interessiert, sind nicht die Kosten für Sprühdosen, sondern die Strafgebühr für illegal Gemaltes.
Mein Fazit am gewittrigen Ende eines heißen Nachmittags: Selten bei einem Familien-Städtetrip so eine gute Aktion gefunden wie die Mural-Bootstour mit Graffiti-Crashkurs. Alle sind auf ihre Kosten gekommen: Die Bilder sprechen Kinder ebenso an wie Erwachsene – einerseits wegen ihrer oft klaren und emotionalen Motivik, andererseits, weil die Umstände ihrer Entstehung beeindruckend sind. Von der Moderation der Bootstour hatten wir Eltern sehr viel, und wir gehen davon aus, dass auch bei unseren Töchtern einiges angekommen ist. Immerhin sind sie schon zwölf und fast 16: ein gutes Alter für die gerne mal subversive Street Art. Die Sprühdose am Ende selbst in die Hand nehmen zu können, ist das Tüpfelchen auf dem i. Geht auch mit jüngeren Kindern, macht natürlich auch ohne Kinder Spaß, ist aber perfekt für Teens.
INFO Mural Harbor Linz:
Der Mural Harbor liegt etwa drei Kilometer östlich von der Linzer Altstadt. Parkplätze sind vorhanden. Die Mural Boat Tour mit Graffiti-Crashkurs findet samstags von 15.00 bis 17.00 Uhr statt, über die genauen Termine informiert die Website. Der Eintritt liegt regulär bei 25,00 Euro (ermäßigt 20,00 Euro), aber für Familien gibt es besondere Angebote: Ein Elternteil mit Kindern zahlt 35,00 Euro, ein Elternpaar mit Kindern nimmt für 60,00 Euro teil.
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