Zuletzt aktualisiert am 9. April 2018 um 11:11
Seit der Song „Gangnam Style“ das Internet erobert hat, spricht die Welt über Südkorea. Wenn man das Land besuchen will, kann man gleich in Gangnam anfangen: Namensgeber des Hits ist ein Teil der Hauptstadt Seoul.
Der rundliche junge Diktator in der Nordhälfte des geteilten Landes ist Mediennutzern bestens bekannt. Aber Südkorea? Markennamen wie Samsung und Hyundai fallen einem schnell ein, doch ein Gesicht hatte Südkorea für den Durchschnittseuropäer nicht. Bis Psy kam. Der südkoreanische Rapper mit ebenfalls rundlichem Gesicht brachte mit “Gangnam Style” den K-Pop bis in die entlegensten Winkel der Welt: knalligen Pop aus dem alten „Land der Morgenstille“. Im asiatischen Raum ist die koreanische Entertainment-Industrie schon lange auf dem Siegeszug, doch dass man in bayerischen Provinzstädten aus geöffneten Autofenstern einen Hit von der ostasiatischen Halbinsel hört, hätte vor einem Jahr niemand erwartet.
Jetzt tanzt die Welt den Pferdetanz. Bei „Hey, sexy Lady!“ stimmen alle ein. Der Rest ist schwieriger; wer kann schon Koreanisch? Was ist überhaupt Gangnam? Und erst recht Gangnam Style? Das Internet weiß dazu auch nicht so viel zu sagen; im Wesentlichen: Gangnam ist der Name eines modernen und schicken Stadtteils der südkoreanischen Kapitale Seoul.
Gangnam: die moderne Südhälfte von Seoul
Ein Stadtteil? Durch Seoul zieht sich der Fluss Han, und Gangnam ist das Zentrum seiner Südseite – nach europäischen Maßstäben eine Hochhausmetropole für sich mit riesigen Bürogebäuden aus Beton, Stahl und Glas, breiten Einkaufsstraßen und Wohnblocks, die circa eine halbe Million Menschen beherbergen. Vornehmlich Wohlhabende: Die Immobilienpreise, in Seoul ohnehin hoch, sind in Gangnam immens. Große Unternehmen haben hier ihre Firmensitze, Luxuskaufhäuser und internationale Nobelmarken siedeln sich bevorzugt in Gangnam an, über ganze Straßenzüge erstreckt sich Koreas „Beauty Belt“ mit über 400 Schönheitskliniken.
„Als ich ein Kind war, waren hier Reisfelder und eine Erdnussfabrik“, erklärt unser Stadtführer. Der Mann wirkt jung. „Das war vor 30 Jahren“, präzisiert er. Seoul ist seit 600 Jahren die Hauptstadt eines Landes mit einer 4000-jährigen Historie. Gangnams 30 Jahre nehmen sich vor diesem Hintergrund wie ein Wimpernschlag aus. Und stehen symbolisch für die jüngste Geschichte Südkoreas, das nach Ende des Koreakrieges im Jahr 1953 ein bitterarmes Land war – ärmer als Nordkorea, das sich damals wirtschaftlicher Unterstützung durch die Sowjetunion erfreute. Seoul war im Koreakrieg zu großen Teilen zerstört worden. Manch ein älterer Koreaner sieht Parallelen zum Westdeutschland der Nachkriegszeit – und wie Westdeutschland erlebte Südkorea sein Wirtschaftswunder. Die 60-er und 70-er brachten den Aufschwung; Zugpferde waren die großen Industriekonzerne wie Samsung und Hyundai. Seoul expandierte, und mit Gangnam entstand ein Stadtteil, der diese bis heute andauernde Entwicklung repräsentiert.
Gangnam Style auf den Straßen und in den Kaufhäusern
Es ist kalt in Seoul im Winter 2012/13. Ein Rekordwinter, sagen die Leute. Bei Temperaturen von minus 16 Grad bedeutet Gangnam Style: hohe Pumps, in denen Frauen gelassenen Schritts über die vereisten Bürgersteige schreiten; bekleidet mit schwarzen Kleidern und Mänteln, die oberhalb des Knies enden. Lange glatte Haare, entspannte Gesichter. Ihr Essen kaufen sie in den Lebensmittelabteilungen der Kaufhäuser, von deren Eleganz Seoul-Touristen lange schwärmen.
Gangnams großes unterirdisches Einkaufszentrum COEX steckt voller gutgelaunter Produkte: Notizhefte mit Ohren, Kugelschreiber mit Tierköpfen, Sticker mit Cartoongesichtern, freundlich lächelnde Haarspangen. Die verzückten Kundinnen sind dem Kindesalter deutlich entwachsen. „Die Frauen hier lieben alles, was irgendwie süß ist“, bestätigt die koreanische Freundin. Gangnam Style ist für den designbewussten Touristen eine Pause vom nordeuropäischen guten Geschmack. Mit dem hätte Psy es auch nie zu seinem Hit gebracht, dessen Reiz sich dem doppelbödigen Spiel zwischen Faszination und Ironie gegenüber Pop, Glitzer und Konsum verdankt. Ein bisschen Hingabe ans Kawaii-Syndrom, wie die Japaner die Leidenschaft fürs Niedliche nennen, muss an diesem Ort sein. Wer das alles unbedingt als Kitsch abtun will, ist selber schuld.
Auch auf der anderen Seite des Flusses Han, im älteren Teil von Seoul, haben die Konsumprodukte Augen und Ohren. Hier kauft man sie allerdings nicht im Einkaufszentrum, sondern auf dem Namdaemun-Markt. Der zweitgrößte Markt Seouls ist eher ein kleines Stadtviertel: ein Gewirr von Gassen, deren Seiten von Marktständen gesäumt sind. Dazwischen immer wieder Eingangstüren zu mehrstöckigen Markthallen. Vom Frischfisch bis zur Steppdecke kann man hier alles kaufen, und zwar die ganze Nacht hindurch. Aktueller Verkaufsschlager in Korea: strassbesetzte Häschenköpfe, bunte Puschel und winzige Psy-Figuren, die man in die Kopfhörerbuchse des Smartphones stecken kann. Auch, wenn man die nicht braucht: Auf einen Marktbesuch sollte kein Seoul-Tourist verzichten. Ebensowenig auf die Besichtigung eines der alten Königspaläste der Joseon-Dynastie, die von 1392 bis 1910 in Korea herrschte. Der älteste, größte und prächtigste ist der Gyeongbokgung-Palast. Tore und Palastgebäude mit Pagodendächern, wundervolle auf Holz gemalte Ornamente, ein opulenter Thronsaal und royale Schlafräume: Bilderbuch-Asien.
Historisches Korea in Gangnam: der Bongeunsa-Tempel
Wenn man von den historischen Sehenswürdigkeiten absieht, unterscheidet sich das traditionelle Seoul gar nicht so sehr von Gangnam. Hochhausmassen beherrschen auch hier das Bild: Appartementblocks und Bürogebäude. Dahinter tauchen immer wieder die leicht beschneiten Berge auf, die die Stadt begrenzen. Sie lassen das Naturparadies erahnen, als das Korea gilt. Selbst im hypermodernen Gangnam bekommt man von den Naturschönheiten des Landes eine kleine Vorstellung. Hier steht der über tausend Jahre alte Bongeunsa-Tempel, ein Zentrum des koreanischen Zen-Buddhismus. Das Gelände, in das die Tempelbauten eingebettet sind, ist baumbewachsen und hügelig – ganz so, wie es die traditionelle Tempelarchitektur bevorzugt. Was allerdings früher eine ruhige ländliche Umgebung war, ist heute Megacity. Unter einem Baldachin von roten Lampions siegt die Magie des Ortes übers Großstadt-Feeling. Die Gebetshallen darf jeder betreten, der die Schuhe auszieht; es herrscht reges Kommen und Gehen von Gläubigen, die sich kürzer oder länger auf einem Kissen zum Gebet niederlassen. Nie hat haben wir das Gefühl, zu stören.
Außerhalb der Tempelmauern wieder Gangnam Style: ein Restaurant, das auf Besucher mit Hunden spezialisiert ist und die Vierbeiner verwöhnt. Plakate, die für Augenlid-Operationen werben, damit die Asiatin dem globalen Schönheitsideal näher kommt. Eine solche OP gilt als beliebtes Geschenk für den erfolgreichen Schulabschluss der Tochter. Alles sehr neumodisch und etwas extrem. Andererseits: Die traditionelle Kultur der Koreaner hat unzählige Invasionen durch andere Länder überlebt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie auch die Epoche des Konsumwahns und der Globalisierung überdauern.
Foto ganz oben: 2010 YG Entertainment Inc.
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