Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023 um 13:12
Noch läuft die Fußball-WM, und Russland zelebriert sein Sommermärchen. Vor einem Jahr haben wir uns in unser familiäres Sankt Petersburger Sommermärchen gestürzt. Das war zunächst aufregender, als ich heute nachvollziehen kann, denn Russland erschien uns als das Fremde; das, was jenseits einer magischen mentalen Grenze liegt. Bis wir in Sankt Petersburg ankamen. Die Stadt zu erkunden, war einfach. Und die Vibrations waren gut. So gut, dass ich nach all den Monaten nochmal darauf zurückkommen muss.
Wo geht es hier ins wilde Russland?
Dritter August. Zweimal sind wir in Russland aufgewacht und bislang nicht über die Gegend um den Newskij Prospekt hinausgekommen. Unser Hotel liegt ganz in der Nähe des Petersburger Hauptboulevards, und für Einsteiger ist die Straße ideal. Fantastische Gebäude, romantische Kanäle, Blickachsen auf diverse goldene Kuppeln und andere Sehenswürdigkeiten. Cafés, Restaurants und nur wenige Schritte bis zur Eremitage und zur Newa. Über die Petersburg-Entdeckungen, die uns am glücklichsten gemacht haben, ist auf diesem Blog bereits ein Artikel erschienen.
So schön und ergiebig die Tage am Newskij Prospekt sind: Für uns wird es Zeit, unseren Radius zu erweitern. Es ist alles so komfortabel im historischen Zentrum Sankt Petersburgs – beginnt das wilde und gefährliche Russland, sobald wir den touristischen Adern der Stadt den Rücken gekehrt und unseren Fuß in ganz normale Wohngegenden gesetzt haben?
Piazza, Place, Ploschad
Wir nehmen die Metro, was wir uns schwierig vorstellten und was so einfach wie günstig ist. Die Rolltreppen nach unten sind beeindruckend lang. Der Boden unter Sankt Petersburg ist moorig, deshalb musste die Metro weit, weit unter Straßenniveau gebaut werden. Die Stationen – zumindest einige von ihnen – sind fast so prächtig, wie man es von Bildern aus Moskau kennt. Die Russinnen sehen trotzdem nicht alle aus wie Supermodels. Nicht in der Innenstadt und erst recht nicht dort, wo wir jetzt hinfahren: zur Station Moskowskaja. Die liegt an einer sowjetischen Riesenstraße namens Moskowskaja Prospekt, an welche wiederum der Moskowskaja Ploschad angrenzt. Ploschad heißt Platz. Auf diesem Platz steht Lenin. Neben ihm: eine Anlage von Springbrunnen. Dahinter: das Haus der Sowjets, erbaut zwischen 1936 und 1941. Sozialistische Architektur, klassizistische Anklänge, imposant. Eines der wichtigsten architektonischen Machwerke aus der Sowjetzeit, die man heute in Sankt Petersburg finden kann.
Die sozialistische Architektur sehen wir durch einen postsozialistischen Schleier von Wassertropfen. Zusammen mit vielen anderen Leuten sitzen wir unter blauem Himmel vor einem Vorhang von Fontänen und erleben mit, was sich hier so tut: Eltern mit Kleinkindern; Skater; Menschen, die auf dem riesigen Platz Pause machen. Summer in the city. Relaxt und gutgelaunt. Keiner stört den anderen. Der Ploschad ist größer als eine italienische Piazza, aber rund um ihn herum stehen Imbissbuden und Kioske auf breiten Bürgersteigen, und mich wehen südliche Assoziationen an. Hat das hier nicht etwas von französichen Boulevards, auf denen jede Menge Leben draußen stattfindet?
Summer in the city
Wir laufen durch die Straßen rund um den Platz. Kastenförmige Wohnhäuser mit Plattenbau-Charme neben alter Bausubstanz. Wohnarchitektur in warmem Gelb, gelegen an lauschigen Alleen. Auch hier: Buden, Kioske, Läden. Sympathische Stimmung. Wir wissen nicht viel, möglicherweise befinden wir uns in einer besseren Wohngegend. Überhaupt erleben wir hier nur eine Momentaufnahme. Und es ist nicht so, dass alles rosig wirkt. Am Straßenrand stehen immer wieder alte Leute und verkaufen Gemüse für wenig Geld. Wir sind nicht so unwissend, dass wir das Leben in Russland für einfach halten, nur weil wir im Sonnenschein durch Alleen in der zweitgrößten Stadt des Landes spazieren. Aber wir sind ab jetzt auch nicht mehr so unwissend, dass wir Russland doch irgendwo in unserem Hinterkopf für das Bedrohliche, Wilde, Fremde halten. Obwohl meine kleine Tochter und ich auf der Rückfahrt ins Zentrum mehrmals unsanft aus der Metro geschubst werden, weil wir im Weg stehen.
0 Comments