Zuletzt aktualisiert am 5. Februar 2017 um 17:16
Mann, sind wir alt. Wir stammen aus einer Zeit, in der es noch keine Handys gab, in der Madonna ohne Hilfsmittel frisch war und einer wie Jean Paul Gaultier Tabus brechen konnte. Die Hypo-Kunsthalle in München zeigt jetzt eine große Retrospektive seines Schaffens – und wurde bei unserem Besuch mit Kindern zum Anlass für einen Clash of Generations.
Nicht, dass wir irgendeinen persönlichen Bezug zu Jean Paul Gaultiers Mode hätten. Wir sind grundsolide und schauen uns Trash- und Trans-Dressing nur aus der Ferne an. Unser Budget würde uns nie in die Verlegenheit bringen, mit seinen Stücken zu liebäugeln. Trotzdem landen wir bei unserem Besuch der Münchner Gaultier-Retrospektive in den Augen unserer Töchter zusammen mit dem Enfant terrible der Pariser Haute Couture in einer zunächst etwas fragwürdigen Schublade.
Weil wir mit dieser komischen Mischung von Begeisterung und Abgeklärtheit durch die Ausstellung wandeln. Toll hier! Wir erkennen den Esprit wieder, fühlen uns ins Herz der Achtziger zurückversetzt – nicht nur von den Gaultier-Kreationen, die tatsächlich aus den Achtzigern stammen, sondern auch von den jüngeren. Dieses Feeling des Tabubruchs unter Pop-Vorzeichen, gerne mit der Tendenz zum hohen Haar und zur breiten Schulter: absolut vertraut; wir hören den Soundtrack im Kopf und mit den realen Ohren die Musik von Madonna, die in der Ausstellung läuft. Denn schließlich hat Gaultier Madonna spektakulär für ihre Auftritte eingekleidet – mit Korsagen, die solche Tüten-Brüste hatten, wie sie der kleine Jean Paul schon seinem Teddy angedeihen ließ.
Und grundsolide, wie wir sind, irritiert uns dennoch keiner der Tabubrüche, die hier sichtbar werden, kein sexueller und kein religiöser. Denn wir waren dabei, als diese Tabus laut und bunt gebrochen wurden, es erschien uns wie ein schillerndes Spiel, das einfach mal durchgespielt werden musste. We’ve seen it all, in dieser Ausstellung sehen wir es wieder, und wir haben unseren Spaß.
Während unsere Kinder irritiert sind. Abendkleider im Bondage-Look und effektvoll animierte Puppen, die unter einem Heiligenschein blinzeln, während sie Kleider voller religiöser Anspielungen präsentieren? Unsere Töchter sind nicht mehr klein, sie sind zehn und 14, und natürlich wissen sie, dass es kaum noch allgemein anerkannte Tabus gibt. Aber, hey: Warum muss dieser Gaultier so drastische Dinge machen?
Conchita Wurst hilft, die Angelegenheit an die Jetztzeit zu vermitteln. Gaultier hat Kleider für die österreichische Transgender-Ikone entworfen, die in der Ausstellung zu sehen sind; beide kooperieren gern. Dass jemand wie Conchita Wurst Barrieren auflöst, hat meine Kinder damals, beim Bekanntwerden der bärtigen Diva, überzeugt und ihnen gefallen. Aber Conchita Wurst ist zur besten Sendezeit vor dem gesamteuropäischen bürgerlichen Publikum zum Star geworden: Alles viel milder und harmloser als damals, als Jean Paul Gaultier Männer in Röcke hüllte. Mainstreamtauglich statt radikal. Was natürlich ein gutes Zeichen ist hinsichtlich der gewachsenen Toleranz in der Gesellschaft, an der Gaultiers und unsere Zeiten ihren Anteil hatten.
Außerdem ist da die unübersehbare, unbestreitbare Schönheit der unglaublich aufwendig gearbeiteten, großartig geschneiderten Kleider. Detailarbeit, Handwerkskunst und Materialien aus der Haute Couture im Dienste einer Mode mit Punk-Appeal: Dem subversiven Reiz einer solchen Form des Luxus können auch Jugendliche von heute sich nicht verschließen. Genauso wenig wie der überbordenden Kreativität des Modemachers, seiner Phantasie, dem Schrägen und Verrückten. Das kommt am Ende doch recht gut an bei den Töchtern und ihrer Freundin, die mitkommt und sich am Extravaganten und Hintergründigen erfreut.
Nicht zuletzt wirkt die grandiose Inszenierung der Schau, die unter dem Titel Jean Paul Gaultier – From the Sidewalk to the Catwalk seit vier Jahren um die Welt tourt. Da sind zum einen die Puppen mit animierten Gesichtern, die die Besucher angrinsen, sprechen und via Sensor auf ihr Gegenüber reagieren. Außerdem ein im Stil eines Flughafen-Gepäckbands rotierender Laufsteg, auf dem spektakulär gekleidete Puppen am Publikum vorbeiziehen. Am Rand ist eine – in Gaultier gewandete – “Front Row” zu sehen, in der die üblichen Verdächtigen sitzen. An erster Stelle: Anna Wintour, die Chefin der amerikanischen Vogue.
Noch ist genug Zeit, die Gaultier-Ausstellung zu besuchen; für Kinder der Achtziger und ihre Kinder ebenso wie für alle anderen. Bis zum 14. Februar 2016 läuft die Schau in der Hypo-Kunsthalle. Nach dem Besuch empfiehlt sich eine kleine YouTube-Tour durch Madonnas größte Hits – zur Generationenverständigung.
2 Comments
Anke von Heyl
Liebe Maria-Bettina,
wieder mal gefällt mir deine Perspektive, die du – über die Augen deiner Kinder – auf Ausstellungen nimmst. Es ist immer spannend, sich zu fragen, warum man Dinge rezipiert, wie man sie rezipiert. Und mal genau hinblickt, warum einem etwas gefällt oder auch nicht. Das ist ein Plädoyer für mehr Zeit zum Gucken und Denken, das ich als Anregung für meine nächsten Museumsbesuche gerne mitnehme. Denn – das muss ich gestehen – mein Job bringt auch manchmal eine gewisse Ausgelaugtheit und Müdigkeit mit sich. Man hat einfach nach so vielem, was man gesehen hat, ein bisschen den frischen Blick verstellt.
Am Mittwoch fahre ich mit meiner erwachsenen Tochter zu einer Stippvisite der Biennale in Venedig. Bin gespannt, was sie mich da lehren wird 🙂
Herzlichst
Anke
Maria-Bettina Eich
Liebe Anke,
wenn mein Blogbeitrag Deinen Blick ein wenig erfrischt, dann freut mich das sehr! Denn das ist für mich eine der entscheidenden Erfahrungen, seit ich angefangen habe, Kunst mit meinen Töchtern anzuschauen: dass man a) frisch an das Thema herangehen muss, weil die Kinder mit dem kunsterprobten und manchmal übersättigten Elternblick nichts anzufangen wissen, und dass b) das Zusammen-mit-Kindern-Anschauen den eigenen Blick oft erheblich auffrischt.
Ich hoffe, du erzählst auf Deinem Blog viel von der Biennale. Ich wollte auch gern mit meiner großen Tochter hin, aber die Zugverbindungen sind nicht Schulwochenend-kompatibel. Wenn wir es in zwei Jahren schaffen, ist sie auch schon fast erwachsen… aber nur fast.
Eine gute Zeit in Venedig!
Maria-Bettina