Zuletzt aktualisiert am 15. Juni 2021 um 10:07
Eine Ausstellung, deren virtuelles Besuchsangebot Server zum Erliegen bringt. Ein geselliges Kunsterlebnis via Zoom. Der Expressionist, der überall Paradiese sah. Und schließlich wir, in unseren vier Wänden hungrig nach Inspiration: Selten hat ein Kulturereignis in mir so viele Gedanken angeschubst wie ein digitaler Abend in der August-Macke-Ausstellung in Wiesbaden.
Ungewöhnliche Zeiten, stille Museumssäle
Im Museum Wiesbaden läuft eine August-Macke-Ausstellung. Eine wunderbare. Am 30. Oktober 2020 wurde sie eröffnet, und drei Tage lang strömten insgesamt 1000 Besucher durch die Säle voller Arbeiten des 1887 geborenen, 1914 jung im Ersten Weltkrieg gefallenen Expressionisten. Dann kam der Lockdown.
Seither hängt eine traumhafte Auswahl von Macke-Bildern in den stillen Sälen des Museums. Gelegentlich werden sie von Angestellten des Hauses besucht. Zum Beispiel von Roman Zieglgänsberger, dem Kurator der Ausstellung. Einmal ging er mit einem Kameramann hindurch – und ließ sich dabei filmen, wie er eine zu dem Zeitpunkt imaginäre Gruppe von Kulturbloggern durch die Schau “August Macke – Paradies! Paradies?” führte.
Virtuell und kommunikativ durch die August-Macke-Ausstellung in Wiesbaden
Aus den imaginären wurden dank der Mitwirkung der Kulturvermittlerin Anke von Heyl – aka Kulturtussi – reale Bloggerinnen, die sich zu einer digitalen Abendveranstaltung per Zoom zusammenfanden. Eine von ihnen war ich. Und wenn wir in den letzten Monaten auch viel Digitales erlebt haben: So ein Blogger-get-together mit Kuratorenführung, animierten Gesprächen über Kunst und sogar einer museumspädagogischen Bastelaktion ist ein besonderes Ereignis.
Roman Zieglgänsbergers inspirierende, vor Kenntnis und Begeisterung sprühende Führung durch die August-Macke-Ausstellung in Wiesbaden wurde an diesem Abend nicht nur uns gezeigt: Sie wurde auch live vom Museum Wiesbaden auf YouTube gestreamt. Server waren überlastet. Mehr als 500 digitale Ausstellungsbesucher waren live dabei. Es sieht ganz so aus, als würden sich viele von uns nach Kunst sehnen. Oder vielleicht gerade nach einer Kunst wie der von August Macke?
Per Zoom stieß Roman Zieglgänsberger zu unserer Bloggergruppe: offen für Fragen und bereit zu Auskünften über seine Erfahrungen mit Macke, mit der Kuratorentätigkeit in Zeiten von Corona und mit der Sehnsucht nach dem Paradies in historisch sehr unterschiedlichen Epochen.
Der Lockdown als Trigger für Kulturhunger
Hätten wir uns zu einer herkömmlichen, dreidimensionalen Ausstellungsführung in Wiesbaden getroffen, dann wäre das natürlich herrlich gewesen. Die Macke-Schau zeigt eine Fülle großartiger Bilder, die die wichtigen Phasen einer viel zu kurzen Künstlerlaufbahn veranschaulichen. Soviel war uns allen klar, nachdem wir Zieglgänsbergers Führung angeschaut hatten. Die brachte tolle Macke-Eindrücke in unsere Köpfe, war durchaus auch visuelles Futter für die Sinne – doch natürlich kann das digitale Format einen reallen Ausstellungsbesuch nicht ersetzen.
Dafür geschah etwas anderes. Hier saßen wir Kulturfans in Form von digitalen kleinen Kacheln zusammen und unterhielten uns nicht nur über die Bilder, mit denen wir es gerade zu tun hatten, sondern reflektierten sehr selbstverständlich auch über die außergewöhnliche Situation, in der wir hier Kunst rezipierten. Wir sprachen über unsere Sehnsucht nach Inspiration, nach dem Licht und der Farbe, die Mackes Bilder kennzeichnen, über den Lockdown als Trigger für Kulturhunger. Wir sprachen über die enorme Wohltat, die das digitale Ausstellungserlebnis für uns bedeutet hatte. Und dachten in dem Zusammenhang noch einmal anders über Macke nach.
“Paradies! Paradies?” lautet der Titel der August-Macke-Ausstellung in Wiesbaden. Denn Paradiese hat er gemalt. Nicht nur auf den leuchtenden, exotischen Bildern, die auf der für die Kunstgeschichte so wichtigen Tunisreise zusammen mit Künstlerkollegen entstanden sind. Auch, wie Zieglgänsberger betonte, in der alltäglichen modernen Welt, die ihn umgab, sah August Macke das Paradiesische – in den Cafés, den Parks, den Straßenszenen des frühen 20. Jahrhunderts.
Der Blick fürs Paradiesische und die kleinen Lockdown-Glücke
Dieser Blick fürs Paradiesische, dachte ich, als ich mit meinen Co-Bloggerinnen über die Ausstellung sprach und mir die hohe Zuschauerzahl der digitalen Führung vor Augen hielt, ist für uns alle gerade im Moment eine Rettung. Tunisreisen kommen augenblicklich natürlich nicht in Frage. Und selbst, wenn Cafébesuche gerade tabu sind und man in manchen Parks Masken aufziehen muss: Macke lässt nicht locker mit seinem Paradies. Er findet es sogar zu Hause, wo seine Frau Elisabeth stickt und die Kinder spielen. Dabei ist er noch nichtmal ein Old-school-Macho, sondern erkennt seine in Textil arbeitende Ehefrau als ebenbürtige Künstlerin an!
So ein bisschen Paradies beim Anfertigen einer Stickereien zu erleben – das wäre ein schönes Resultat der Lockdown-Zeit. Tatsächlich haben viele von uns begonnen, sich intensiver ins Naheliegende zu vertiefen: Wohnungen werden verschönert, aufwändige Gerichte gekocht, DIY boomt. Der schon vor Corona populäre Trend, aus “the little things” ebenso wie aus unserer Hände Arbeit Befriedigung zu schöpfen, hat sich verstärkt.
Versenkung ist toll. Außenwelt auch.
Diese Sache mit dem Glück im Alltäglichen ist toll und wichtig, auch ich spiele mit und finde die seltsamsten Zustände von Erfüllung beim Zubereiten und Trinken von Tee. Die Faszination durch unterschiedliche Sorten, unerschöpfliche Aromen, die Fokussierung auf den Moment, eine gewisse Ästhetik und nicht zuletzt der Hauch der großen weiten Welt, aus der die Tees kommen: Das ist meine Antwort auf die Frage “Und was hast du während Corona für dich entdeckt?”, die mir neulich eine Freundin stellte.
Aber, verdammt. Es reicht nicht. Ich will wieder irgendwoanders hin. Es muss nicht gleich Tunis sein. Ein Ausflug ins relativ nahegelegene München wäre in diesen Zeiten schon eine spektakuläre Sache. Mit Cafébesuchen. Total okay, wenn die Getränke nicht mit derselben Hingabe bereitet werden wie mein heimischer Tee. Nach dem Café eine Museumssammlung oder eine Ausstellung: nicht digital, sondern analog. Und wenn sich die Audioguide-Nutzer vor den tollsten Exponaten drängeln: Ich werde mich nicht über sie ärgern! Bei aller Liebe zur Versenkung in die kleinen Dinge: Ein wenig Außenwelt wäre mal wieder schön.
Es bleibt komplex. Und das ist gut so.
Ein ganzes Konvolut von Gedanken, das der virtuelle Besuch der August-Macke-Ausstellung in Wiesbaden da ausgelöst hat. Nein, wir alle wollen keine Welt, in der die digitalen Kunsterfahrungen die analogen ersetzen. Aber dass im Digitalen Möglichkeiten liegen, die das Kulturleben auch nach Corona unbedingt weiter bereichern sollten – wie sie es in geringerem Umfang auch vorher schon getan haben -, war mir nie so klar wie an unserem Macke-Abend. Da kann noch einmal auf einer ganz anderen Ebene etwas passieren. Interaktiv, kommunikativ; ich werde das weiter ausloten.
Mackes Paradiese sind keine wohlfeilen Schönfärbereien einer in Wahrheit sehr komplexen Welt: ein Punkt, der Zieglgänsberger im Zoom-Gespräch mit uns sehr wichtig war. Das Wissen um die Fragilität der Paradiese sei immer präsent, daher auch das Fragezeichen hinter dem zweiten Paradies-Begriff im Ausstellungstitel. In der Tat: Heitere Sonntagsmalereien von gut gekleideten Damen der Jahrhundertwende würden uns in unserer momentanen Situation ziemlich gegen den Strich gehen. Genau so, wie das simple “think positive” nervt. Ein paradiesorientierter Blick in Kombination mit einer komplexen künstlerischen Handschrift allerdings ist echte Nahrung für coronabedingte Inspirations-Sehnsüchte.
Bild ganz oben: August Macke: Kinder am Brunnen mit Stadt im Hintergrund, 1914, Kunstmuseum Bonn
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