Zuletzt aktualisiert am 16. Januar 2023 um 13:59

Wer die letzten Jahre nicht in einem Erdloch vergraben zugebracht hat, dürfte es mitbekommen haben: Die Dänen haben die Hygge erfunden. Außerdem sind sie die glücklichsten Menschen der Welt. Häufig wird angenommen, dass zwischen diesen beiden Tatsachen ein Zusammenhang besteht. Wir haben uns aufgemacht zu einer vorweihnachtlichen Recherchereise nach Kopenhagen, die sich unversehens in eine Art Winter-Food-Trip verwandelte.

Weihnachtspuddings, Gewürzcocktails, Hans-Christian-Andersen-Romantik

Im Winter zeigt die Hygge, was sie kann. Zumindest möchte man das annehmen, wenn man liest, was es allenthalben über Hygge zu lesen gibt: dass diese typisch dänische, im Grunde in keine Sprache der Welt übersetzbare Form der Gemütlichkeit etwas mit Geselligkeit während der langen nordischen Winternächte zu tun habe. Dass in der Hygge die grundsätzliche Entspanntheit der Dänen zum Ausdruck komme. Und dass der bemerkenswerte Kerzenverbrauch dieser Nation sich eben jenem Konzept der Hygge verdanke.

Kopenhagen zur Weihnachtszeit: Royal Smushi Cafe

Der Weihnachtsmann – oder der dänische Nisse – hängt seine Kleider im Hof des Cafés auf

Wir reisen also mit gewissen Erwartungen ins vorweihnachtliche Kopenhagen. Treten unseren ersten Spaziergang vom Hotel in die Innenstadt so an, dass wir den Anbruch der Dunkelheit gegen vier Uhr nachmittags unter rot leuchtenden Herzen erleben: Die nämlich sind das markanteste Motiv der Kopenhagener Weihnachtsbeleuchtung. Sehr hübsch. Aber es handelt sich dennoch um Weihnachtsbeleuchtung über einer europäischen Fußgängerzone; viel hyggeliger als bei uns ist das nicht.

Ich bin mit einer Freundin unterwegs, wir haben uns lange nicht gesehen, wir müssen uns zunächst mal irgendwo hinsetzen und reden. Vor drei Jahren war ich im Sommer im Royal Smushi Café, das mir als sehr pink, auch recht touristisch, aber eben doch ziemlich hübsch in Erinnerung geblieben ist. Durchaus wiederholenswert. Von der zentralen Einkaufsstraße, der Strøget, gelangen wir an unserem ersten Kopenhagener Winternachmittag in einen schummrigen Innenhof. Dort hängt einerseits die Bekleidung des Weihnachstmanns an einer Wäscheleine, andererseits öffnet sich die Tür ins Rosa des Cafés. Auf den Tischen stehen Weihnachtsbäumchen. Serviert wird ausschließlich auf dem Weihnachtsgeschirr der Porzellanmanufaktur Royal Copenhagen. Und zwar das, was die spezielle Weihnachts-Speisekarte anbietet.

Royal Smushi Cafe Kopenhagen

Traum in Rosa: das Royal Smushi Cafe in Kopenhagen

Royal Smushi Cafe

Kopenhagen zur Weihnachtszeit bedeutet nicht zuletzt weihnachtliches Essen

Viele Dänen essen Reispudding, der hier zur Weihnachtstradition gehört. Dafür sind wir nicht aufgeschlossen genug. Wir nehmen die Smushis, nach denen sich das Café benannt hat: Die kleinen Häppchen auf Brot sollen eine Symbiose aus Smørrebrød und Sushi darstellen. Ich wusste nicht mehr, wie gut sie sind. Zwischen den wonnevoll überdekorierten Wänden und Möbeln des Cafés tummeln sich jetzt, im Winter, vor allem Dänen: coole Väter, die ihre kleinen Töchter nach der Schule zu ein paar Törtchen einladen; ältere Damen in lässigen Parkas, Kleidchen, Stiefeletten, Wollsocken.

Als wir nach den Smushis noch rosa Baiser-Törtchen verzehrt haben – eher wegen der Optik; kulinarisch sind sie den salzigen Häppchen klar unterlegen -, dauert es nicht mehr lange, und die Bürgersteige werden hochgeklappt. Das ist so eine Sachen in Kopenhagen: Nicht nur die Geschäfte, auch die Restaurants schließen früh. Daran ändern selbst die wachsenden Touristenzahlen und die Umsatzmöglichkeiten, die sie mit sich bringen, nichts. Meine Freundin mutmaßt, dass die Dänen rechtzeitig in ihr hyggeliges Zuhause wollen. Immer wieder schauen wir durch Fenster in warme, behagliche Wohnungen: Adventskalendermotive im Hans-Christian-Andersen-Stil. Waren es nicht solche Zimmer, in die das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern während der kalten Silvesternacht sehnsüchtig hineinschaute?

Kopenhagen: Cocktailbar Ruby

Warme Kopenhagen-Hygge hinter einem gut versteckten Eingang: in der Ruby-Bar

Irgendwann sitzen wir selbst hinter warm leuchtenden Fenstern. Wir lassen uns in der Cocktailbar Ruby nieder. Die hat bis in die Puppen geöffnet und fungiert vermutlich nicht nur in meinem Reiseführer als heißer Kopenhagen-Tipp. Dänen sind hier in der Minderzahl, aber wir sind ja auch keine, deshalb können wir nicht meckern. Zumal die Atmosphäre phänomenal ist. Ein Wohnzimmer scheint sich ans nächste zu reihen, mehr schummrige Hygge geht nicht. Und unser Getränk spielt mit; auch hier ist die Karte saisonal. Der Trade Route Cocktail fühlt sich den historischen Handelsstraßen für Gewürze verpflichtet und schmeckt wie Weihnachten im Glas. Nur sind wir nach Weihnachtsabendem gewöhnlich klarer im Kopf als nach userem Intermezzo in der Ruby-Bar.

Hijabs und handgemachte Schokolade – die Nørrebro-Version der Kopenhagener Hygge

Wer dieser Tage einen halbwegs aktuellen Kopenhagen-Reiseführer zur Hand nimmt, wird mit großer Sicherheit dazu aufgefordert, eines der nicht-innerstädtischen, einstmals verrufenen, heute hippen Stadtviertel aufzusuchen – am besten Vesterbro oder Nørrebro. Wir wählen Nørrebro. Im 19. Jahrhundert erschlossen, um Wohnraum für die zunehmende Zahl der Arbeiter im wachsenden Kopenhagen zu bieten, galt Nørrebro lange als schlechtes Pflaster, um in den letzten Jahren von einer jungen, urbanen Bevölkerung als spannendes multikulturelles Wohngebiet entdeckt zu werden. Eine klassische Geschichte von Gentrifizierung; jedoch heißt es, diese sei in Nørrebro noch nicht allzu weit vorangeschritten. Trotzdem entbehrt es nicht einer leisen Ironie, wenn sich in einer kleinen Seitenstraße das arabische Bekleidungsgeschäft “Hijabi Queens” und der Gesundheitskostladen “Frøken Øko” gegenüberliegen.

Jægersborggade

Diskrete Hipness: In der Jægersborggade

Karamelleriet Copenhagen

Karamell-Kocherei: Hier werden Bonbons per Hand hergestellt

Wir steuern die Jægersborggade an, die im Ruf höchster Hipness steht. Das Erste, was uns in dieser Straße auffällt, ist ihre Stille. Gepflegte Wohnhäuser rechts und links des Kopfsteinpflasters, in jedem Gebäude Eingänge zu Designgeschäften, Restaurants, Lebensmittelmanufakturen – alle äußerst diskret. Die Hauptstraßen der Hipness sehen in anderen Metropolen anders aus. Die Bescheidenheit der Dänen scheint mehr zu sein als bloße Legende.

Als wir an einer Bonbonmanufaktur vorbeikommen, raten uns unsere inneren Stimmen, hineinzugehen. Wir interssieren uns nicht allzu sehr für Bonbons. Aber die Produkte im Fenster der Karamelleriet sind so hübsch, und sie sind so geschmackvoll in matten Farbtönen zwischen Heide und Espresso verpackt, dass wir uns die Sache näher anschauen müssen. Wir gehen ein paar Stufen hinunter in einen Raum mit Verkaufstresen und Bonbonmaschinen. Ein perfekt wikingisch aussehender Däne legt uns wortlos frisch produzierte Kaulakritze in die Hand. Wir stellen fest, dass wir uns doch für Bonbons interessieren. Und sind sehr froh, dass sich zwei blonde Däninnen namens Tine und Charlotte im Jahr 2006 entschlossen haben, in Kopenhagen und auf Bornholm in traditioneller Manier Kaubonbons per Hand herzustellen.

Ro Chokolade, Jægersborggade, Copenhagen

Die Jægersborggade ist voller kleiner Manufakturen: Auf einen Kaffee bei Ro Chokolade

Außer der Bonbobonmanufaktur gibt es auf der Jægersborggade eine Eismanufaktur – im Winter geschlossen – und eine Schokoladenmanufaktur. In dieser Straße könnte der dänische Julenisse seine Säcke füllen. Wir füllen unsere ausgekühlten Eingeweide im kleinen Café von Ro Chokolade mit heißen Getränken und diversen süßen Dingen. Hinter einer Glasscheibe werden Pralinen hergestellt. Unversehens und noch bevor wir beim sorgsam geplanten kulinarischen Highlight unseres Trips angelangt sind, geraten wir in den Strudel der Foodie-Destination Kopenhagen. Handgemachte Lebensmittel, regionale Aromen, saisonale Rezepte: Überall finden wir Spuren der Ideen, die sich die New Nordic Cuisine auf ihre Fahnen geschrieben hat. Verkauft und serviert wird in stylischen, hyggeligen, relaxten Etablissements.

Restaurant Barr: New Nordic flirtet mit old Nordic

Nicht ahnend, wie omnipräsent das Thema Essen in Kopenhagen zur Weihnachtszeit sein würde, haben wir eine vielversprechende kulinarische Unternehmung sorgsam Wochen vor unserer Reise anberaumt und einen Tisch im Restaurant Barr reserviert – online und völlig problemlos. Das Barr wurde 2017 eröffnet. Seine Gründer sind René Redzepi, Chef des legendären Restaurants Noma und großer Impulsgeber der nordischen Küchenrevolution, sowie der Küchenchef Thorsten Schmidt. Statt auf die extravaganten Raffinessen der New Nordic Cuisine setzt das Barr auf einige wenige Klassiker aus den kulinarischen Traditionen der Nordsee-Länder – und auf die Biere dieser Region. So finden sich auf der Karte scheinbar simple Dinge wie dänische Fleischbällchen und Wiener Schnitzel.

Restaurant Barr: Interior design by Snøhetta

Hinter der Einrichtung des Restaurants Barr steht das norwegische Architekturbüro Snøhetta

Wir wollen aus verschiedenen Gründen ins Barr: zum einen, weil es, wenngleich nicht New Nordic, nicht so furchtbar weit entfernt von diesem Konzept ist. Auch das Barr arbeitet mit regionalen und saisonalen Lebensmitteln von “best quality”, wie man uns souverän-lapidar mitteilt. Niemand würde daran zweifeln bei einem Restaurant, hinter dem René Redzepi steht. Und wenn einer wie er sich der Alltagsküche von Ländern annimmt, die nicht zu den typischen Gourmetdestinationen dieser Welt gehören, ist das auf jeden Fall interessant. Die Gerichte sind erschwinglich, auch das ein klarer Vorteil. Außerdem mögen wir die Stories, die kolportiert werden: Das endgültige Fleischbällchen-Rezept beispielsweise sei aus einer Auswahl von 16 verschiedenen Varianten ermittelt worden. Last not least zeichnet das norwegische Architekturbüro Snøhetta für die Inneneinrichtung des Barr verantwortlich: das Büro, das die Oper in Oslo entworfen hat.

Vermutlich ist das Barr im Sommer auch sehr schön, aber jetzt, im Winter, ist es perfekt. Vor dem Eingang brennt ein Holzfeuer in einer Schale. Der Duft ist eine ideale Einstimmung auf das Restaurant mit seinen deftigen Holzbalken, den getrockneten Pflanzen, den warmen Anklängen an die nordische Natur. Bedient wird man von jungen, makellos Englisch sprechenden Menschen, die einem auf sehr lässige Weise erklären, was man hier essen und trinken kann. Alles äußerst zwanglos, an den Tischen sieht man viele Kinder. Man stellt uns Brot, Butter, Schmalz auf den Tisch. Unglaubliches Brot mit fantastischen Getreidearomen. Ähnlich fantastische Getreidearomen finden wir auch bei den Bieren wieder, die wir aus der riesigen Karte auswählen. “Barr” bedeutet im Altnorwegischen nicht zufällig “Gerste”.

Restaurant Barr

Die Molekularstruktur der Gerste stand Pate für die Holzformen im Restaurant Barr, die sich bis zum Messer fortsetzen

Wir essen das extravaganteste Gericht, das auf der Karte steht: einen glasierten Dorsch für zwei Personen mit eingelegten Blumen, Spinat und einer Roggen-Buttermilchsauce. Serviert wird der stattliche Fischschwanz auf einem Sockel aus dunklem Brot. Zusammen mit der Sauce entwickelt die Kombination erneut einen Getreidegeschmack, von deren Existenz ich zuvor keine Ahnung hatte, der Spinat dazu ist erdig und kräftig. Vom “cold country cooking” hat Chefkoch Thorsten Schmidt einmal gesprochen. Vielleicht bin ich nur im Kopenhagen-Rausch. Aber vielleicht fördert diese Küche hier wirklich etwas urtümlich Nordeuropäisches zutage, was wir bisher noch nie so richtig goutiert haben?

Kopenhagen zur Weihnachtszeit: Geht es wirklich nur ums Essen?

Meine Freundin ist eine grandiose Köchin; ich habe vor Jahren mehrere Sommer lang für einen Restaurantführer geschrieben: Es ist nicht so, dass wir auf gemeinsamen Reisen nicht gern mal die eine oder andere kulinarische Entdeckung machen würden. Aber den nordischen Winter-Food-Strudel, der uns in Kopenhagen erwischt, den hatten wir nicht geplant. Wir verbringen unsere Zeit keineswegs ausschließlich mit Essen. Wir laufen viele, viele Kilometer, nehmen an einer Architekturführung teil, gehen in Museen und geben uns zwischendurch immer wieder dem Design-Shopping hin. Das sollte man in jedem Fall tun, denn die Dänen sind die Großmeister des guten Geschmacks. Im Grunde lohnt es sich sogar, ohne jegliches Budget durch Straßen mit schönen Einrichtungsgeschäften oder durch das designlastige Kaufhaus Illums Bolighus zu streifen. Man nimmt einiges an Inspiration mit, ein Gefühl für dänischen Stil und eine Ahnung davon, dass gutes Design und ein glücklicher Alltag durchaus etwas miteinander zu tun haben könnten. Womit wir wieder bei der Hygge wären.

Dänisches Design

Dänemark: das Land, in dem schon kleine Kinder mit bestem Design großgezogen werden

Aber während wir so durch die Stadt laufen, passiert es eben doch ständig, dass wir mit dem Thema der winterlichen Kulinarik konfrontiert werden. Nicht zuletzt in Sachen Bier: Alle paar Stunden kommen wir an Transparenten vorbei, die das diesjährige Weihnachts-Pils, auf Dänisch “Julebryg”, der Tuborg-Brauerei bewerben. Mit einer reizenden Schneelandschaft, die wir in jedem Geschäft auf den entsprechenden Bierdosen wiederfinden. Vor einigen Jahren war ich einmal in Kopenhagen, als die Julebryg-Saison mit einem riesigen Event unter Einsatz von künstlichem Schnee eingeläutet wurde. Weihnachtstraditionen zu zelebrieren, scheint ein wichtiger Bestandteil der winterlichen Hygge zu sein – offenbar gerade auch die kulinarischen. Gibt es ein anderes Land, in dem man saisonalen Reispudding auf der Karte eines stylischen Cafés findet? Das feiert, wenn am ersten Freitag im November die Weihnachtsbier-Saison beginnt?

Tuborg Julebryg

Kopenhagen zelebriert das Weihnachtsbier

Aamanns Copenhagen

Mitte vorn: Weihnachtsschwein. Drum herum: Schnaps, Bier, Smørrebrød von Aamanns

Dann wäre da noch das Weihnachts-Smørrebrød auf der Karte von Aamanns. Adam Aamann ist durch seine Smørrebrød-Kreationen bekannt geworden, mit denen er das traditionelle üppig belegte Butterbrot der Dänen auf die Höhen der neuen nordischen Küche hebt. Wir verbringen unseren letzten Kopenhagener Abend bei Aamanns Deli & Takeaway, wo wir zu wirklich vertretbaren Preisen nicht nur Brote essen, sondern auch hauseigenes Bier sowie selbstgebrannten Schnaps mit Meerretticharoma trinken. Selbst die Seife in den Toiletten ist eine Eigenkreation des Hauses. Fisch und Fleisch, Kräuter, hier und da der süße Akzent einer Beere, gelegentlich eine strenge oder saure Note, außerdem das kräftige dunkle Brot – und dazu das Ethos des Regionalen, Hausgemachten und Ökologischen: Kopenhagen ist eine Art kulinarisches Utopia, und wenn man davon nicht probiert, ist man selbst schuld. Um diese Jahreszeit kann ich wärmstens das Smørrebrød mit Weihnachtsschwein, Petersilienemulsion, eingelegten Zwiebeln, Kohl, Apfel und knusprigen Bacon-Krümeln empfehlen.

Kopenhagen zur Weihnachtszeit: Hygge

Ob Weihnachten oder Chanukka: In Kopenhagen ist Hygge-Saison