Zuletzt aktualisiert am 30. März 2024 um 18:23
Herbstferien-Kurztrip mit der jüngeren Tochter; sie darf sich das Reiseziel aussuchen. Und entscheidet sich für Venedig. Drei Tage lang wandeln wir durch eine andere Welt, hin- und hergerissen zwischen gewaltigem Zauber und immer wieder sich meldendem Zweifel: Ist das hier noch eine Stadt oder schon ein Themenpark? Auf jeden Fall ist Venedig mit Kind eine besondere Erfahrung – auch für die Mutter.
Mit dem Vaporetto durch die Postkartenidylle
Nach der Ankunft zuerst der Drei-Tages-Ticket-Kauf an der Vaporetto-Station des Bahnhofs, dann die klassische Fahrt mit dem Vaporetto der Linie 1 den Canal Grande hinunter. Es ist dunkel. Wie fühlt es sich an, wenn man elf Jahre alt ist und nach einer achtstündigen Zugfahrt auf einem vollen, unprätentiösen Linienboot durch einen Kanal fährt, an dessen Seiten märchenhafte Paläste stehen, teils dunkel, teils so erleuchtet, dass sie das Wasser zum Glitzern bringen? “Zauberhaft”, sagt meine Tochter. Sie war mit drei Jahren schon einmal hier und weiß nichts mehr davon. Ich zögere, mich dem Zauber hinzugeben. Nicht nur, weil ich nach mehreren Venedig-Besuchen nicht mehr den Flash des Neuen erlebe, sondern vor allem, weil ich das Gefühl habe, Hunderte von Postkarten, Eisdielen-Genrebildern, Katalogfotos an mir vorbeiziehen zu sehen. Fast schäme ich mich, als ich beim Aussteigen ein Bild von der erleuchteten Kirche Santa Maria della Salute mache. Wie abgeschmackt, denke ich; was für ein Abziehbild. Und finde diesen Gedanken sofort noch abgeschmackter als das Foto.
Irrsinnige Infrastruktur
Am nächsten Morgen weckt uns Baulärm. Die Brücke unterhalb unseres Fensters wird repariert. In einer Stadt, die Kanäle statt Straßen hat, werden Baumaterial und Geräte mit dem Boot gebracht. Dass hier alles übers Wasser funktioniert, weiß jeder, der mal in einem Venedig-Reiseführer geblättert hat. Aber wie irrsinnig diese Infrastruktur ist, wird mir erst bei diesem Besuch in Venedig mit Kind klar. Meine Tochter sieht ein DHL-Boot. Carabinieri schippern durch die Gegend. Zusammen entdecken wir unser Highlight: ein Bofrost-Boot. Und fahren am zweiten Tag sogar an der Notaufnahme eines Krankenhauses vorbei, die für Rettungsboote ausgelegt ist. Was für ein kompliziertes Leben, das sie da seit Jahrhunderten in der Lagune führen! Von den Kähnen werden die Waren mit Handkarren durch die schmalen Gassen transportiert; anders geht es nicht. “Diese Stadt ist wirklich ganz anders als alle anderen”, bemerkt meine Tochter ihren Großeltern gegenüber am Telefon.
Erwachsene Klaustrophobie versus kindliche Gelassenheit
Ich will in den Markusdom, Mosaiken anschauen. Ich war noch nie drin, und dem Kind kann es nicht schaden. Aber die Schlange vor der Kirche – zu lang; unzumutbar. “Es ist romantisch, aber trotz November recht voll hier”, schreibe ich meiner koreanischen Freundin, als sie per Whatsapp wissen will, wie es uns geht. “Klar, ihr seid gerade in der beliebtesten Stadt der Welt”, schreibt sie zurück. Ich stutze. So hatte ich das noch nie gesehen. Aber wenn sie als Asiatin es sagt, wird sie wissen, wovon sie spricht. An der Uferpromenade beim Markusplatz drängeln sich Menschen und Straßenstände, der Blick auf die Seufzerbrücke ist weitgehend blockiert durch Personen, Kameras und die hier noch erstaunlich verbreiteten Selfiesticks. In mir kommt Klaustrophobie auf. “Stört es dich nicht, wie wahnsinnig touristisch es hier ist?”, will ich meine Tochter auf das Offensichtliche aufmerksam machen. “Ich glaube, das gehört hier einfach dazu”, erklärt sie mir beschwichtigend. Also gut.
Echte Venezianer gesichtet!
Wir biegen in irgendeine schmale Straße ein, und siehe da: Ruhe, Beschaulichkeit, Idylle. Wir überqueren stille Plätze und entdecken kleine Gärten. Ein paar Spaziergänger mit Reiseführern sind auch hier unterwegs, aber je weiter wir kommen, desto höher wird die Dichte an älteren Damen mit Einkaufstüten und Schulkindern. Es gibt sie also, die echten Venezianer. Wie mag es sich anfühlen, sich an Reisegruppen und Maskenläden vorbei zur Schule zu schlängeln?
Nicht ohne meine Tochter: Orientierung in Venedig mit Kind
Eigentlich haben wir ein Ziel, das wir ansteuern. Eine Freundin hat uns die Libreria Acqua Alta empfohlen. Eine ganz einzigartige Buchhandlung, hat sie gesagt. Mit unzähligen Büchern in unzähligen Sprachen, die sogar eine Gondel füllen. Das wollen meine Tochter und ich beide sehen. Ich habe mir eine Wegbeschreibung aus Google Maps ausgedruckt. Außerdem trage ich so einen altmodischen Stadtplan mit mir herum. Aber wir verirren uns immer weiter in winzigen venezianischen Gässchen, und hinter jeder Ecke, um die wir biegen, tut sich eine neue Traumkulisse auf. Ab und zu mache ich ein Foto von einem Kanal, aber verflixt: Venedig sieht einfach immer aus wie auf allzu bekannten Genrebildern. Da es aber fast immer gut aussieht, sollte man sich davon wohl nicht irritieren lassen. Sondern sich lieber immer mal wieder klar machen, dass diese Stadt nicht gebaut wurde, um Romantiker zu beglücken, sondern, um als urbanes Ensemble von einstmals beträchtlicher Macht zu funktionieren.
Entdeckung: die Libreria Acqua Alta
Die Libreria Acqua Alta finden wir jedenfalls nur mit Hilfe des Handy-Navis. Ich drücke es meiner Tochter in die Hand, denn das ist schließlich die klassische intergenerationelle Arbeitsteilung.
Der Weg, stellen wir fest, hat sich gelohnt – nicht nur, weil der Weg schon ein schönes Ziel war, sondern auch wegen des ungeheuerlichen Buchparadieses, das sich hinter dem kleinen Hauseingang verbirgt, zu dem uns das Handy bringt. Diese Buchhandlung ist wirklich und im Wortsinne vollgestopft mit Büchern: solchen über Venedig und einer Unzahl neuer und antiquarischer Exemplare in unterschiedlichsten Sprachen. Sie stapeln sich von einem Raum in den anderen, vom Boden bis zur Decke und auch in der angekündigten Gondel, die als eine Art Verkaufstisch dient. In einer geöffneten Tür zum Kanal stehen ein paar Stühle, auf denen wir in sehr venezianischer Idylle unser Supermarkt-Picknick verzehren.
Hohe Buchstapel auf den diversen Terrassen des Geschäfts haben in Zusammenarbeit mit der venezianischen Feuchtigkeit eine neue chemisch-physikalische Substanz angenommen und dienen an der Mauer zum Kanal als Treppen. Wir sind glücklich.
Koller im Rialto-Viertel
Beim Verlassen der Buchhandlung bemerke ich, dass mir zu meinem touristischen Seelenheil jetzt noch ein bisschen klassische Hochkultur fehlt, ein Museum oder wenigstens eine Kirche. Aber meine Tochter will, dass wir uns nichts mehr vornehmen an diesem ersten ganzen Venedig-Tag, und es ist ja nicht zuletzt ihre Reise. Allerdings möchte sie shoppen, und zwar irgendwo, wo es nicht nur Designergeschäfte und Touristenläden gibt wie rund um unser Hotel. Also arbeiten wir uns in Richtung Rialto vor und fädeln uns in die Menschenmengen ein, die zwischen Filialen globaler Ketten flanieren. Doch es funktioniert nicht zwischen uns und dem venezianischen Rummel; wir bekommen den Koller, wir wollen weg, zurück in unser Hotel. Stress und Beschaulichkeit liegen für mich in Venedig so nah zusammen wie an kaum einem anderen Ort.
Fischballons vor Lagunenkulisse
Die Hochkultur bekomme ich am nächsten Tag. Der Weg dahin erfolgt per Traghetto: Wir müssen den Canal Grande an einer Stelle überqueren, an der es keine Brücke gibt, und nehmen deshalb eine der kleinen Gondelfähren, die kontinuierlich von einer auf die andere Seite übersetzen. Der Preis: zwei Euro pro Person. Die Überfahrtsdauer: keine 5 Minuten. Venezianer zahlen angeblich 70 Cent für eine Fahrt. Aber immerhin bekommen wir ein bisschen Gondel-Feeling, bevor wir die Kunstwelt des französischen Milliardärs François Pinault betreten. Die Punta della Dogana an der Spitze des Stadtteils Dorsoduro war früher Venedigs Zollstation und ist heute eines von zwei historischen Gebäuden – das andere ist der Palazzo Grassi -, die Pinault gekauft hat, um seine Sammlung zeitgenössischer Kunst auszustellen. Von innen ist das Gebäude herrlich großzügig, augenblicklich wird vor allem Konzeptkunst gezeigt, die in den weiten Räumen erstklassig zur Geltung kommt und uns ein bisschen kaltlässt. Vor allem wohl, weil zu viel Ähnliches aufeinander folgt.
Bis wir plötzlich in eine höchst amüsante Rauminstallation des Künstlers Philippe Parreno geraten. “Quasi Objects: My Room is a Fish Bowl” nennt sich das Ensemble aus einem automatisch spielenden Flügel, rhythmischen Lichteffekten und glänzenden Ballons in Fischform. Das ist sehr unterhaltsam und auch ein bisschen absurd, aber so richtig kommen wir erst auf den Geschmack, als eine Gruppe von Kleinkindern den Raum stürmt und die Fische durch die Gegend wirft. Also trauen wir uns auch und sind begeistert von dem Effekt dieser schwebenden Plastiktiere, die nicht so leicht nach oben steigen wie Heliumballons und nicht so leicht auf den Boden gleiten wie Luftballons. Sie fühlen sich ähnlich an wie der eigene Körper, wenn er im Wasser schwimmt. Manchmal habe ich ein Problem mit Spaßkunst, aber hier passt alles zusammen. Es ist toll, sich vor der traumhaft durch die Fenster der Punta della Dogana eingerahmten venezianischen Kulisse selbst ein bisschen zu fühlen wie im Fischglas.
Nach Burano
Der Rest des Tages gehört der Insel Burano mit ihren berühmten bunten Häusern. Die Fahrt mit dem Vaporetto durch die Lagune finden wir fantastisch. Mit Burano selbst und seinen zwei dicht an dicht von Pizzerien und Souvenirgeschäften gerahmten Hauptsträßchen, auf denen Menschenmengen auf- und ablaufen, haben wir allerdings gewisse Probleme. Dennoch: Sobald man in die Seitengassen biegt, findet man ein pittoreskes Motiv neben dem anderen – und zückt unwillkürlich die Kamera. Die Ergebnisse gibt’s hier auf dem Blog zu sehen.
Venedig mit Kind und im Regen
Und dann, am letzten Vormittag, versuchen wir noch einmal unser Glück mit der Markuskirche. Diesmal sind wir vorbereitet auf die Warteschlange, nicht aber auf den venezianischen Regen. Der strömt und fegt von oben, links und rechts auf uns ein. Binnen Minuten sind wir nass. Entscheiden uns, dass sich das Warten vor der Kirche an diesem Tag nicht lohnt. Und dass wir sie ein andermal besuchen werden. Denn mit dieser allzu beliebten Lagunenstadt, ihrer einzigartigen Geschichte und ihrem exotischen Zauber sind wir noch lange nicht fertig.
INFO: Venedig mit Kind
Herumkommen
Viel lässt sich in Venedig zu Fuß machen; für weitere Distanzen eignet sich das Vaporetto, das Linienboot. Wir haben an der Vaporetto-Station vor dem Bahnhof Santa Lucia 72-Stunden-Tickets gekauft. Mit dem Vaporetto kann man auch auf die Laguneninseln Murano, Burano und Torcello fahren. Ein bisschen Gondel-Feeling lässt sich beim Überqueren des Canal Grande mit dem Traghetto zum Preis von zwei Euro pro Person erleben.
Orientierung
Sind wir alle digital degeneriert? Die großen Ziele in Venedig lassen sich mühelos mit dem Stadtplan finden, manche Vaporetto-Stationen und Sehenswürdigkeiten sind auch auf Hauswänden ausgeschildert. In den kleinen Straßen allerdings hilft uns auch ein guter Stadtplan manchmal kaum weiter, dafür aber das Handy-Navi, das auch winzigste Gässchen kennt. Wie haben wir uns eigentlich früher zurechtgefunden?
Unterkommen
Die Hotelauswahl in Venedig ist riesig, die Preise sind stattlich. Wir hatten es nicht billig, aber wunderschön im Hotel Saturnia & International nahe der Oper La Fenice. Ich habe mich selten in einem Hotel so wohl gefühlt wie in diesem alten Haus mit seinen individuell eingerichteten Zimmern, seinen gemütlichen Sitzecken auf jedem Stockwerk und seinen umwerfend gutgelaunten, aufmerksamen und charmant in diversen Sprachen parallel parlierenden Angestellten. Der Hintereingang des Hotels ist übrigens auf dem Bild ganz oben zu sehen.
5 Comments
Gudrun
Ich habe zwei Besuche gebraucht, bis ich Venedig akzeptieren konnte, so wie es ist: absolut touristisch. Aber es ist trotzdem wunder-, wunder-, wunderschön! Die Buchhandlung fand ich ebenfalls genial!
Maria-Bettina Eich
Liebe Gudrun, vermutlich ist es genau das: Man muss es akzeptieren lernen, wie es ist. Mir hat die Einstellung meiner Tochter geholfen, die sehr entspannt der Meinung war, der Rummel gehöre hier einfach dazu. Und ja: Die Schönheit lässt sich nicht bestreiten!
Liebe Grüße,
Maria
Christiane
Liebe Maria,
mich hat der Neid ja schon letzte Woche bei deinen Fotos erfasst. Aber jetzt erst recht: In dem Hotel haben wir unsere Flitterwochen verbracht!!! Das Zimmer hatte ein Bad mit den schönsten blauen (!) Kacheln, die ich jemals gesehen habe. Damals war Venedig im März aber touristisch noch erträglich. Wir waren ohne Schlange im Markusdom, und beim Abendessen wurde man ab dem zweiten Besuch vom Wirt mit Handschlag begrüßt. Und ab sechs Uhr am Abend konnte man sogar Markusplatzfotos ohne Tauben machen.
Ach! Christiane
Maria-Bettina Eich
Liebe Christiane,
ist ja verrückt, dass Ihr ausgerechnet in dem Hotel wart! Unser Bad hatte keine blauen Kacheln, aber ansonsten war es perfekt, traumhaft, ideal. Markusplatzfotos ohne Menschen dürften bei Fotoagenturen hohe Preise erzielen. Mehr am Telefon!
Maria
Christiane
Markusplatzfotos ohne Menschen natürlich!!!