Zuletzt aktualisiert am 2. Februar 2021 um 13:26

Was nicht geht: nach Edinburgh kommen und nicht geflasht sein. Was sehr wohl geht: nach Edinburgh kommen und schnell gestresst sein. Denn die Stadt ist voll. Rummelige und geheimnisvolle Atmosphäre liegen immer nur ein paar Schritte auseinander. Wir haben versucht, uns einen persönlichen Weg durch die schottische Hauptstadt zu bahnen.

Der Himmel über Edinburgh

Edinburgh, George Street
Zur Begrüßung ein Regenbogen
Edinburgh Castle
Über dem Ende der Einkaufsstraße thront ein Schloss. Wir sind in Schottland

Wir alle sind bestechlich. Als wir aus unserem Edinburgher Hotel zur zentralen George Street kommen und direkt vor uns einen doppelten Regenbogen sehen, sind wir sicher: Das mit Edinburgh und uns wird nicht schiefgehen. Wir laufen ein paar Meter, drehen den Kopf ein wenig und haben freien Blick auf Edinburgh Castle, das am Ende einer Einkaufsstraße auf einem grünen Hügel über der Stadt liegt. Der Himmel hängt weich und schwer auf uns, die grau bebauten Straßen fühlen sich wie intime Zimmer an, die beliebteste Stadt Schottlands hat uns erwischt.

Dabei sind wir noch gar nicht weit gekommen. Das Zentrum Edinburghs teilt sich in die mittelalterliche Old Town und die im 18. Jahrhundert entstandene New Town. In der Altstadt waren wir noch überhaupt nicht, als wir nach unserem ersten Abendspaziergang betört ins – überteuerte – Bett in der georgianischen Neustadt fallen.

Es ist voll in Schottlands Hauptstadt

Bibi's Bakery, Edinburgh
Bibi’s Bakery hat es drauf, wie meine Töchter finden

Auch am nächsten Tag dauert es ein Weilchen, bis wir zum entscheidenden touristischen Ballungsgebiet vordringen. Wir müssen erstmal durch die hübschen Läden der New Town bummeln, stylische Designgegenstände bewundern und die extrem attraktiven Kreationen aus Bibi’s Bakery probieren. Bibi’s hat Macarons mit Meerjungfrauenschwanzdekor im Angebot: sehr passend für ein Land, das über endlose Ufermeilen am Meer und an Seen verfügt. Außerdem bietet die Patisserie Etageren voller Cupcakes in Herbstfarben an, mit zuckrigem Laub und süßen Eichhörnchen. Das sieht zwar sehr spektakulär aus, scheint uns aber verfrüht. Immerhin ist es erst August.

Allerdings wird uns auch genau dieser August ein bisschen zum Verhängnis. Natürlich ist es unprofessionell, in dem Monat nach Edinburgh zu reisen, in dem eine Reihe paralleler Kulturfestivals die Stadt auf den Kopf stellt. Nie ist Schottlands Kapitale voller und teurer als im August. Andererseits: Was soll man machen, wenn man an die Baden-Württembergischen Schulferien gebunden ist, im Sommer nach Schottland reisen und Edinburgh nicht auslassen will?

Magie und Rummel in der Old Town

Edinburgh: Old Town
Steil und gedrängt: die Altstadt von Edinburgh

Von Bibi’s Bakery begeben wir uns in die Old Town. Der Anblick ist grandios. Edinburghs historisches Stadtbild ist einzigartig: Aus Platzmangel baute man bis ins 17. Jahrhundert hinein die Mietshäuser innerhalb der Stadtmauern in schwindelerregende Höhen von bis zu elf Stockwerken. Diese steile, gedrängte Struktur prägt die Old Town bis heute.

Ich überrede den Rest der Familie zu einer Stadtrundfahrt per Bus, denn ich will mir einen Überblick verschaffen darüber, wie der alte und der neue Teil Edinburghs zusammenhängen, wo die Stadt aufhört und der Hausberg Arthur’s Seat ansteigt und wie sich das Schloss in das Ensemble einfügt.

Die Edinburgh-Magie hält. Die verwinkelte, dunkle, eng bebaute Anlage der Old Town ist voller mysteriöser Ecken, schmaler hoher Gebäude, grauer Gassen, in denen wir uns jedes Schauerdrama vorstellen können. Und sie ist voller Souvenirgeschäfte. Kaum ein historisches Gebäude, das nicht Tartan, Wolle oder Whisky anböte. Gedränge auf den Bürgersteigen. An alles das erinnere ich mich von meinem ersten Edinburgh-Besuch vor vielen, vielen Jahren, und der fand nicht während der Festival-Saison statt. Edinburghs Altstadt ist ein Traum, aber sie wirkt auch ein bisschen wie ein Freizeitpark zum Thema Good Old Scotland. Dieses Dilemma kennt jeder, der gern reist: Besonders schöne Orte ziehen besonders viele Menschen an – auch uns -, und wo Touristen sind, da wird gewöhnlich Handel mit ihnen getrieben. Trotzdem möchte man sich wünschen, dass Edinburghs Altstadt ein bisschen weniger wie ihr eigenes Abziehbild aussähe. Sowohl die Old Town als auch die New Town gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe, was ja eigentlich eine gute Sache sein sollte, was allerdings auch der Musealisierung und dem Overtourism Vorschub leistet. Wenn der Tourismus-Theoretiker Marco d’Eramo behauptet, das Welterbe-Siegel verwandle lebendige Städte in Theaterkulissen, dann sind das starke Worte, denen man aber auf der Royal Mile, der Lebensader von Edinburghs Altstadt, nicht unbedingt widersprechen mag.

Dunkle Besucherattraktion: Mary King’s Close

Es war eng im alten Edinburgh / (c) The Real Mary King’s Close

Ob man die Royal Mile von Edinburgh nun als Theaterkulisse empfindet oder nicht: Wir nehmen auf jedem Fall als Zuschauer an einem ihrer Theaterstücke teil und besuchen eine Attraktion, die The Real Mary King’s Close heißt. Closes sind die kleinen Gassen, die rechts und links von der Royal Mile abgehen – schmal und dunkel zwischen den hohen Wohnhäusern.

Diejenige Close, die nach der Händlerin Mary King benannt wurde, befindet sich unter der Erde; im Laufe der Jahrhunderte wurde sie überbaut. Im Grunde handelt es sich um ein ganzes Netz von Closes, das heute als Besucherattraktion betrieben wird. In einer Gruppe, geführt von einem Schauspieler, betreten wir eine Folge von kleinen Räumen an schmalen Gängen. In dieser dunklen, sauerstoffarmen Enge, in die nur wenig Licht und Luft aus den Zwischenräumen zwischen den hohen Häusern gelangte, lebten und arbeiteten viele der ärmeren Bewohner Edinburghs; die reicheren bevorzugten höhere Stockwerke. Unser Guide beschreibt sehr eindringlich, wie sich die Luft angefühlt haben muss, wenn man an diesem Ort Essen kochte, und was für einen Gestank die Abwässer absonderten. Dass sich Krankheiten in dieser Umgebung rasend schnell ausbreiteten, verwundert nicht: Mary King’s Close wurde im 17. Jahrhundert massiv von der Pest heimgesucht; Ratten fühlten sich hier wohl. Auch gibt es Geschichten von Morden und anderen Gräueltaten, die dem unterirdischen Labyrinth schon früh zu dem Ruf verhalfen, eine der stärkstbespukten Locations Edinburghs zu sein.

Mary King’s Close lohnt sich, wenn man mit Kindern unterwegs ist / (c) The Real Mary King’s Close

Gewiss haben die Betreiber Mary King’s Close als Spektakel aufbereitet – mit historisch verkleideten Schauspielern, viel Storytelling, schummriger Beleuchtung und digitalen Wandbildern, die sich bewegen und sprechen. Manchen Besuchern ist das zu viel kommerzielles Entertainment, für uns und unsere Teenager-Töchter ist das Ganze allerdings ein sehr plastischer Einstieg in die dunklen Seiten einer eigenwilligen Stadtgeschichte. Und obwohl wir kein Gespenst sehen, halten wir in Annie’s Room die Luft an. Annie ist ein kleines Mädchen, das hier in der Close spuken soll: ein Pestopfer, das von seinen Eltern verlassen wurde und sich verzweifelt nach einer Puppe sehnte, um nicht so einsam zu sein. Heute gibt es einen Raum voller Spielsachen, die die Besucher für Annie mitbringen. Auch Geld wird an Annies Schrein hinterlassen – und an eine Organisation für kranke Kinder weitergespendet.

Prestonfield House: Afternoon Tea wie im Märchen

Prestonfield House, Edinburgh
Für einen Nachmittag gehört dieser Salon uns
Prestonfield
In Prestonfield House werden Antiquitäten zu einem zeitgemäßen Look kombiniert

Als wir nach der düsteren Close wieder auf die Straße treten, befinden wir uns zwar nicht mehr in beklemmend engen unterirdischen Gängen, aber wir fühlen uns trotzdem etwas klaustrophobisch. Es ist so extrem bevölkert hier, oft ist der Bürgersteig zu eng für alle Passanten, und man bewegt sich im Gänsemarsch. Wir sind froh, dass wir einen Programmpunkt anberaumt haben, für den wir weg müssen aus der Innenstadt von Edinburgh mit ihren vorgezeichneten Routen.

Unser Ziel heißt Prestonfield House, und es ist der Hammer. Ehemals ein Herrenhaus, in dem Leute wie der Philosoph David Hume verkehrten, ist es heute ein Hotel, in dem Leute wie wir einen Tisch für den Afternoon Tea reservieren. Prestonfield ist von oben bis unten eine Schatzkammer, teils mit Möbeln und Bildern aus seiner eigenen Geschichte ausgestattet; luxuriös, originell und kein bisschen angestaubt. Hier waren Designer am Werk, die mit historischen Materialien eine ganz zeitgemäß anmutende Opulenz geschaffen haben. Bester Beweis: die Influencerinnen mit gezückten Kameras, denen ich im pinken, Boudoir-artigen Ladies’ Room begegne.

Prestonfield House, Ladies' Room
Das Badezimmer für Ladies. Pink und insta-worthy

Alles hier ist Eye-Candy. Jedes Zimmer sieht anders aus, der Tee wird in verschiedenen Räumen an Sitzgruppen serviert, wir haben einen Salon ganz für uns alleine. Was auf die Tische kommt, ist ebenso schön wie das Drumherum, und nicht nur das: Es schmeckt ganz hervorragend.

Familienreise Schottland: Edinburgh
Tee und Törtchen können so gut aussehen
Prestonfield House Afternoon Tea
Am Ziel: Afternoon Tea in Prestonfield House

Wir wechseln vom Sofa in den Sessel und von dort auf den Polsterstuhl, stellen unsere Teller auf dieses und jenes Beistelltischchen, genießen jeden Bissen, jeden Schluck und die ganze Situation. Es hat unbestreitbar Vorteile, mit älteren Kindern zu reisen, denn die haben hier genau so ein Glückserlebnis wie wir. Gelegentlich sage ich, dass ich eigentlich keinen Luxus brauche. Das nehme ich an diesem Ort zurück. So ein Mix aus kulinarischem und Design-Luxus ist herrlich – und gehört im übrigen zu den bleibenden Erinnerungen unserer Reise. Und auch, wenn der Afternoon Tea im Prestonfield House mit 30 Pfund pro Person einen gewissen Preis hat: Reich zu sein braucht man hierfür nicht. Dazu ist das Personal nett, der männliche Teil adrett in Kilts gekleidet, der Weg durch das Gebäude die reinste Wonne. Ein absolutes Highlight, das Ganze.

Scottish style: Prestonfield
Auch eine Cosplayerin lässt sich im Prestonfield House fotografieren

Illusionen und Nachtgefühle

Am nächsten Tag stehen wir wieder auf der Royal Mile in der Altstadt. Wir wollen Gladstone’s Land anschauen, ein historisches Wohnhaus aus dem 17. Jahrhundert. Man teilt uns mit, wie viele Stunden wir bis zur nächsten Führung mit freien Plätzen warten müssten, und wir verlieren die Lust. Gehen stattdessen in die benachbarte Camera Obscura, ein vielstöckiges Etablissement voller optischer Experimente, Täuschungen, Illusionen.

Camera Obscura & World of Illusions, Edinburgh
Spiegellabyrinth. Camera Obscura & World of Illusions, Edinburgh

Wir haben viel Spaß mit Zerrspiegeln, Hologrammen, leuchtenden Spiegellabyrinthen. Vom Dach des Gebäudes erlebt man eine fantastische Sicht auf Edinburgh, aber abgesehen davon könnte die Camera Obscura überall stehen. Und trotzdem passt sie erstaunlich gut hierher, in diese Stadt, an dem sich für uns dunkle unterirdische Gänge mit leuchtenden Regenbogen ablösen. In dieses Edinburgh, in dem Geschichte die Straßen säumt und gleichzeitig oft wie eine inszenierte Illusion wirkt. In dem die Straßen so rummelig sind, dass uns die Lust auf Unternehmungen vergeht, sobald es aber Nacht wird, still und verwunschen wirken. Als würden sich die Häuser auf die Geschichte und die Geschichten besinnen, die ihnen in den Steinen stecken und die kein Besucher zu sehen bekommt. Bei unserem Abschied von Edinburgh fällt mir an der Rückseite des Bahnhofs ein Panneau mit einer Zeile Straßenpoesie ins Auge: “A place that exists only in moonlight”, steht da.

Familienreise Schottland: Edinburgh
Abends, wenn plötzlich alles still wird
Edinburgh
Dieses Stück Straßenpoesie kann kein Zufall sein