Zuletzt aktualisiert am 19. November 2018 um 20:02

Wer sich für Design interessiert, muss Ikea ernst nehmen. Der Slogan “Design für alle”, der augenblicklich an den Wänden des schwedischen Möbelhauses prangt, ist mehr als eine werbliche Behauptung. Er ist die Wahrheit. Wer designt schon so viele Dinge, die sich ins Alltagsleben ganz normaler Menschen einschleichen, wie Ikea? Weshalb man sich auch fragen darf: Was hat es zu bedeuten, wenn Ikea in diesem Jahr den Weihnachtshasen einführt und ihm einen stylischen Wolf zur Seite stellt?

Gegenderte Wesen aus nordischen Wäldern

Ikea Weihnachten

Weihnachtsdesign für alle: Rätselhafte Waldwesen auf einem Aufkleberset von Ikea

Weihnachten und Wald, das ist eine klassisch skandinavische Kombination. Dass die Wesen, die Ikea in diesem Jahr auf Weihnachtspapier und -servietten, auf Geschenktüten und Aufkleber druckt, den Wäldern des Nordens entstammen, ist keine Überraschung. Trotzdem werfen sie Fragen auf. Warum kommt der Wolf gerade zu Weihnachten? Was hat das gekrönte Vögelchen auf seinem Ast in dieser Jahreszeit vor? Und vor allem, wie mein Mann rätselt: Wo ist der Tomte? Dieser urschwedische kleine Weihnachtswichtel, an den wir uns längst gewöhnt haben, seit das skandinavische Design das Weihnachtsfest erobert hat, und dessen enger dänischer Verwandter Nisse heißt – hat Ikea ihn in diesem Jahr vergessen? Oder ist die winzige rote Zipfelmütze auf dem Aufkleberset ein Hinweis auf das, was vom Tomte übrig blieb? Hat der Wolf ihn gefressen? Wenn das der Fall gewesen wäre, dann war am Tomte entweder nicht viel dran oder der Wolf hat ziemlich viele Workouts gemacht, denn er präsentiert den Betrachtern einen makellosen Waschbrettbauch. Auch sonst ist er ein Prachtstück maskuliner Ästhetik, mit seinem gemusterten Schal sogar in Sachen Herrenmode gut dabei. Während, das muss man ehrlich sagen, der bieder Geschenke transportierende Weihnachtshase mit seinem Schürzchen überkommene Stereotypen des Weiblichen transportiert. War es das jetzt mit der legendären Gleichberechtigung der Schweden? Dass der Wolf mit Raubtiermiene in Richtung Häschen schaut, kann uns auch nicht wirklich beruhigen. Schlägt die Frauenverachtung ausgerechnet zum Familienfest zurück?

Morgen kommt der Weihnachtshase

Wieso gibt es 2018 überhaupt einen Weihnachtshasen? Der Pilz, der bei Ikea in diesem Winter omnipräsent ist und der immerhin zum Standardinventar der Weihnachtsmotivik gehört, wächst ein bisschen so aus seinem Stiel, wie das österliche Küken aus der Schale bricht. Wendet Ikea sich, während längst überwundene Genderklischees wieder eingeführt werden, gegen die Jahreszeiten-Stereotypen? Oder haben die Schweden einfach akzeptiert, dass es in Zeiten des Klimawandels keinen wirklichen Unterschied zwischen Winter und Frühling mehr gibt? Immerhin hatten wir in den letzten Jahren mindestens so oft weiße Ostern wie weiße Weihnachten.

Meine Tochter denkt bei Ikeas Weihnachtshasen eher an Alice im Wunderland. In der Tat: Das Häschen ist ähnlich gekleidet wie Alice auf den bekannten Illustrationen von John Tenniel. Und auch die altmodische Taschenuhr, die im diesjährigen Weihnachtskosmos der Schweden vorkommt, lässt stark an den Zeitmesser des Kaninchens denken, das Alice ins Wunderland lockt. Traditionell steht das Uhrenmotiv zwar für den christlichen Memento-mori-Gedanken, der den Menschen dazu ermahnt, an seine Sterblichkeit zu denken und das Herz deshalb nicht an vergängliche irdische Güter zu hängen. Aber es ist nicht wirklich wahrscheinlich, dass Ikea ausgerechnet mit der Uhr christliches Gedankengut in sein Weihnachts-Design hereinholt; da hätte sich ein nordisch gestyltes Engelchen auf jeden Fall besser geeignet. Also doch eher Alice. Nicht ganz abwegig, wenn man bedenkt, dass die Wunderland-Alice in den letzten Jahren zu einer echten Designikone geworden ist. Ikea weiß schließlich, was hip ist. Wenn Ikea nicht selbst vorgibt, was hip wird.

Ikea redesignt Weihnachten

Womit wir wieder beim Wolf wären. Der Schal macht ihn eindeutig zum Dandy. Steht uns nach dem Zeitalter des Hipsters eine Wiederbelebung des Dandys bevor, dieser Mannsfigur, die die Großstädte im späteren 19. Jahrhundert gut gekleidet und mit verführerischem Gleichmut durchstreifte? Neben dem stylischen Wolf prangt auf Ikeas Aufkleberset eine unweihnachtlich-morbide welkende Blüte, die verdächtig an die Blumen des Bösen des französischen Dichters Baudelaire denken lässt. Und wer hätte das Dandytum eindringlicher auf den Punkt gebracht als just dieser Baudelaire?

Eindeutig ist nur eins: Ikea hat Weihnachten redesignt. Da ändern auch die paar Sterne, Fichtenzweige, Tannenzapfen nichts, die ein bisschen traditionelles Flair in das Pandämonium denaturierter Waldwesen bringen. Schwer von der Hand zu weisen ist gleichzeitig die Tatsache, dass diese weihnachtlichen Illstrationen etwas ziemlich Stylisches haben. Ein wenig unstrukturiert, aber dennoch sehr zeitgeistig spielen sie mit dem Appeal des Improvisierten, Handgemachten, mit der aktuellen Sehnsucht nach nordischer Hygge und mit dem erwähnten Wunderland-Trend. Um es mit Alices eigenen Worten zu sagen: curiouser and curiouser.