Zuletzt aktualisiert am 29. September 2024 um 22:06
So viel Kreativität. So viel Tragik. Ein Warschau-Trip kann eine einschneidende Erfahrung sein. Vor allem, wenn man aus Deutschland hierherkommt.
Geschichtsstunde
Deutsche, Mitte 50, gerät auf Reisen zunehmend an Orte, deren heutige Form nicht zuletzt eine Folge der furchtbaren Taten ihrer Landsleute ist. Ein Jahr vor den unerträglichen Massakern in Israel am 7. Oktober 2023 war mein Reiseziel Tel Aviv: eine Stadt, die ohne die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten niemals das gigantische Wachstum und damit die Bautätigkeiten der 1930er- und 1940er-Jahren erfahren hätte, die ihr Bild heute prägen. Jetzt, kein Jahr später, bin ich erstmals in Warschau.
Und während ich mich bereits bei meiner Israel-Reise hinlänglich meines historischen Unwissens geschämt habe, scheint es mir in Warschau noch viel unverzeihlicher, wie kläglich wenig ich von dem weiß, was ich als Deutsche unbedingt über die Geschichte dieser Stadt wissen sollte.
Mir war nicht bewusst, dass die Nationalsozialisten nicht nur den Juden im Warschauer Ghetto gegenüber unvorstellbare Grausamkeiten verübt haben, sondern dass sie 1944 infolge des Warschauer Aufstands systematisch die komplette Stadt zerstörten, bis Hitler im Winter 1944/45 konstatierte: “Warschau ist zu einem ausschließlich geographischen Punkt geworden.”
Eine Altstadt wie keine andere
Nun stehen wir hier, meine Freundin und ich, in einer pittoreskten Altstadt, die 1980 zum UNESCO-Welterbe ernannt wurde – mit einer Hintergrundgeschichte, die mich sprachlos macht. Der Altstadtmarkt, die bunten Häuser, die lauschigen Gässchen, auch das Königsschloss: Alles wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Grund auf nach historischem Vorbild neu erbaut – unter enormem Einsatz der polnischen Bevölkerung, teilweise mit ihren Spendengeldern.
Es mag Spezialistinnen geben, die den hübschen Fassaden ihr noch nicht allzu hohes Alter ansehen. Hier und da sind Kommentare zu lesen, die das möglicherweise allzu homogene Erscheinungsbild der Altstadt nach dem Wiederaufbau kritisieren und sich hier und da andere Einzelentscheidungen gewünscht hätten. Doch für mich als unbedarfte Touristin herrschen bei meinen beiden zwei Tage auseinanderliegenden Altstadt-Spaziergängen zwei sehr unterschiedliche Gefühle vor: Beim ersten Mal verliere ich mich zusammen mit meiner Freundin in romantischen kleinen Straßen, bewundere schöne alte Häuser, ziehe Parallelen zwischen den märchenhaften Motiven auf den Fassaden des zentralen Altstädter Marktplatzes und dem phantastischen Flair des Alten Markts in Posen. Ich hatte durchaus gelesen, dass die Warschauer Altstadt nach dem Krieg einen massiven Wiederaufbau erlebt hatte, aber beim Hindurchgehen durch die Idylle dachte ich: Da stand wohl doch noch so einiges an historischer Substanz; wie gut.
Vor meinem nächsten Gang durch die Warschauer Altstadt lese ich genauer nach. Diesmal ist mir klar, dass nichts von dem, was mich hier mit seiner nostalgischen Atmosphäre umgibt, nach dem Krieg da war. Hier gab es Schutt, ein paar Mauern, aufgerissene Keller. Der Aufwand, der notwendig war zur Rekonstruktion dieser Altstadt, wird bei jedem Schritt unvorstellbarer. Und es wird deutlich, wie unverzichtbar dieser historische Kern der eigenen Hauptstadt für die kulturelle Identität der Polen nach dem Krieg gewesen sein muss. Wer ihnen die nehmen wollte, ist mir nur allzu klar. Mit was für einer ungeheuren Vernichtungswut mein eigenes Land vorgegangen ist, war mir noch nie so bewusst wie in Warschau.
Glas, Stahl, hippe Gastronomie
Und in Warschau wird es mir nirgendwo bewusster als in der Gegend rund um unser Hotel. Allerdings nicht sofort. Meine Freundin und ich kommen an einem Samstagnachmittag im Hilton City Warsaw an. Das Hotel liegt inmitten eines Ensembles von Hochhäusern aus Stahl und Glas, die eine echte Skyline bilden. Dazwischen halbfertige Bauten und Kräne: Hier passiert viel. Stararchitekten sind am Werk. Warschau boomt.
Dieses Geschäftsviertel ist am Wochenende und am Abend nicht halb so ausgestorben, wie Geschäftsviertel in anderen Städten es oft sind. Auf den Straßen ist Leben, überall entdecken wir stylische Cafés und Restaurants, schräg gegenüber von unserem Hotel liegt die Browary Warszawskie: ein sehr hipper, mit diversen Preisen ausgezeichneter Komplex aus unterschiedlichen gastronomischen Etablissements mit einer riesigen Food Hall im Zentrum. Egal, ob Wochenende oder auch ein ganz simpler Montagabend: Immer ist es hier gut besucht. Die Leute, so unser Eindruck, genießen ihre Stadt.
Das Warschauer Ghetto, nicht einmal mehr eine Ruine
Wir haben eine Tour durchs Warschauer Gehtto gebucht, genauer: die von der Organisation Walkative angebotene Tour zum Thema “Jewish Warsaw”. Der Treffpunkt ist gar nicht weit von unserem Hotel. Wir sind Warschau-Neulinge, aber die ersten Straßen, durch die wir im Gefolge des Tourguides gehen, sind uns bereits bekannt. Hier haben wir unsere ersten Spaziergänge vom Hotel aus gemacht. Uns wird klar: Unser Hochhausviertel liegt mitten auf dem Gelände des ehemaligen Warschauer Ghettos. Das Erschreckendste bei dieser Tour ist, das man nichts vom Ghetto sieht. Es ist schlichtweg nicht mehr da. Irgendwo zeigt man uns einen Rest von der Mauer einer ehemaligen Brauerei, die gleichzeitig als Ghettomauer fungierte, an einer alten Hauswand kommen wir vorbei, ansonsten: nichts.
Stattdessen laufen wir durch Wohnsiedlungen, die nach dem Krieg direkt auf dem Schutt der Ghettobauten errichtet worden. Die Geröllmengen abzutransportieren, wäre unmöglich gewesen. Unser Tourguide schiebt seine Schuhspitze in einen kleinen Graswall vor einem Hauseingang und fördert direkt ein paar alte Steinbrocken zutage. Sie haben Dinge miterlebt, die die schlimmste Alpträume übertreffen. Ewas später weist er uns auf eine Hauswand hin, von der gerade der Putz geschlagen wurde: Die unterschiedlichen Steine, aus denen sie besteht, wurden aus den Trümmern der Zerstörung gewonnen. Die Zerstörer: Wir.
Es erschreckt mich, vor meiner Reise nicht einmal gewusst zu haben, dass von dem riesigen Warschauer Ghetto nichts mehr existiert außer ein paar Steinen und Geschichten. Diese Geschichten jetzt, bei dieser Tour, konzentriert zusammengefasst zu hören, scheint mir umso erschütternder, als ihr physischer Ort komplett vernichtet wurde.
Die letzte Synagoge
Tatsächlich haben unsere Landsleute eine der etwa 400 Warschauer Synagogen stehen gelassen: die Nozyk-Synagoge. Das große Gebäude diente ihnen so beqem als Stallung und Lager, dass sie es nicht niederrissen. Heute kann man es besichtigen, und das tun wir. Die Nozyk-Synagoge wurde zwischen 1898 und 1902 erbaut – in einem eklektizistischen Stilmix, der Neo-Romanik mit den byzantinischen und maurischen Elementen kombiniert, die in dieser allgemein sehr historistisch orientierten Epoche im Synagogenbau en vogue waren. Ein winziger Ausschnitt aus dem reichen jüdischen Lebens des historischen Warschau.
Wohnen auf den Trümmern des Ghettos
Eingebettet ist die Synagoge in Siedlungen aus den 1950er-Jahren. Wohnraum war lebensnotwendig in der zerstörten Stadt, und er entstand nicht zuletzt auf den erwähnten Trümmern des Ghettos. Eine angenehme, grüne Siedlung, die wir auf unserer Tour durchqueren, ist Muranów-Süd. Helle Wohnblocks mit vielen Höfen und Grünflächen. Dass darunter nicht nur Steine, sondern auch Knochen liegen, ist eine Tragik, die in Warschau nicht nur dem Ghetto vorbehalten ist. Das Wissen um dieses Fundament ist der wiederaufgebauten Stadt eingeschrieben.
Wohnblocks aus den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern prägen das Bild auf vielen unserer Spaziergänge. Es ist gewiss ein sehr subjektiver Eindruck, aber in meinen Augen verbreiten selbst die großen grauen Plattenbauten weniger Tristesse als in manch anderer postsozialistischer Stadt. Das mag zum einen an dem vielen Grün liegen, das sich überall durch Warschau zieht. Es mag aber auch damit zu tun haben, dass dieser Kapitale ihre historische Bausubstanz fast vollständig verloren ging. Mit dem Ergebnis, dass das Stadtzentrum nicht, wie andernorts häufig, aus Relikten aus Jugendstil und Gründerzeit besteht und sich die schmucklose Nachkriegsbebauung als weniger attraktiver Gürtel um die Innenstadt legt, sondern Teile der Innenstadt bildet. Im Erdgeschoss vieler funktionaler Wohnblocks finden sich denn auch Geschäfte, Restaurants, Coffeeshops – und das gern in einem sehr hippen, zeitgemäßen Stil, der manche deutsche Stadt aufwerten würde.
Urbane Coolness
Überhaupt nimmt das Stilbewusstsein der Warschauer meine Freundin und mich – erprobte Designtouristinnen – immer wieder gefangen. Zum Beispiel, als wir Happa to Mame besuchen: eine Matchabar, die ich als Tee-Liebhaberin auf meine To-do-List gesetzt hatte. Der großzügige Raum mit vielen Fenstern, ein paar sympathischen Nischen und Betonwänden diente in seiner sozialistischen Vergangenheit als Schönheitssalon. Jetzt stehen am Betontresen konzentrierte junge Menschen und schlagen Matcha auf für vorwiegend junge Warschauer und Warschauerinnen, die sich mit stylischen Matcha-Drinks und japanischen Süßigkeiten auf Betonbänke und -podeste, in Fensternischen oder auf entspannte Holzflächen drapieren.
Gegen graue Monotonie
Happa to Mame ist nur ein Beispiel für die urbane Coolness dieser Stadt, die in Anbetracht ihrer Nachkriegs-Baugeschichte so leicht ein Ort der Tristesse hätte sein können. Letztere jedoch wollte man von Beginn an vermeiden. In den 1960er-Jahren veranlassten Warschaus Stadtplaner eine “Neonisierung”, mit der man die zwangsläufig monotonen Fassaden der rapide hochgezogenen Bauten beleben wollte. Von ihr erzählt ein kleines und schillerndes Neon-Museum.
Ohne besondere Beweise für diese Theorie deute ich auch die omnipräsenten Murals in Warschau als eine Maßnahme, mit der man den Mauern ihr eintöniges Grau nehmen will. Ständig begegnen wir ihnen: riesengroß, wunderbar kreativ, Belege für die große grafische Tradition Polens. Von Wandflächen, die keine Kunst ziert, schauen überdimensionale Models auf uns hinab, die für Modemarken werben.
Highlight beim Warschau-Trip: die Universitätsbibliothek
Und dann ist da die Warschauer Universitätsbibliothek. Sie schreibt ein eigenes Kapitel Stadtplanungs-, Architektur-, Design-, Garten- und Nachhaltigkeitsgeschichte. 1990 entstand das von Marek Budzyński und Zbigniew Badowski entworfene Gebäude, das gestalterisch deutlich in der Postmoderne verankert ist mit seinen Stilzitaten, seinen plakativen kulturellen Reminiszenzen, seinem spielerisch-bunten Charakter. Und obwohl die postmoderne Architektur aus heutiger Sicht gerne etwas Peinlich-Überholtes hat, funktioniert die Warschauer Universitätsbibliothek auch ästhetisch immer noch ganz hervorragend. Das mag mit ihrer dynamischen Raumkonstruktion und ihrer benutzerfreundlichen Struktur zu tun haben. Und nicht zuletzt mit ihrem Garten.
Der ist nämlich ein urbanes Wunderwerk. Ein grüner Hang zieht sich an der Seite des Baus hinauf auf sein Dach und bildet oben ein riesiges Areal, in dem man sich verlieren kann: unter Pergolen, auf Brücken, in stillen Sitzecken, auf Terrassen mit Aussicht auf Warschaus Skyline und vor Bullaugen-Fenstern, die grün gefärbte Blicke ins Bibliotheksinnere freigeben. Was für eine Anlage! Wir sind geflasht, bleiben ewig und beschließen, jeder und jedem diesen Bibliotheksgarten als eine absolute Nummer-eins-Sehenswürdigkeit für einen Warschau-Trip ans Herz zu legen.
Über die Weichsel nach Praga
Die Bibliothek liegt direkt an der Weichsel, nicht weit entfernt führt die spektakuläre neue Karowa-Fußgängerbrücke über den Fluss. Am anderen Ufer liegt der Stadtteil Praga: einst eine No-go-Area, heute, wie es das Schicksal derartiger Viertel fast überall ist, auf dem Weg der Gentrifizierung.
Durch Praga führt mich an meinem letzten Abend, nachdem meine Freundin bereist abgereist ist, eine liebe Bekannte: eine Warschauerin, die auch Deutschland sehr gut kennt. Ich habe sie lange nicht gesehen und überfalle sie direkt mit Komplimenten über ihre tolle, lebendige, stylische Stadt. “Wir geben uns Mühe”, sagt sie: ein bescheidener Satz, der so einiges umfasst. Etwa das Engagement, mit dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner Warschaus um ihre Stadt kümmern. Das Stilbewusstsein der Leute. Und auch die Lebenslust, mit der sie ihre Stadt genießen.
Meine Bekannte zeigt mir Koneser: ein extrem attraktives Kultur-, Freizeit- und Wohnareal, entstanden auf dem Gelände einer ehemaligen Wodkafabrik. Wie kreativ und gestaltungssicher man hier mit den Überresten von Industriearchitektur umgegangen ist, beeindruckt mich. Ich würde sagen, wenn es um einen eleganten Industrial Style geht, um die hippe Umwandlung von Fabrikanlagen, dann ist Warschau definitiv das Brooklyn Europas. Während meiner vier Tage in der polnischen Hauptstadt entdecke ich nicht weniger als vier solcher Anlagen.
Hoffnung im Hinterhof
Aber der Stadtteil Praga hat nicht nur diese gentrifizierte Seite. Es gibt viele Ecken, die von der rauen Vergangenheit des Viertels erzählen: eines Viertels im übrigen, in dem etwas mehr alte Bausubstanz überlebt hat als andernorts in Warschau. Manche Straßen sind dunkel, und sie haben noch etwas dunklere Hofeingänge. Nicht immer, sagt meine Bekannte, sind Touristen hier erwünscht. Sie ist ein wenig vorsichtig in der Auswahl der Hinterhöfe, in die sie mich lotst. Und in denen Marienaltäre stehen, kreiert aus den Alltagsmaterialien, die man halt so zur Hand hat, beleuchtet mit Heiligenscheinen aus Glühbirnen. An einem dieser Altäre haftet ein Schild mit Erläuterungen: Gebaut wurden diese bis heute gepflegten Hofaltäre von Anwohnern im Zweiten Weltkrieg – in der Hoffnung auf Schutz vor den deutschen Bombardements.
2 Comments
Weber Barbara
What a breathtaking report! Thanks for such an enlightening tour guide through this most interesting city reborn out of past terror!
Maria-Bettina Eich
Many thanks, my dear!