Zuletzt aktualisiert am 13. Juli 2022 um 17:15
New York für Touristen bedeutete lange Zeit: Manhattan. In den letzten Jahren allerdings ist Brooklyn zum Hotspot geworden – vor allem, was die Kreativ- und Foodszene angeht. Unser NYC-Projekt “Manhattan mit Abstecher nach Brooklyn” ist mittlerweile ein Reiseklassiker. Und irgendwie auch absurd, denn Brooklyn wäre, für sich genommen, die viertgrößte Stadt der USA; es erfordert eigentlich viel mehr als einen Abstecher. Trotzdem haben wir unser Bestes gegeben, um während unseres Brooklyn-Tages so viel wie möglich von den vielbeschworenen Vibes des Stadtteils mitzubekommen.
Plötzlich drin: im hipsten Stadtviertel der Welt
Mit der L-Train aus Manhattan bis zur Subway-Station Bedford Avenue, den U-Bahn-Schacht hinauf, dann der Moment, in dem wir im vielleicht hipsten Stadtviertel der Welt stehen: in Williamsburg, einem der gehyptesten der vielen einzelnen Teile innerhalb Brooklyns. Das Erste, was wir sehen, ist ein Trödelladen, und unsere Töchter haben mit 14 und 17 Jahren genau das Alter, in dem man in solche Läden hinein muss. Im Grunde sind die meisten Objekte hier nicht mehr als das übliche Zeug, das bei Haushaltsauflösungen zum Vorschein kommt, aber dieses Geschäft heißt “Junk Brooklyn”, und das macht die Sache schon ziemlich mythisch. Williamsburg beginnt gut für uns.
Von der Station Bedford Avenue gehen wir durch Straßen mit kleinen Häusern bis zur eigentlichen Bedford Avenue, einer zentralen Meile Williamsburgs. Elvis grüßt von der Wand gegenüber der Mini Mall, in der wir verabredet sind. Er trägt seine Soldatenuniform, auf dem Helm steht “War is Hell”, umgeben und durchzogen ist Elvis von den bunten geometrischen Formen, die das Markenzeichen des Künstlers Eduardo Kobra sind. 2018 hat der Brasilianer fünf Monate in New York verbracht und dort 18 Murals mit Porträts von Personen gemalt, die in seinen Augen für Freiheit stehen.
Williamsburg mit Teenagern: Foodtour auf den Spuren einer Netflix-Serie
In der Mini Mall an der Bedford Avenue treffen wir Kate von Like a Local Tours. Dort haben wir die Foodtour “Williamsburg Bites” gebucht : eine gute Idee, die wir dem zeitweise etwas exzessiven Netflix-Konsum unserer Töchter verdanken. “2 Broke Girls” heißt eine Serie, die sich unsere zwei Girls mit Hingabe angeschaut haben und in der es um zwei Mädchen geht, die in Williamsburg einen Cupcake-Laden eröffnen. Als ich das Internet nach Originalschauplätzen befrage, wird mir in Ermangelung der echten Film-Location – die offenbar nicht mehr als eine Studiokulisse ist – auf irgendeiner Website die Foodtour durch Williamsburg empfohlen.
Eine hervorragende Idee, wie wir alle finden. Schließlich ist Williamsburg bekannt für seine kreative Foodszene, und wie könnten wir als Kurzzeittouristen besser auf interessante Adressen stoßen als mittels einer geführten Tour? Zumal sich die überraschenden Lokalitäten in Williamsburg, obwohl das Viertel mittlerweile als allzu populäres Gentrifizierungsopfer gilt, gern hinter unspektakulären Türen verstecken. Wie zum Beispiel Oddfellows Ice Cream, wo Küchenchef Sam Mason täglich neue Eissorten anbietet, Miso-Kirsche zum Beispiel oder Kreationen mit frischen Kräutern. Auch Veganes ist immer dabei. Inzwischen gibt es auch in Manhattan und in anderen Ecken von Brooklyn Oddfellows-Filialen, aber Williamsburg ist der Ort, an dem alles begann.
Der Brooklyn-Stil: Industrial Chic und der Charme des Improvisierten
Der Brooklyn-Hype hat sich, so der allgemeine Konsens, den hohen Mietpreisen in Manhattan zu verdanken. Die führten in den 1990-er Jahren dazu, dass Künstler und andere Kreative auf die gegenüberliegenden Seite des East River zogen: nach Brooklyn. Ehemalige Industriegebiete wie Williamsburg waren besonders attraktiv: einerseits wegen der geringen Mieten, andererseits wegen der großen leerstehenden Gebäude, in denen es jede Menge Platz für Ateliers, Werkstätten, Ausstellungsräume gab. Der inzwischen rund um den Globus imitierte Brooklyn-Stil, der Industrial Chic mit dem Charme des Handgemachten, Improvisierten verbindet, ist irgendwo in diesem Umfeld entstanden. Dass Brooklyn zum Nährboden für die Hipster-Kultur wurde und zum Blueprint für Gentrifizierungsprozesse in der ganzen westlichen Welt, erzählt uns einiges über die gegenwärtigen Sehnsüchte: nach dem Rauen und Unverfälschten, das die Spuren der Vergangenheit trägt, aber auch nach dem Individuellen, Selbstgemachten, das sich dem kommerziellen Mainstream entgegenstellen will – bis es selbst kommerzieller Mainstream wird.
Ein Sinnbild für den Brooklyn-Stil ist Mable’s Smokehouse, das wir ohne unsere Foodtour nie entdeckt hätten: ein Barbecue-Restaurant in einer von Lagerhallen gesäumten Straße, die, wie uns unser Guide Kate erklärt, heute vielfach Büros von Hightech-Startups und Agenturen beherbergen. Mable’s wurde 2011 von einem Künstlerpaar eröffnet, das sich entschloss, ein Restaurant mit Soulfood aus seiner Südstaaten-Heimat aufzumachen. Als wir Mable’s Smokehouse betreten, passiert etwas mit uns. Das liegt an den Raucharomen, deren Duft uns sofort einhüllt: Noten von Holz und Fleisch, mit denen uns etwas Natürliches und etwas Archaisches anweht Von innen sieht Mable’s ein bisschen wie ein Saloon und ein bisschen wie ein Industrieloft aus: idealtypische Williamsburg-Ästhetik mit klassischen amerikanischen Vintage-Akzenten. Mable’s Rinderbrust und Pulled Pork sind unendlich zart, smokey und aromatisch: in der kleinen Foodtour-Dosis ein fantastisches Erlebnis, aber für eine ganze Portion wären bei uns alle Familienmitglieder zu fettsensibel.
Purismus mit Ahornsirup: Der Schokoladenladen der Mast Brothers
Wobei das mit der Fettsensibililtät relativ ist. Als wir uns in der Schokoladenmanufaktur der Mast Brothers – bei deren Betreten wir wieder einen großartigen Duftflash erleben – durchprobieren, haben wir kein Problem mit den Fetten der Kakaobohne, deren Aroma hier maximal zur Geltung kommt. Selbst dann, wenn die Schokolade mit Olivenöl oder Ahornsirup versetzt ist. Michael und Rick Mast sehen sich als Teil einer umfassenden Craft-Bewegung und praktizieren jeden Schritt der Schokoladenfertigung mit Akribie und Hingabe: von der Auswahl der organischen Fair-Trade-Kakaobohnen über deren Röstung und Verarbeitung bis hin zur Verpackung. Die Muster der Papiere, in denen die Tafeln hier verpackt sind, würde für mich allein schon einen Besuch in der Chocolate Factory rechtfertigen.
Die Mast-Schokoladentafeln findet man in New York an verschiedenen Orten – übrigens je nach Verkaufspunkt zu überraschend unterschiedlichen Preisen -, die Factory in Williamsburg selbst wird gern von Touristen frequentiert. Das stört uns nicht. Erstens sind wir selbst Touristen, zweitens gefällt es uns hier. Im Hintergrund des Ladens wird die Schokoladenherstellung nicht nur praktiziert, sondern auch inszeniert, was für den schnellen Besuch sehr hübsch ist. Der wenig süße, eindringliche Geschmack der Schokoladen ist enorm; mit Wonne testen wir diverse Sorten. Eine Foodtour, denke ich hier zum x-ten Male, ist definitiv eine hervorragende Sache, wenn man mit Teenagern unterwegs ist. Sie haben Spaß an dem, was es zu probieren gibt. Und sie können genug Englisch, um auch im Ausland etwas zu verstehen.
Im Grunde gehören Viertel wie das coole Williamsburg eher zu der Generation meiner Töchter als zu unserer – wenngleich man sich als Middle-Ager überhaupt nicht fehl am Platz fühlt zwischen den kleinen Shops und Cafés, den Street-Art-Kunstwerken und dem Retro-Feeling, das die Wohnhäuser und die Industriearchitektur des Viertels verströmen.
Momofuku Milk Bar: Im Reich der hemmungslosen Backlust
Unsere letzte Food-Tour-Station ist ein Highlight, das zwar aus Manhattan stammt, in Brooklyn aber perfekt ins Bild passt. Wir verspeisen einen Cookie und ein Eispröbchen in der Williamsburger Filiale der Momofuku Milk Bar. Die hat Kultcharakter. Momofuku ist ein asiatisches Restaurantimperium in New York, zu dem eines Tages die Dessertköchin Christina Tosi stieß. Momofuku-Chef David Chang war so begeistert von ihrer Kreativität, dass er sie zur Eröffnung ihrer eigenen Kette von Bäckereien ermutigte – mit dem Erfolg, dass es mittlerweile in diversen amerikanischen Städten Momofuku Milk Bars gibt. Die Cookies, Kuchen, Eiscremes, die man in ihnen bekommt, sind ein Resultat der verrückten kulinarischen Hemmungslosigkeit, mit der Christina Tosi Backwaren kreiert. Sie will es unprätentiös und amerikanisch: Tosi liebt Produkte, die man in jedem US-Supermarktregal bekommt und die jeder Amerikaner von Kind auf kennt. Ihre Cereal Milk Ice Cream ist zum Klassiker geworden: Softeis, hergestellt aus Milch, in der Cornflakes eingeweicht waren, garniert mit ein paar knusprigen Cereals. Schmeckt nach Kindheit, auch für unsere europäischen Gaumen.
Noch irrer ist der Compost Cookie, in dem Chocolate Chips ebenso verarbeitet sind wie Kartoffelchips und kleine Knusperbrezeln. Ich will nicht behaupten, dass ich diesen Cookie täglich essen könnte, aber er ist ein wahres kulinarisches Erlebnis und kommt mir vor wie die Essenz von etwas, was ich als typisch amerikanisch kennengelernt habe: diesem ganz speziellen Mix von Süß und Salzig, über den der konventionelle Mitteleuropäer immer wieder staunt. Wer diese Eigenwilligkeit in Reinform probieren will, gehe in eine Momofuku Milk Bar. Dort gibt es auch weniger befremdliche Dinge: Mein Mann hat bei Christina Tosi den besten Chocolate Cookie seines Lebens gegessen.
Mit der Fähre von Williamsburg nach Dumbo
Tourguide Kate zeigt uns nicht nur Restaurants, Läden und Bäckereien; sie erzählt uns auch ziemlich viel über die Geschichte von Williamsburg, liefert Infos und Anekdoten zu New York und führt uns zum Ufer des East River, von dem aus wir einen paradiesischen Blick auf die Skyline von Manhattan haben. Außerdem führt sie uns in das gut ausgebaute Fährensystem von New York ein und bringt uns auf die Idee, per Boot von Williamsburg nach Dumbo zu fahren. Kostet wenig, macht Spaß und sorgt für wunderbare Perspektiven auf Brooklyn und Manhattan.
Auch Dumbo, ebenfalls ein Teil von Brooklyn und ehemaliges Hafenviertel, war früher mal eine toughe Gegend. Den Namen verdankt das Viertel seiner Lage: Dumbo ist eine Abkürzung für “down under the Manhattan Bridge overpass”. Die Gentrifizierung sieht man Dumbo noch mehr an als Williamsburg: Die historischen Backsteingebäude und Kopfsteinpflaster hat man erhalten und umgewandelt in stylische Einkaufszentren, Cafés, Galeriegebäude.
Am Ende eines langen Brooklyn-Tages
Wir schlendern ein bisschen durch die Empire Stores, ein Backsteingebäude, das im 19. Jahrhundert als Lagerhaus für Kaffee diente und lange Zeit leerstand. 2017 wurde der Bau in transformierter Form neu eröffnet: mit Mode- und Designgeschäften, Raum für Büros und einer Food Hall, dem Time Out Market. Der Brooklyn-typische Industrial Style hist hier etwas gelackter als in Williamsburg, es kommen auch mehr Touristen her, denn in Dumbo ist man sofort, wenn man von Manhattan aus die Brooklyn Bridge überquert hat. Wir sitzen ein bisschen auf der Dachterrasse der Empire Stores, von der man einen Bilderbuchblick nach Manhattan hat und bei Bedarf Massen von Instagram-Fotos machen kann.
Dann streifen wir durch die schmalen Straßenschluchten von Dumbo, bis wir das ikonischste Motiv dieser Ecke von New York vor Augen haben und zwischen Backsteinbauten hindurch auf die Manhattan Bridge schauen. Diese Perspektive gefiel schon Sergio Leone, der sie in dem Film “Es war einmal in Amerika” verewigte – rundum war hartes Pflaster, wie es sich für ein Gangstepos gehört. In der heutigen Filmwelt bewohnt der reiche Dan aus “Gossip Girl” ein Appartement mit Blick auf diese Brücke. Times change.
2 Comments
Jenny
Boah, da bekomme ich sooo Lust auf einen zweiten New-York-Trip – die Stadt ist sicherlich mindestens zehn wert! ❤️ Wie oft wart ihr denn schon da?
LG
Jenny
Maria-Bettina Eich
Einmal ohne Kinder, einmal mit kleinen, einmal mit mittlerein, einmal mit großen Töchtern – und ich könnte sofort den nächsten Flug buchen!