Zuletzt aktualisiert am 14. Juni 2021 um 22:23
Die Berkshires in Western Massachusetts? Hierzulande eher unbekannt, aber für uns vor ein paar Jahren das ideale Terrain, um zusammen mit unseren Kindern ganz unterschiedliche Facetten von Amerika kennenzulernen.
Kinderbuchparadies nicht weit von New York
Uns hat der Zufall zu diesem Reiseziel verholfen; der Zufall in Form eines Kinderbuchs. Wahrscheinlich hätten wir die Berkshires im Neuengland-Reiseführer einfach überblättert, wenn da nicht plötzlich die Penderwick-Schwestern vor dem inneren Auge aufgetaucht wären. In „Die Penderwicks“, dem ersten Band der Mädchenbuch-Serie von Jane Birdsall, verbringen die mutterlosen Schwestern die Ferien in der Hügellandschaft der Berkshires, und die scheint das Paradies zu sein.
Nachdem wir die Berkshires-Kapitel in mehreren Reiseführern studiert haben, machen wir die Gegend zum Ziel für die Entdeckung der amerikanischen Provinz mit unseren Töchtern. Die sind zu dem Zeitpunkt fünf und neun Jahre alt. Wichtiges Kriterium für die Auswahl, nachdem wir ein paar Tage zuvor schon viele Stunden geflogen sind: die überschaubare Fahrzeit von New York, wo wir unsere Ferien beginnen. 170 Meilen sind es von New York bis nach North Adams. North Adams ist eine ehemalige Industriestadt mit Attraktion für Kunstliebhaber: In einem stillgelegten Fabrikkomplex ist das große MassMoCA, das Massachusetts Museum of Contemporary Art, untergebracht.
Klassisches Neuengland
Gegenüber unser Hotel Porches Inn, von dem die Kinder noch heute träumen: eine Reihe kleiner Giebelhäuser aus Holz, verbunden durch eine lange Veranda; ein Pool unterhalb einer waldigen Anhöhe; unamerikanisch-gesundes und sehr leckeres Frühstück; hübsche Zimmer. Von den Schaukelstühlen auf der Veranda aus sehen wir gelbe Schulbusse, Häuser in der typisch neuenglischen hellen Holzarchitektur und die Straße Richtung Innenstadt.
Erste Begegnungen mit dem American Way of Life
Die Main Street ist zwar nur ein paar Gehminuten vom Hotel entfernt, aber dieser Fußmarsch ist lebensgefährlich; Fußgänger sind hier nicht vorgesehen. Hat man den ersten rettenden Supermarkt erreicht, kann man mit den Zivilisationsstudien zur amerikanischen Ernährung beginnen. Fazit: Noch nie so eine riesige Eis-Auswahl gesehen, noch nie so wild belegte Pizzen erlebt und noch nie so süßes Salzgebäck und so salzige Süßigkeiten gegessen.
Nicht jeder wird Opfer dieser Kalorienbomben. Beim Stadtfest in North Adams sehen wir drahtigen Rentnern beim Line Dance zu. Sie drehen Schirmchen über ihren Schultern und strahlen wie einst Julie Andrews. Die haben sie vermutlich im örtlichen Kino namens „Mohawk“ gesehen.
Direkt in North Adams nämlich beginnt der Mohawk Trail, eine Panoramastraße, die schon die Mohikaner als Handelsroute nutzten. Eine Indianerstraße! Das erschien uns bei der Reiseplanung als echte Verlockung, entpuppt sich aber als einzige Enttäuschung in den Berkshires. Zwar führt der Mohawk Trail durch schöne Landschaften, aber das indianische Erbe, mit dem er beworben wird, wird weitgehend vernachlässigt. Informationen über die namengebenden Ureinwohner sucht man hier vergeblich.
Frühes Amerika im Hancock Shaker Village
Wir wenden uns dem nächsten Stadium der amerikanischen Geschichte zu: den frühen Siedlern. Von denen gab es einige in den Berkshires, schließlich ist die Küste, an der die Mayflower anlandete, nicht weit. Das Hancock Shaker Village, heute ein Freilichtmuseum, erzählt vom Leben der religiösen Gruppe der Shaker. Ursprünglich aus England stammend, führten sie ab den 1780-er Jahren hier in den Berkshires – ebenso wie an verschiedenen anderen amerikanischen Orten – ein bescheidenes Leben im Einklang mit der Natur, bestellten Felder, hielten Vieh, waren große Pflanzenkundler und erfanden epochemachende Handwerkstechniken. Eigene Kinder hatten die ehelosen Shaker nicht, aber sie zogen elternlose Kinder auf. Ihre soliden Holzgebäude kann man im Hancock Shaker Village besuchen, in einer kleinen Schule Lehrer spielen und im Discovery Room Stühle weben oder anhand einer Plastikkuh das Melken lernen: ein ziemlicher Spaß für unsere Töchter. Die ruhige und konstruktive Atmosphäre des Dorfs wirkt lange nach.
Einprägsame Bilder: das Norman Rockwell Museum
Ein paar Meilen weiter südlich liegt der Ort Stockbridge, dessen Main Street vielen Amerikanern vertraut ist: Sie ist die Vorlage eines berühmten Weihnachtsgemäldes von Norman Rockwell. Der populäre Zeitschriftenillustrator lebte viele Jahre in der kleinen Stadt. In seinem Wohnhaus ist heute das Norman Rockwell Museum untergebracht. Der Besuch ist ein Parcours durch typische Amerika-Motive: eine Familie beim Thanksgiving, ein Junge im Drugstore, zahllose Szenen aus dem amerikanischen Alltagsleben. Rockwell, der von 1894 bis 1978 lebte, war kein unkritischer Beobachter seines Landes: Einige seiner Bilder zeigen dunkelhäutige Kinder, die von rassistischen Anfeindungen bedroht werden. Für unsere Kinder sind diese Bilder eine anschauliche Lektion zum Thema Rassentrennung.
Die Berkshires: ein entspanntes Familienreiseziel
Die Straßen, die zurück nach North Adams führen, ziehen sich durch Hügel, vorbei an einsamen Häusern mit amerikanischen Flaggen und unvorstellbar hohen Hausnummern. Bis zum nächsten Nachbarn ist es weit. Ab und zu ein kleines Städtchen mit schmucken weißen Häusern, sehr gemütlich. Die wohlhabenden New Yorker nutzen die Berkshires traditionell als Erholungsregion.
Es gibt ziemlich viele kindergeeignete Museen in der Gegend und von Seiten unserer Töchter so gut wie kein Gemecker bei Museumsbesuchen. Das MassMoCA gegenüber von unserem Hotel wird ein Stammplatz für ein schnelles Sandwich, außerdem hat es ein „Kidspace“ und zeigt Stockwerke voller Wandgemälde von Sol LeWitt, die für die Kinder zu einem grandiosen Labyrinth werden. (Hier geht’s zu unserem Sol-LeWitt-Erlebnis)
Abstecher zum Eric Carle Museum of Picture Book Art
Das Highlight unter den Museen finden wir bei einem Ausflug nach Amherst, das östlich von den Berkshires liegt. In dem Universitätsstädtchen hat Eric Carle, der Erfinder der Raupe Nimmersatt, das Eric Carle Museum of Picture Book Art gegründet. Das relaxt im Grünen gelegene Museum zeigt zum einen Eric Carles Werk, zum anderen wechselnde Ausstellungen zur Kinderbuchkunst. Es beherbergt eine fantastische Buchhandlung und ein Atelier, in dem man selbst aktiv werden kann.
In Amherst schließt sich außerdem der Ring unserer Penderwicks-Pilgerei: Der Ort diente als Vorbild für den Heimatort der Familie. Pizza bestellen die Penderwicks übrigens bei Antonio’s in der Main Street, den auch wir bis jetzt nicht vergessen können.
Foto ganz oben: (c) MASS MoCA
5 Comments
Ellen
Oh, dort waren wir während unserer Flitterwochen vor über 20 Jahren. Wir wollten die Reise immer mal mit den Kindern wiederholen, haben es aber bis heute nicht geschafft.
Maria-Bettina Eich
Da wart Ihr? Wunderbar! Ich fand es ganz herrlich. Ich möchte auch noch einmal hin – wer weiß, ob es was wird, und wenn, dann wann. Vielleicht, wenn uns dereinst das Empty-nest-Syndrom plagt?