Zuletzt aktualisiert am 7. Mai 2020 um 13:48
Jeweils drei Hotelnächte in Liverpool, Manchester, West Yorkshire und North Yorkshire: So der grobe Reiseplan, mit dem wir nach Nordengland flogen. Was wir nicht ahnten: dass unsere ersten zwei Hotels uns mehr über Großbritannien erzählen würden als manche ausgefeilte Sightseeing-Tour. Viktorianismus heißt das erste Stichwort, Fußball das zweite.
Lektion I, Manchester: Britannia Rules the Waves
Ein Palast, definitiv ein Palast. Oder ein Tempel? Eine Kathedrale? Als wir The Palace Hotel in Manchester betreten, schnappen wir kollektiv nach Luft. So eine Lobby – riesig, mit Säulen, antikischen Friesen und Kuppel – haben wir noch nie gesehen, nirgendwo. Hinter dem Namen “The Palace Hotel” hatten wir nichts weiter vermutet; mit solchen nach mehr klingenden Bezeichnungen schmücken sich Hotels schließlich überall.
Was ist das hier?, fragen wir uns fassungslos; was war das, warum wurde es gebaut? Zum Glück begleitet uns Bruno auf unser Zimmer. Am Revers trägt er wie seine Kollegen eine Rosenblüte in Regenbogenfarben – zu Ehren des großen alljährlichen LGBT-Festivals “Manchester Pride”, das gerade stattfindet. Und das vermutlich verantwortlich ist für die aktuellen Hotelpreise in Manchester. Sie sind durchweg so stattlich, dass das Palace Hotel gar nicht besonders aus dem Rahmen fällt.
Im Tempel des Viktorianismus
Bruno jedenfalls erklärt uns, wo wir uns befinden: in einem ehemaligen Versicherungsbau. Jawohl, Versicherungsbau. Im früheren Sitz der Refuge Assurance, der 1891 entstand und gut zwanzig Jahre später um einen weiteren Trakt mit dem Turm erweitert wurde, der ihn heute zu einem Wahrzeichen Manchesters macht.
Wir müssen das verarbeiten. Eine Versicherung, die aussieht wie ein Palast, ein Schloss, ein Tempel. Wir laufen durch ein steinernes Sinnbild der finanziellen Macht, die das englische Empire im viktorianischen Zeitalter innehatte. Als Manchester und das umliegende Nordengland eine Art weltweiter Hauptsitz der industriellen Revolution waren und Großbritannien Kolonien rund um den Globus beherrschte.
Aus den Schubladen historischer Pracht
Wir finden Geschichtsbewusstsein zwar wichtig, aber wir waren nicht mit der Absicht hergekommen, unseren Töchtern beim Frühstück den Begriff “viktorianisch” zu erläutern. Im Gegenteil, zu dem Thema haben wir selbst noch jede Menge zu lernen. Doch hier können wir nicht anders. Wir schieben das Toast in den Mund und nehmen unwillkürlich eine Lektion englischer Geschichte zu uns, die gleichzeitig Stilgeschichte ist: Dass Viktorianismus in der Architektur bedeutet, sich eklektizistisch aus den Schubladen historischer Pracht zu bedienen, entgeht einem beim Durchwandeln des Refuge Assurance Building auf keinen Fall. Und heute? Heute ist dieses Kuriosum eines Tempels, der eigentlich ein Versicherungsgebäude ist, zu einem Palast für Reisende geworden. Was will uns das sagen?
Lektion II, Liverpool: Football Rules the Hearts
Ich war da ein bisschen ahnungslos hineingeraten. The Shankly Hotel in Liverpool sah im Internet irgendwie amüsant aus; wie ein auf altenglisch getrimmter Herrensalon. Im übrigen waren Familienzimmer gar nicht besonders teuer. Den Namen Shankly musste ich googeln: Aha, Bill Shankly war früher mal Trainer des Liverpool FC. Sozusagen ein Vorgänger von Jürgen Klopp. “Kennst Du Bill Shankly?”, frage ich meinen Mann vor der Buchung sicherheitshalber per SMS. Und bekomme die Antwort: “Shanks was god.”
Der Fußballtrainer als Lichtgestalt
Das klingt in meinen Ohren ein wenig blasphemisch, aber als wir das Shankly Hotel betreten, weiß ich, dass mein Mann exakt den richtigen Ton getroffen hat. Dieses Haus ist pure Heiligenverehrung, In den Boden sind verglaste Fächer eingelassen, die einen legendären Fanschal und den Schlüssel zum Bill-Shankly-Tor im Anfield-Stadion zeigen: echte Reliquiare.
Zitate des höchst schreib- sowie redefreudigen Shankly zieren Wände, Möbel und Zimmerdecken wie Orakel aus einem Buch der Weisheit. Das Tüpfelchen auf dem I ist das Shankly Mural gegenüber den Aufzügen: Hier sitzt der große Manager in der Trainingsjacke und mit Flügeln über einem Panoptikum der Liverpooler Fußballwelt. Die Ikonographie entstammt der Kirchenmalerei, und unsere Kinder finden das geschmacklos.
Very British
Damit haben sie gewiss nicht unrecht, aber es ist natürlich auch ziemlich kurios und interessant. Wir wussten zwar, dass England des Heimatland des Fußballs ist, und Fußballbegeisterung ist bei uns in der Familie auch nichts wirklich Unbekanntes – aber das hier, die quasi-religiöse Verehrung des Trainers, der den Liverpool FC in den Sechzigern groß gemacht hat, finden wir ein wenig unheimlich. Eine neue Dimension von “very British” tut sich auf – und vertieft sich noch, als wir an unserem zweiten Liverpool-Tag das Museum des FC Liverpool besuchen. Aber dazu ein andermal.
Britische Gäste sind in der Mehrzahl
Auf herkömmliche Weise very british ist der Einrichtungsstil des Shankly-Hotels: die Wände mit Kunstleder gepolstert, die Vorhänge dunkelbraun-gold gemustert, die Lampenschirme kariert wie ein Tweed-Jackett. Maskulin und stilvoll; nur der Whisky fehlt in den Zimmern. Wie die Engländer selbst das wohl finden, frage ich mich? Fühlen sie sich hier zuhause, oder kommt es ihnen ein wenig künstlich vor? Ist dies der Stil, den der britische Fußballfan liebt? Fragen über Fragen.
Ziemlich sicher ist, dass vielen Briten das Konzept des Hotels gefällt; als ausländische Gäste sind wir hier deutlich in der Minderheit. Wir sehen fröhliche Damengrüppchen, Hochzeitsgäste, englische Familien – alle versammelt unter dem gütigen Blick des Bill Shankly.
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