Zuletzt aktualisiert am 9. Juli 2021 um 23:21
Für die Eltern ein Ethno-Trip, für die Kinder die Suche nach dem Paradies: Manitoulin Island in Südontario war schon früh ein bevorzugter Lebensraum der Indianer. Und heute?
Winnetou ist tot
Erst liest man den Kindern Indianergeschichten vor. Dann plant man eine Reise nach Amerika und rudert zurück. „Winnetou ist tot, mein Schatz. Die Nachkommen seiner Blutsbrüder wohnen in traurigen Reservaten, wo sie zu viel Alkohol trinken. Winnetou würde sich in den ewigen Jagdgründen umdrehen, wenn er sie sehen müsste. Richtige Indianer gibt es gar nicht mehr.“ Ungefähr so hört es sich an, wenn man seine Töchter darauf vorbereitet, dass sie den edlen Wilden in Amerika nicht persönlich antreffen werden.
Unbefriedigend. Sind die federgeschmückten Helden unserer Kindheit wirklich sang- und klanglos ins Prekariat übergegangen? Haben wir nicht erst vor kurzem von diesem indianischstämmigen Künstler gelesen, Jimmie Durham, der auf der Documenta einen Apfelbaum gepflanzt hat? Ist das nicht eine höchst indianische, spirituell-naturverbundene Geste?
Reiseziel Manitoulin Island
Der elterliche Horizont zum Thema „Indianer heute“ setzt sich aus Klischees und Schnipseln von Halbwissen zusammen. Da hilft nur Feldforschung. Wir machen Manitoulin Island zum Mittelpunkt unserer Familienreise an die Großen Seen. Manitoulin Island liegt im kanadischen Ontario nahe dem Nordufer des Huronsees. Benannt ist die Insel nach dem großen Geist der Indianer. Sie ist einerseits traditioneller Lebensraum der First Nations, wie die Ureinwohner in Kanada heißen, andererseits ist sie mit sechs Reservaten auch heute noch indianisch geprägt. Und damit eine positive Ausnahme in der Eingeborenenpolitik Nordamerikas, die den Natives üblicherweise minderwertiges Land zugewiesen hat. Eine Stiftung und mehrere Programme machen es sich auf Manitoulin Island zur Aufgabe, die indianische Kultur zu vermitteln. Außerdem verspricht die Landschaft schön zu sein, es gibt Badestellen und gemütliche Unterkünfte: perfektes Feldforschungs-Terrain für Komfortliebende mit Töchtern im Alter von elf und sieben Jahren.
Manitoulin Island ist die größte Binnensee-Insel der Welt, es liegt nah am Festland, aber auf dem Landweg lässt es sich nur über eine schmale Route erreichen. Vom Örtchen Espanola fahren wir nach Süden über eine Reihe kleiner bewaldeter Inseln, die aussehen wie finnische Schären. Irgendwann öffnet sich das Land in weite Wiesen, die mit Seenplateaus abwechseln. Dann schließen wieder Wälder den Blick. Wir passieren ein Straßenschild mit der Aufschrift „M’Chigeeng First Nation“.
Im Kulturzentrum der Ojibwa
Dass dieses unspektakuläre Schild alles ist, was die Grenze zwischen Reservat und Nicht-Reservat markiert, begreifen wir erst am nächsten Tag, als wir zur Ojibwe Cultural Foundation fahren. Die Ojibwa, eines der größten nordamerikanischen Indianervölker, sind seit Jahrhunderten im Gebiet der Großen Seen auf beiden Seiten der Grenze zwischen Kanada und den USA beheimatet. Ihr kulturelles Erbe ist beträchtlich, und auch in den letzten Jahrzehnten haben Angehörige der Ojibwa wie der Maler Norval Morrisseau und die halbindianische Schriftstellerin Louise Erdrich bedeutende Kunstwerke geschaffen. Die Stiftung auf Manitoulin will den Ojibwa ein kulturelles Zentrum bieten. Hier werden traditionelle Kunsthandwerkstechniken ebenso gelehrt wir die Sprache Ojibwemowin; es gibt Vorträge, Ausstellungen und ein Museum mit traditionellem Kunsthandwerk.
Beim Betreten wissen wir: Das Land unserer Träume ist nicht versunken. Irgendwo in dieser Gegend leben auch heute noch Menschen, die weiche, fransige Lederkleider schneidern und mit Perlen besticken. Und andere, die Dosen aus Korbgeflecht mit der Technik verzieren, mit der die Indianer vor der Ankunft der europäischen Glasperlen Ornamente schufen: mit Stickerei aus Stachelschweinborsten. Von unseren Töchtern ist nur noch bewunderndes Ächzen und leises Kameraklicken zu hören. Zwei überschaubare Räume mit Kunsthandwerk versetzen uns in ethnologische Euphorie.
Eine Kirche in Wigwam-Form
Die bekommt bei der nächsten Station einen Dämpfer: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht die katholische Kirche „Immaculate Conception“ in Wigwam-Form, die von eingeborenen Künstlern ausgestaltet wurde. Die Altarbilder zeigen indianische Märtyrer statt der üblichen Heiligen, in allen vier Himmelsrichtungen sind Traumfänger aufgehängt. Aber, so sagt Sommerstudent Gordon, der uns herumführt, „in die Kirche kommt kein Native mehr. Die stehen alle unter Drogen.“ Gordon ist selbst Native; sollte er es nicht wissen? Müssen wir uns schon nach weniger als 24 Stunden Manitoulin von allen Indianerträumen verabschieden? Was ist denn mit der Elchjagd, die auf einem Plakat in der Kulturstiftung angekündigt wird? Sind die Jäger alle high?
Traumfänger basteln mit einem echten Indianer
Mit unseren Fragen müssen wir bis zum folgenden Vormittag hadern, als wir die glückliche Gelegenheit haben, uns nach guter alter Ethnologenmanier unter Angehörige der First Nations zu mischen. Der Moment ist gekommen, der für unsere Kinder den Höhepunkt der Reise darstellt: Sie basteln mit einem echten Indianer Traumfänger. Great Spirit Circle Trail heißt das Programm, bei dem Einheimische Touren zu Fuß, per Fahrrad, Kanu oder Pferd anbieten und ihre traditionellen Kulturtechniken in Workshops vermitteln: vom Trommeln übers Backen bis zum Kunsthandwerk.
Wir sitzen auf Holzbänken in einem Garten mit Feuerstelle, Steinofen, Beeten für Medizinpflanzen und Tipis, in denen man sich einmieten kann. Außer uns bastelt an diesem Vormittag eine Gruppe aus dem Nachbarreservat, die auf Betriebsausflug ist. Mit großer Selbstverständlichkeit stellen sich ihre Mitglieder zur Smudging-Zeremonie im Kreis auf und erklären uns, worum es sich dabei handelt: Workshop-Leiter Jesse entzündet in einer Schale Salbei, Tabak, Sweetgrass und Zeder, die Schale wird herumgereicht, jeder verteilt den Rauch mit den Händen auf Gesicht und Körper – ein Ritual, das der geistigen Reinigung dienen und negative Gedanken vertreiben soll. Fotos darf man währenddessen nicht machen, die sind erst beim Basteln erlaubt.
Unsere Töchter haben in Jesse ihren Bilderbuch-Indianer gefunden: jung, ruhig, ernsthaft, geduldig und mit wunderschönem schwarzem Zopf. Überhaupt entspricht die maskuline Haarmode in den Reservaten dem klassischen Indianerbild. Jesse verteilt Streifen aus Rehleder, Ringe, Perlen und künstliche Sehnen und führt uns in die Technik der Traumfänger-Herstellung ein. Die Leute an den Nebentischen brauchen deutlich weniger Anleitung als unsere Kinder: Heimvorteil.
Kanadas Versuch, die Kultur der First Nations auszulöschen
Die Stimmung ist gut, unter Drogen steht hier keiner, und das einzige, wodurch unsere Co-Kursteilnehmer auffallen, sind ihr Humor und ihre dunklere Haut. Sie sprechen englisch. Hinter dieser Tatsache verbirgt sich eines der bittersten Kapitel der kanadischen Geschichte. Der kanadische Staat begann um 1880 mit der Einrichtung von kirchlich geführten Internaten für die Kinder der First Nations, in denen ihnen ihre Herkunftskultur so weit wie möglich ausgetrieben wurde – mit dem Ziel, sie zu assimilierten kanadischen Bürgern umzuerziehen. Die jungen Natives durften nur englisch sprechen, sie mussten firm werden in kanadischer Geschichte, die Historie und Kultur der First Nations wurde vollständig negiert. Repressalien und Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Zahllose ehemalige Schüler berichten bis heute, dass das Sprechen der Eingeborenensprachen mit Schlägen bestraft wurde. Von 1920 bis zum Ende der 40-er Jahre wurden die Kinder der First Nations zwangsweise in die „residential schools“ eingewiesen; die letzte dieser Schulen schloss 1996.
Das Ergebnis des Systems war ein tragischer Bruch zwischen den Generationen. Wenn die Schüler nach langer Abwesenheit wieder zurück in ihre Familien kamen, verstanden sie die Sprache ihrer Eltern oder Großeltern nicht mehr. Ihre eigene Kultur war ihnen fremd geworden. Die kanadische Regierung hat sich offiziell bei den First Nations entschuldigt, doch der Schaden, den das Erziehungssystem der Identität der Natives zugefügt hat, ist nicht wiedergutzumachen. Die Erhaltung der alten Sprachen, der indianischen Spiritualität und der überlieferten Bräuche ist heute auf das Engagement von Aktivisten angewiesen. Wer an die Traditionen anknüpfen will, muss das meiste ganz neu erlernen; eine selbstverständliche Verwurzelung in der eigenen Kultur ist selten geworden.
Vielleicht ist einer der beliebtesten folkloristischen Verkaufsschlager sogar einer der Artefakte, deren spirituelle Bedeutung sich am besten erhalten hat. Die Wirkung der Traumfänger ist für alle Workshop-Teilnehmer dieses Vormittags unbestritten: Im Gewebe des Traumfängers bleiben die schlechten Träume hängen wie in einem Spinnennetz; durch die Öffnung in der Mitte gelangen nur die guten.
Wikwemikong: das größte Reservat auf Manitoulin Island
Die bastelnden Betriebsausflügler kommen aus Wikwemikong, dem größten Reservat auf Manitoulin Island. Wikwemikong bezeichnet sich mit Stolz als „Unceded Indian Reserve“, als niemals abgetretenes Gebiet, und ist ein Sonderfall unter den Reservaten. Als 1862 die unverkauften Teile der den Indianern vorbehaltenen Insel Manitoulin für den Verkauf an Weiße freigegeben wurden, verweigerte Wikwemikong die Unterzeichnung des entsprechenden Vertrages und blieb so intaktes indianisches Territorium. Touristen kommen vor allem während des alljährlichen Pow Wow nach Wikwemikong, einer festlichen Zusammenkunft von Natives aus allen Regionen, die mehrere Tage lang mit rituellen Tänzen, Musik und traditionellen Kostümen feiern.
Die Einfahrtsstraße nach Wikwemikong ist von Plakaten gesäumt, die davor warnen, sich das Gehirn wegzutrinken, und harte Maßnahmen gegen Drogenmissbrauch und Kriminalität androhen. Wir fahren schnell vorbei und übersetzen unseren Kindern nur ungenau, was da zu lesen ist. Die kleinen grauen Häuser in Wikwemikong haben die Grundstruktur von Schuhschachteln und nichts von der pittoresken Anmutung vieler Siedlungen außerhalb der Reservate, aber sie sind behaglich in die Natur eingebettet. Auf Stop-Schildern steht „Ngaabzan“. „Schön ist es hier“, findet unsere jüngere Tochter.
Eine gute Insel für Familienferien
Schön ist auch der Rückweg nach Gore Bay in unser Hotel Gordon’s Lodge, wo ein paar Meter hinter uns Rehkitze weiden und ein paar Meter vor unserer Terrasse eine badefreundliche Bucht liegt. Wir kommen am Haus der Häuptlingsvereinigung von Manitoulin vorbei und passieren Stationen der Reservatspolizei, die für die Ordnung innerhalb der Reservate zuständig ist: Die kanadische Polizei besitzt hier keine Autorität. Unser Mietwagen legt Dutzende von Meilen zurück; die Distanzen auf der Insel scheinen endlos. Immer wieder tauchen Gewässer auf: Manitoulin Island ist die weltweit seenreichste aller Inseln. Im pittoresken Kagawong klettern wir auf die Steine unter den Bridal Veil Falls, einem beachtlichen Wasserfall, in dessen Becken man schwimmen kann. Fischen kann man auf Manitoulin, wandern, Boot fahren: ein Paradies für Aktivurlauber.
First Nations in Kanada heute
Per Schiff verlassen wir die Insel. Am Südzipfel von Manitoulin, in South Baymouth, fährt die Chi-Cheemaun-Fähre aufs kanadische Festland. Dort lernen wir am nächsten Morgen beim Frühstück Abe kennen. Abe lebt in Toronto, ist im Berufsleben Manager und beschäftigt sich privat seit Jahren mit der Kultur der First Nations. Er bestätigt uns, was wir ahnten: Manitoulin Island ist eine Art gehobene Wohngegend für Natives, nicht zu vergleichen mit den häufig sehr desolaten Reservaten in anderen Regionen. Immerhin haben sich die Indianer die Insel vor Jahrhunderten selbst ausgesucht.
Nein, der sonnige Garten mit Tipis und Medizinpflanzen, in dem unsere Töchter Traumfänger gebastelt haben, war gewiss nicht repräsentativ für das „life on the rez“, das Leben im Reservat im 21. Jahrhundert. Aber es gibt diesen Garten, die Stickereien aus Stachelschweinborsten, das Polizei-Logo mit dem Lebenskreis und den drei Federn. Wir haben sie gesehen. „Ich würde euch gerne sagen, dass die First Nations in Kanada eine ernstzunehmende politische Kraft sind“, sagt Abe. „Aber sie sind es nicht.“ Mit urlaubsbeschwingtem Optimismus einigen wir uns auf: „noch nicht“.
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