Zuletzt aktualisiert am 18. Juli 2022 um 20:31
Rückblende: Als wir zum Jahreswechsel 2012/13 nach Seoul flogen, toppte “Gangnam Style” gerade alle YouTube-Rekorde, und unsere Reise wurde zu einem Trip ins Herz der Hipness. Seither ist einiges geschehen, aber der Asia-Pop ist im Westen nur noch kultiger geworden. Grund, uns an unseren Eintritt in seinen Dunstkreis zu erinnern.
Unsere Töchter hatten es geahnt. Wer seine Feinmotorik im frühen Kindesalter an Touchscreens geschult hat, scheint auch besondere Antennen für die Geographie der globalisierten Welt zu haben. “Ich will nach Seoul. Ich muss mal so eine Megacity mit Plastik und Glitzer sehen. Und wenn wir uns danach nie wieder eine Reise leisten können!” Überraschende Worte aus dem Mund unserer damals Elfjährigen, die ansonsten ein eher naturkindhaftes Naturell an den Tag legt; die kreative Beschäftigungen mag und erdige Farben bevorzugt. Was wittert das Kind im fernen Asien?
Die Bestätigung, dass unsere Tochter den siebten Sinn für die Hot Spots ihrer Generation hat, liefert der mitten in unsere Reiseplanung hineinplatzende Hype um “Gangnam Style”. Pop aus Südkorea erobert den Globus zu Beginn der zweiten Lebensdekade unserer großen Tochter. Die jüngere Schwester ist mit ihren damals sieben Jahren noch näher dran. Nashville, Liverpool, L.A., London, die Bronx? Vorbei! Der Soundtrack zur Pre-Teen-Phase kommt jetzt aus Seoul. Als die Hotelbuchungs-Website uns bei der Suche nach einem Familienzimmer ausgerechnet eine Adresse in Gangnam vorschlägt, ist unser Schicksal besiegelt. Gangnam ist der südliche, junge und neureiche Stadtteil von Seoul, dem der Song “Gangnam Style” seinen Namen verdankt. We will be where it happens – zumindest einmal im Leben.
Geheimtipp von den koreanischen Freundinnen: die Popgruppe Girls’ Generation
Vielleicht muss man erklären, wie eine vierköpfige Familie auf die seltsame Idee kommt, für eine Winterwoche in Südkoreas Hauptstadt zu reisen. Selbst die kosmopolitischen Stewardessen zeigen sich sehr überrascht über zwei deutsche Mädchen auf dem Flug nach Seoul. Auslöser waren zugegebenermaßen nicht die feinfühligen Trend-Antennen unserer Töchter. Sondern vielmehr deutsch-koreanische Freunde, die uns auf Seoul neugierig gemacht hatten und die wir besuchen wollten, während sie sich für längere Zeit in Asien aufhielten. Die massive Euphorie unserer Kinder trug allerdings entscheidend dazu bei, dass wir die Reise tatsächlich unternahmen. Immerhin entstammen ihre Eltern einer Generation, für die schon eine USA-Reise ein Abenteuer ist. Und jetzt Asien! Wir rüsten uns für den Kulturschock.
Sieht eigentlich gar nicht besonders fremd aus
Und wirklich, ein sanftes Erschrecken erfasst uns alle, als wir in Gangnam aus dem Hotel auf die Straße treten. Das soll Asien sein? Hier sieht alles ziemlich so aus wie bei uns – vielleicht nicht direkt wie bei uns vor der Haustür, aber doch wie in einem Frankfurt mit etwas größeren Straßen. Immerhin: Von den Schildern an Geschäften und Restaurants können wir erstmal keins lesen – bis wir zu einem kommen, auf dem “Paris Baguette” steht. Kurz dahinter Starbucks, das amerikanische Eistorten-Café Baskin’ Robbins, italienische Espresso-Bars. Selbst das erste Abendessen stellt einen fließenden Übergang von West nach Ost dar. Es gibt Schnitzel in einem kleinen japanischen Restaurant. Die hatte man uns empfohlen: Schweinefleisch wie bei uns, aber mit einer dicken Kruste, die aussieht wie das Fell eines struppigen Tiers. Serviert wird die japanische Schnitzel-Variante namens Tonkatsu in Bento-Schälchen zusammen mit Kimchi, dem scharf eingelegten Kohl, der als koreanisches Nationalgericht gilt. Beim Einschlafen hängt uns dieser seltsame Kulturschock nach, der im Ausbleiben des Kulturschocks besteht.
Wie soll man Heimweh bekommen, wenn im Kaufhaus fränkische Schneeballen der Hit sind?
Das zweite Abendessen in Korea ist spektakulärer. Die Familie unserer Freunde lädt uns in ihre Wohnung ein. Als wir in einer großen Runde mit Kindern und Erwachsenen an einer Festtafel am Boden sitzen, als sich sogar der würdevolle Großvater auf den Teppich herablässt, begreifen wir, dass wir wirklich woanders sind. Und obwohl dieses Woanders irritierend wenig exotisch aussieht, ist es genauso ein eigener Kosmos wie unser Zuhause mit seiner Geschichte, seinen Wertvorstellungen, seinen Verhaltensregeln und nicht zuletzt den umwerfenden Aromen seiner Küche. Und mit seinem Bildungseifer: Um neun Uhr abends kommen die koreanischen Mädchen, die wir bei dem Familienabend kennenlernen, nach Hause – von einem Tag voller Schulstunden und Nachmittagskurse. Am Morgen stehen sie in aller Frühe auf, um schon vor der Schule zu lernen “Das machen alle so. Man muss den Stoff der nächsten Klasse lernen, wenn man gut sein will”, erzählt uns eine von ihnen. Wenn man richtig gut ist, gewinnt man Preise bei Wettbewerben, und eines Tages bekommt man vielleicht einen Platz an einer der koreanischen Elite-Universitäten: der Königsweg, nach dem alle in einem Land streben, in dem Bildung traditionell der einzige Schlüssel zum Erfolg war.
Bisschen Disney, bisschen Brüder Grimm: Weihnachtsdekoration vor Luxuskaufhaus
“Ich möchte kein koreanisches Schulkind sein”, lautet der wenig überraschende Kommentar unserer kleinen Tochter. Aber dann entdeckt sie die Augen und Ohren. Wir shoppen im COEX, Gangnams riesigem Einkaufszentrum. Überall grinst und lacht und schmollt es. Schulhefte, Stifte, Radiergummis, Notizblöcke, Ordner, Brotboxen und Becher: Alles hat in Korea Gesichter. Wenn diese Häschen, Monster, Pandas und Girlies einen durch den Schultag begleiten, dann kann der vielleicht gar nicht lang genug sein? Dann will man vielleicht ununterbrochen lernen? Aber natürlich braucht man auch Freizeit, um die vielen angebotenen Plastik-Stickerpüppchen an- und auszuziehen. Zum Glück macht sogar das Zähneputzen mit bärchenbewehrten Zahnbürsten Spaß. Es ist ein Paradies aus Pop und Konsum und Mädchenhaftigkeit. Auf Taschen, T-Shirts und Torten in leuchtenden Vitrinen prangen Cartoon-Figürchen mit Kulleraugen oder gefletschten Zähnen. Man steckt sich verniedlichte Rotkäppchen ins Haar und strassbesetzte Kätzchen in die Kopfhörerbuchse des Handys. Und vor allem: Man muss nicht schulpflichtig sein, um das zu tun. “Die sind hier gar nicht so jung”, sagt unsere Tochter über ihre Co-Shopperinnen. Nein. “Die koreanischen Frauen mögen alles, was niedlich ist”, sagt unsere Freundin und lächelt dem dicken wattierten Teddy am Reißverschluss ihrer Tasche zu. “Kawaii?”, frage ich fachmännisch. Kawaii ist “süß” auf Japanisch, und das Kawaii-Syndrom ist die Obsession der Japanerinnen mit putzigen Figürchen und Schulmädchen-Outfits. Ich liege nicht ganz falsch und nicht ganz richtig. Die Freundin erklärt mir den Unterschied: “Ja, wie kawaii in Japan, aber wir Koreaner sind nicht so wild auf Figuren aus irgendwelchen Comics und Serien.” Aha. K-Pop ist also vielfältiger als J-Pop. Sagen jedenfalls die Koreaner. Außerdem sind sie in ganz Asien beliebt für ihren Humor. Ihre Entertainer sind auch in China und Japan Stars. Gangnam Style, wir kommen dir näher. Das Ganze ist eine wilde Attacke auf den nordeuropäischen guten Geschmack. Genauso wie Psy mit seinem globalen Hit.
Shopping-Paradies: der Namdaemun-Markt
Der Korean Style wirkt schnell und stark. An unserem sechsten und letzten Seoul-Tag besuchen wir den labyrinthischen Namdaemun-Markt. “Süß!”, höre ich meine Töchter und mich immer wieder rufen. Wir kaufen Sachen, die wir vor einer Woche hochnäsig als Kitsch abgetan hätten. Ist das die Hipness des 21. Jahrhunderts? So hip, dass sie sogar auf designbewusste Fortysomethings irgendwie bewusstseinserweiternd wirkt? Sind gezeichnete Characters die Ikonen einer jungen Generation Gangnam? Oder verfängt die Kawaii-Ästhetik bei uns Touristen so gut, weil der Kontrast zu der anderen Seite unseres Reiseziels ein solches Faszinosum ist? Zu dem traditionellen Familienessen, dem immensen Geongbokgung-Königstempel mit seinen Pagodendächern und berauschenden Holzmalereien, dem buddhistischen Bongeunsa-Tempel mit seiner stillen Magie unter einem Baldachin aus roten Lampions und seinen Buddha-Statuen. Und den Verbeugungen bei jedem Gruß und Danke: einer Geste, in der ein Hauch von der Tradition eines sehr kultivierten Volkes mitweht und die so gar nicht zu grinsenden Monstern und zähnefletschenden Girlies zu passen scheint. Genauso wenig wie zu den Plakaten, die in den U-Bahn-Eingängen für Schönheits-OPs werben: eine medizinische Dienstleistung, für die Korea asienweit berühmt ist. Die Mischung aus Pop und Tradition ist irritierend und fesselnd. Ein Rätsel; so spannend, dass man wiederkommen will in eine Weltregion, die für die Generation unserer Kinder eine wichtige Rolle spielen wird – ob hip oder nicht.
Korea liegt irgendwo zwischen Pop und Tradition: Girls’ Generation und der Geongbokgung-Palast
2 Comments