Zuletzt aktualisiert am 8. September 2019 um 22:45
Seit Ewigkeiten möchte ich eine der großen Modeausstellungen sehen, die das Costume Institute alljährlich im Metropolitan Museum in New York veranstaltet. Diesmal hat es geklappt. Das Thema der Show von 2019: “Camp: Notes on Fashion”. Sehr aktuell und überaus teenagerrelevant.
Was ist Camp?
Man nehme zwei Teenager und teile ihnen mit, dass man zusammen mit ihnen eine Modeausstellung zum Thema Camp zu besuchen gedenke. Was dann passiert, dürfte in der Mehrzahl der Fälle ähnlich ablaufen wie bei meinen Töchtern: Sie fragen: “Was ist Camp?” Dann stellen sie fest, dass die berühmte Met-Gala, deren Bilder ihnen in die Timelines von Instagram und anderen sozialen Medien gespült wurden, etwas mit dieser Camp-Ausstellung zu tun hat. Damit bekommt die Schau eine gewisse Relevanz. Schließlich informiert man sie darüber, dass Gucci der Hauptsponsor der Modeausstellung im Metropolitan Museum ist. Und bingo: Die ganze Veranstaltung erhält Teen-Credibility. Gucci steht für Coolness, auch bei nicht-markenaffinen Jugendlichen.
“Too much” als Stilideal
An der Frage, was Camp ist, haben sich seit Eröffnung der diesjährigen Jahresausstellung des Costume Insitute im Metropolitan Museum viele Medien abgearbeitet. Mit ihrem Titel “Camp: Notes on Fashion” bezieht die Schau sich deutlich auf den berühmten Essay “Notes on Camp”, den Susan Sontag 1964 veröffentlicht hat. Darin skizziert sie in vielen einzelnen Punkten etwas, was man als Stilideal des gerne trivialen “too much” bezeichnen könnte. Camp kann kitschig sein, abgeschmackt, schrill, naiv, verrucht, übertrieben, fake, protzig, exzentrisch. Es widerspricht dem, was man als guten Geschmack bezeichnet, und wird von Vertretern desselben als billig empfunden. Dabei zelebriert Camp das Zuviel mit größter Wonne, mit subversivem Humor und Spaß an der Extravaganz.
Camp, Versailles und Schwulenkultur
Camp, das wundert nicht, hat einen starken Bezug zur Schwulenkultur. Seine Wurzeln werden gern in den opulenten Extravaganzen des Versailler Hofs gesehen, wo insbesondere Philippe, der Bruder von Ludwig XIV., das Cross-Dressing salonfähig machte und wo man sich als Mann auch sonst gern in effeminiert-verführerischen Posen zeigte. Unter den Berühmtheiten der Moderne gilt Oscar Wilde als unumstrittener König des Camp.
Eine grandiose Bad-Taste-Party
Die Ausstellung “Camp: Notes on Fashion” widmet sich diesen historischen Camp-Freuden sehr ausführlich, aber richtig spektakulär wird sie in ihrem Hauptsaal, in dem unzählige seit den 90-er Jahren entstandene Outfits verschiedenster Modehäuser gezeigt werden, die auf die eine oder andere Weise Camp sind.
Wenn man diesen Raum einmal durchwandert hat – und das kann eine Weile dauern, er ist unerschöpflich und platzt nahezu vor kreativer Energie -, dann braucht man die Frage nach dem Wesen des Camp nicht mehr zu stellen. Rüschen, Gold, Pailletten und Federn, die jedes Maß sprengen. Outfits, die zwischen Rotlichtmilieu, Karneval und Schmierentheater entstanden zu sein scheinen. Kleinmädchenhafte Kleider für erwachsene Damen. Logomania. Barocke Kopfbedeckungen, die vor keinem dekorativen Irrsinn zurückschrecken. Pseudo-historische Pracht, Fake-Glamour bis zum Abwinken.
Camp heute: Angekommen im Mainstream
Diese Modeausstellung hat einen enormen Unterhaltungswert, natürlich auch für Menschen im Teenageralter. Gleichzeitig ist der ganze Camp-Style für die Generation meiner Töchter viel normaler und weniger erstaunlich, als er es zu meiner Teenager-Zeit gewesen wäre – und erst recht in den Sechzigern, in denen Susan Sontag ihren Essay schrieb. Denn Camp ist im Jahr 2019 keine Randerscheinung mehr; Camp hat es in den Mainstream des Showbiz und der Mode geschaft. Stichwort Gucci: Was Kreativdirektor Alessandro Michele dieser Tage präsentiert, ist Camp von höchster Güte – und gesellschaftlich nicht nur anerkannt, sondern gehypt. Auch von Gesellschaftsgruppen, die vor einem Jahrzehnt noch auf Camp herabgeschaut hätten. Der “Gucci Art Wall”, den wir in SoHo entdecken und mit dem Gucci eine kommende Kollektion bewirbt, ist denn auch campiger als so manches Exponat der Camp-Ausstellung.
Die Welt ist schriller geworden
Rapper, Stars wie Lady Gaga oder Beyoncé auf einigen ihrer berühmtesten Fotos: Meinen Töchtern und ihren Altersgenossen ist Camp dank der Looks solcher Persönlichkeiten, dank Cosplay und der langsamen Normalisierung von Transgender-Phänomenen vertraut. Ein bisschen Camp verhält sich bei vielen Modekollektionen inzwischen wie das Salz in der Suppe; ein zarter Flirt mit Low Culture zeigt, dass man die Zeichen der Zeit verstanden hat.
Sollte man die Idee des Camp als gescheitert bezeichnen, weil sie ihre Subversivität gegen Mainstreamtauglichkeit eingetauscht hat? Das wäre vermutlich keine gute Entscheidung. Denn eine fixe Idee des Camp gibt es nicht und hat es nie gegeben; Camp entsteht, wo jemand mit der nötigen Kreativität und Hemmungslosigkeit am Werk ist. Und wenn wir uns heute nicht mehr ganz so sehr über Cross-Dressing und LGBT-Styles wundern wie früher, tut das der Gesellschaft ganz gut. Die Freude am Schrillen stirbt sowieso nicht aus; die Möglichkeiten, sie in Kleidung zu übersetzen, sind grenzenlos und erfordern erfreulicherweise nicht das Budget, das man für die im Met gezeigten Outfits braucht.
All the world’s a stage
Allerdings könnte man lange und ausgiebig darüber nachdenken, was es bedeutet, dass wir heute in ziemlich campigen Zeiten leben. Inszenieren wir uns lieber als Menschen früherer Jahrzehnte? Spielen wir ein wenig kreatives Theater mit unseren Identitäten? Ist das ein Zeichen von Freiheit oder vielleicht von Unsicherheit? Machen wir endlich Ernst mit William Shakespeares Worten “All the world’s a stage / And all the men and women merely players”? Egal. Wir haben Spaß.
Ausstellung “Camp: Notes on Fashion”: INFO
Noch bis zum 8. September 2019 ist die Ausstellung “Camp: Notes on Fashion” im Metropolitan Museum in New York zu sehen – und zwar im Met Fifth Avenue; das riesige Museum hat verschiedene Dependancen. Öffnungszeiten sind Sonntag bis Donnerstag von 10.00 bis 17.30 Uhr, freitags und samstags von 10.00 bis 21.00 Uhr. Erwachsene zahlen 25 Dollar Eintritt, Schüler und Studenten 12 Dollar, Kinder unter 12 Jahren sind frei.
Ganz oben: Blumenkohlhut von Derdrie Hawken, Ensemble von Manish Arora
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